EIN MANN WIRD GEJAGT/THE CHASE
Ein vergessenes und seinerzeit auch verkanntes Kleinod
Bubber Reeves (Robert Redford) ist gemeinsam mit einem Kumpel aus dem Gefängnis ausgebrochen. Bei dem Versuch, sich eines Autos zu bemächtigen, erschlägt dieser Kumpel den Fahrer und lässt Reeves dann allein zurück. Nun muss der junge Kerl sich allein durchschlagen, denkt zunächst daran, per Zug gen Mexiko zu flüchten, merkt aber schnell, dass ihm das nicht gelingen wird. So entschließt er sich, in seine Heimatstadt Tarl zu gehen, wo er auf die Hilfe seiner Frau Anne (Jane Fonda) und seines besten Freundes Jake (Edward Fox) zählt.
Anne und Jake sind mittlerweile jedoch eine Beziehung eingegangen. Die beiden lieben sich schon seit Kindheitstagen, doch stand Jake immer unter der Fuchtel seines Vaters, des Patriarchen Val Rogers (E. G. Marshall), dem einige Fabriken und die Bank in Tarl gehören und der dadurch die Stadt beherrscht. Dem Alten war Anne immer ein Dorn im Auge, da er sie nicht als standesgemäß betrachtete. Stattdessen hat er seinen Sohn dazu gedrängt, die junge Elizabeth (Diana Hyland) zu heiraten, die Jake aber nicht liebt.
Val Rogers hat auch den Sheriff des Örtchens, Calder (Marlon Brando), in sein Amt gebracht, was diesen stört, da die Leute in Tarl ihn verdächtigen, Rogers´ Erfüllungsgehilfe zu sein. Calder und seine Frau Ruby (Angie Dickinson) sind zu abendlichen Party zu Rogers´ 60. Geburtstag eingeladen, was beide nicht unbedingt gefällt. Doch aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung kommen sie der Einladung nach. Allerdings bitte Calder Ruby, nicht das Kleid zu tragen, das Rogers ihr hat zukommen lassen. Vielmehr solle sie ein Kleid tragen, dass er, Calder, ihr von seinem Geld gekauft habe.
Das anstehende Fest sorgt für viel Aufregung in der Stadt. Einige von Rogers´ Angestellten sind beleidigt, dass sie nicht zu diesem gesellschaftlichen Ereignis eingeladen wurden. So zürnt Emily Stewart (Janice Rule) dem Chef ihres Mannes Ed (Robert Duvall), den sie sowieso für einen Schwächling hält und mitverantwortlich dafür macht, dass sie nicht eingeladen wurden. Emily unterhält eine Affäre mit Eds Kollegen Damon Fuller (Richard Bradford), der selbst für den Abend zu sich einlädt.
Die Nachricht, dass Bubber ausgebrochen ist, versetzt eine Menge Leute in der Stadt in Aufregung. So fürchtet der verklemmte Ed Stewart, dass Bubber sich an ihm rächen wolle, da er einst einen Betrag geklaut habe, für den Diebstahl jedoch Bubber Reeves verantwortlich gemacht wurde – der vermeintliche Beginn seiner Ganovenlaufbahn. Als im Laufe des Abends auch noch bekannt wird, dass Bubber auf der Flucht einen Mann getötet haben soll, steigert Ed sich zusehends in eine Panik, wodurch er für seine Frau und Damon immer stärker zum Gespött wird. Auch Damons Gattin, die ob seiner Untreue zur Trinkerin geworden ist, muss sich die Lästereien ihres Mannes und seiner Entourage gefallen lassen.
Im Laufe des Abends löst sich die Gesellschaft bei den Fullers auf und Damon und seine Kumpels fahren in die Innenstadt, wo sie weitertrinken. Auch die Frauen kommen mit. Man heizt sich gegenseitig auf und Damon behauptet, er könne Bubber zur Strecke bringen. Die Männer sind größtenteils bewaffnet und beginnen, wild in die Gegend zu schießen.
Zwischen Anne und Jake, die sich in einem Motel treffen, kommt es zu einer Aussprache, weil er ihr gesteht, sie heiraten zu wollen, sie ihm hingegen vorwirft, diese Ankündigung zum falschen Zeitpunkt zu machen. Als sie erfährt, dass Bubber entflohen ist, beendet sie das Stelldichein und erklärt, ihn suchen zu wollen, er brauche sie nun dringender als Jake. Der wiederum erklärt sich bereit, Anne zu begleiten. Gemeinsam fahren sie die Plätze ab, wo sie einst gemeinsam mit Bubber, der Jakes bester Freund seit Kindestagen ist, abgehangen haben.
Ed schleicht sich bei Rogers Party ein, weil er mittlerweile vollkommen verängstigt ist. Er „beichtet“ sein einstiges Vergehen gegen Bubber, wird von Val Rogers jedoch nicht sonderlich ernst genommen und vertröstet. Daraufhin erzählt er dem Patriarchen von Jakes Beziehung zu Anne und dass Bubber möglicherweise Rachegedanken gegen Jake hege. Diese Information lässt Val allerdings aufschrecken und er begibt sich auf die Suche nach Jake.
Calder ist derweil zurück in die Polizeistation gefahren. Unterwegs hat er sich mit Damon Fuller und dessen Begleitern angelegt, als die einen Schwarzen ohne Grund bedroht haben. Nun wird er erneut durch Zufall Zeuge, wie die Männer Lester Johnson (Joel Fluellen) bedrohen. Der schwarze Mann wurde in Annes Wohnung angetroffen und wird nun des Einbruchs bei einer weißen Frau bezichtigt. Calder nimmt den Mann mit und schließt ihn – zu dessen eigener Sicherheit – in einer Zelle ein.
Calder erhofft sich von Lester Auskunft darüber, wo Bubber ist. Und er hat recht: Der nämlich hat sich auf Lesters Schrottplatz versteckt und diesen gebeten, zu Anne zu gehen, sie zu informieren und zu bitten, ihm Geld und Anziehsachen zu bringen. Lester hat allerdings versprochen, zu niemandem ein Wort zu sagen, erst recht nicht zur Polizei.
Jake und Anne tauchen in der Polizeistation auf und Lester ist bereit, ihnen Bubbers Versteck zu verraten. Calder gibt ihnen eine Stunde, Bubber zu suchen und ihn aufzufordern, sich freiwillig zu stellen, da durch die auf der Leiche des Toten Bubber nun unter Mordverdacht stünde und er, Calder, in der aufgeheizten Atmosphäre dieser Samstagnacht nicht mehr für Bubbers Sicherheit garantieren könne.
Damon Fuller und seine Leute kommen zur Polizeistation, dringen dort ein und schlagen Calder brutal zusammen. Sie zwingen Lester, Bubbers Versteck preiszugeben. Auch Val Rogers kommt in die Station und auch er zwingt Lester mit Waffengewalt, Bubbers Versteck zu verraten, da er zurecht vermutet, dort auch seinen Sohn zu finden.
Val Rogers, Fuller und Anhang sowie Calder fahren zum Schrottplatz, wo sich nach und nach die halbe Stadt einfindet. Die Stimmung ist aufgeheizt und gewalttätig, die Menschen sind betrunken und in Lynchlaune.
Anne und Jake haben Bubber in seinem Versteck gefunden. Es kommt zur Aussprache zwischen ihnen, Bubber begreift, dass Anne und Jake ein Verhältnis haben. Er erklärt ihnen, dass das für ihn in Ordnung sei, er habe sein Interesse an „solchen“ Dingen im Gefängnis verloren. Er habe dort generell seine Menschlichkeit verloren.
Val ruft über den Schrottplatz, Jake solle herauskommen, er werde im Gegenzug Bubber helfen zu entkommen. Fuller und seine Kumpane beginnen, die Autos anzuzünden und Molotow-Cocktails in den Schrotthaufen hinein zu werfen. Die Zuschauer in der Menge beteiligen sich daran, so dass bald der ganze Platz in Flammen steht.
Schließlich kommt es durch auslaufendes Benzin zu einer gewaltigen Explosion, bei der Jake schwer verletzt wird. Während sich Notärzte um ihn kümmern, gelingt es Calder, Bubber zu verhaften und in seinen Polizeiwagen zu verfrachten. Er bringt ihn zur Polizeistation.
Dort angelangt will Calder Bubber ins Gefängnis bringen, doch einer von Fullers Kumpeln tritt vor und erschießt Bubber auf der Treppe der Station. Calder geht daraufhin auf den Mann los und prügelt ihn fast zu Tode, bis es Ruby irgendwie gelingt, ihren Mann zurückzuhalten.
Am folgenden Morgen – der Müll der vergangenen Nacht fegt durch die leeren Straßen der Stadt – belädt Calder das Auto, er und Ruby verlassen Tarl, verbittert über die Vorfälle.
Anne sitzt vor der Villa der Rogers´. Val tritt heraus und teilt ihr mit, dass Jake am frühen Morgen verstorben ist. Anne geht von dannen.
Ein Jahr, bevor er mit BONNIE AND CLYDE (1967) jenes Meisterwerk schuf, für welches sein Name im Pantheon der Filmgeschichte verewigt bleiben wird, erzählte Arthur Penn schon einmal von einer Menschenjagd. In THE CHASE (1966) ist es ein sehr junger, noch weithin unbekannter Robert Redford, der aus dem Gefängnis ausbricht und in Ermangelung besserer Möglichkeiten in die heimatliche Kleinstadt zurückkehrt, der er entstammt.
Weder die zeitgenössische Kritik noch spätere Feuilletonisten und Filmwissenschaftler waren nett zu Penns vierter Regiearbeit an einem Langfilm[1]. Und einiges dessen, was an Kritik geäußert wurde, ist gut nachvollziehbar. Uneinheitlich, inkohärent, träge, übertrieben dramatisch – so lauteten die Vorwürfe. Sam Spiegel, der ausführende Produzent – ein Star in Hollywood, zeichnete er doch für Klassiker wie ON THE WATERFRONT (1954) oder THE AFRICAN QUEEN (1951) verantwortlich – hatte ohne Rücksprache mit Penn das Material schneiden lassen, eigener Aussage zufolge, weil das produzierende Columbia-Studio enormen Druck ausgeübt habe. Diesen Druck kann man von den Investitionen ableiten, dem betriebenen Aufwand, der in den Film gesteckt wurde. Allem voran seien die Stars genannt, Marlon Brando, aber auch Redford und Jane Fonda, deren Stern damals gerade am Hollywood-Himmel aufstieg. Es musste um jeden Preis und möglichst schnell ein Erfolg an den Kinokassen generiert werden. Doch unkontrollierbare Schneideorgien an Filmen, deren innerer Zusammenhalt möglicherweise der Regisseur am besten versteht, haben noch selten zum Erfolg geführt.
Geschichten darüber, wie Filme von Produzenten geschnitten, um-geschnitten, neu geschnitten oder komplett zer-schnitten wurden, sind in Hollywood Legion, wo häufig darüber berichtet, gestritten und geklagt wurde, dass Regisseure nicht das Recht am Endschnitt ihrer Werke hatten. Es war ein Ritterschlag, wenn sich Filmemacher dieses Recht in ihre Verträge schreiben lassen konnten. Und es war eine der grundlegenden Veränderungen, die das ‚New Hollywood Cinema‘ mit sich brachte, zu dessen Vertretern später auch Arthur Penn gezählt wurde: Das Recht des Regisseurs an seinem Film. Das Recht am Endschnitt. Möglicherweise waren nicht zuletzt Penns Erfahrungen bei THE CHASE mitverantwortlich dafür, dass auch er bei späteren Filmen massiv für dieses Recht eintrat.
Der Exkurs ist deshalb nicht ganz unwichtig, da man schon nachvollziehen kann, weshalb die zeitgenössische Kritik THE CHASE auch für sein Tempo verdammte und den Film schwerfällig gefunden haben mag. Richtig ist aber auch, dass Spiegel seiner Zeit möglicherweise voraus gewesen ist – vielleicht ist ihm das Ergebnis auch schlicht passiert, ohne dass er es wollte -, denn der Film wirkt von heute aus betrachtet erstaunlich modern. Gerade wegen seiner vermeintlichen Fehler. Und zu diesen gehört ein Schnitt, der irgendwie „falsch“ wirkt, der den Film seines Zentrums zu berauben scheint und ihn andauernd davon abhält, zu sich selbst zu kommen. Zugleich gibt ihm genau diese scheinbare Unentschlossenheit auch einen enormen Drive, hält die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen aufrecht, ja, fordert diese Aufmerksamkeit geradezu ein.
Es gelingt dem Drehbuch – das auf einem Theaterstück von Horton Foote basiert und dessen Autorin Lillian Hellman später behauptete, im fertigen Film sei nichts mehr davon zu erkennen – die Atmosphäre eines schwülen Samstagabends in einem texanischen Kaff heraufzubeschwören. Ein Mann – Bubber Reeves, gespielt von Redford – ist aus dem Gefängnis ausgebrochen, soll angeblich auf der Flucht einen Unbeteiligten getötet haben und sei nun auf dem Weg nach Tarl, so der Name der Kleinstadt. Diese Ankündigung versetzt einige Leute vor Ort in Alarmbereitschaft. Sei es der alles beherrschende Patriarch Val Rogers, dessen Fabriken und dessen Bank dem Ort Arbeit und Wohlstand sichern und der damit eine für Südstaatendramen jener Zeit – man denke nur an die Stücke eines Tennessee Williams und mehr noch an deren Verfilmungen – typische Figur ist; sei es dessen Sohn Jake, der ein Verhältnis mit Reeves´ Frau Anna unterhält, zugleich aber immer Reeves´ bester Freund war; seien es Reeves´ Eltern, die sich schreckliche Vorwürfe machen, weshalb aus ihrem Jungen nichts geworden ist und er schließlich im Gefängnis landete; seien es einige Herren, die Reeves nicht leiden können und ihm alles denkbar Schlechte wünschen; sei es der von einem jungen Robert Duvall gespielte Edwin Stewart, der glaubt, durch eine Falschaussage für Reeves Verurteilung verantwortlich zu sein. Und schließlich Anne, Reeves´ Frau in der Gestalt von Jane Fonda, die in einer komplizierten Dreiecksbeziehung zwischen Bubber, den sie liebt, und Jake, den sie noch viel länger liebt, feststeckt.
Es gibt etliche Beziehungs-Ebenen und sicher kann man dem Ganzen vorwerfen, heillos überfrachtet zu sein. Doch gelingt es Penns Regie erstaunlich souverän, das Material zu ordnen und den einzelnen Handlungssträngen den jeweils nötigen Raum zu geben, die jeweils nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Es wirkt glaubhaft, wie die Information, dass Bubber Reeves ausgebrochen und möglicherweise auf dem Weg nach Tarl sei, die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Schnell wird klar, dass seine Abwesenheit, sein Nicht-Dasein, durchaus Vorteile für die meisten Beteiligten hatte (ausgenommen natürlich seine Eltern). Es gelingt dem Drehbuch, eine Menge Konflikte zu etablieren, die alle bereits lange, bevor die Handlung einsetzt, begonnen haben. Keiner dieser Konflikte wird wirklich erklärt oder näher erläutert, einige bleiben gänzlich im Dunkeln, werden bestenfalls angedeutet, und doch erklären sie sich fast alle von selbst oder sind zumindest nachvollziehbar. Wir werden hier lediglich der Kulmination all dieser verschiedenen Konflikte ansichtig. Es ist dann schon die höhere Kunst des Drehbuchschreibens, sich nicht komplett im Geflecht all dieser Beziehungen zu verheddern, die der Regie ist es, ein solches Script adäquat umzusetzen.
Die geschilderte Anordnung selbst sorgt allerdings schon dafür, dass der Film zunächst so wirkt, als habe er keinen Mittelpunkt. Keiner der Konflikte wird uns als zentrales Motiv angeboten. Ebenso wenig wird uns eine der handelnden Personen als eindeutiger Pro- oder Antagonist offeriert. Ganz im Gegenteil scheinen all die vielen Figuren relativ gleichberechtigt. Natürlich gibt es mit Jake, Calder und Anne stärker ausgeprägte Charaktere, doch stehen Fuller, die Stewarts oder Val Rogers ihnen nicht wirklich nach. Brandos Sheriff Calder mag in der Gesamtkonstellation ein wenig für sich stehen, das hebt ihn aus dem Reigen heraus, drückt ihn jedoch eher an den Rand, als dass es ihn ins Zentrum der Geschichte rückte. Diese Position der Figur haben Penn und wohl auch Brando später bemängelt, man kann aber durchaus geteilter Meinung darüber sein, könnte gar behaupten, dass es dem Film guttut, dass sein Star eben nicht im Mittelpunkt steht, eben nicht dieses vermeintliche und letztlich doch nicht vorhandene Zentrum des Films besetzt. Zumal Brando mit seinen ausgeprägten Manierismen dazu neigt, ein solches Zentrum nicht nur zu besetzen, sondern immer weiter auszuweiten und damit einen Film zu beherrschen.
Ein einfaches Gerücht – außer der Tatsache, dass Reeves ausgebrochen und auf der Flucht ist, wird sich sehr lange keine der Annahmen der Bewohner der Stadt bestätigen, erst recht wird sich nicht bestätigen, um was für einen Kerl es sich bei Bubber Reeves eigentlich handelt, was einen hohen Reiz des Films ausmacht – sorgt also dafür, das eine Menge Leute aus ganz unterschiedlichen Gründen sehr nervös werden. Die Konstellation erinnert ein wenig an jene in Jack Arnolds leider vergessenem B-Western NO NAME ON THE BULLET (1959), in welchem allein die Anwesenheit eines statuarisch im Saloon sitzenden Mannes, den alle als den Killer John Gant erkennen, ausreicht, um nahezu jeden in der Stadt in Aufregung zu versetzen, weil jeder glaubt, er sei es, mit dem Gant ein Hühnchen zu rupfen habe – und somit nahezu jeder aufdeckt, welchen Dreck er (oder sie) am Stecken hat.
In THE CHASE – der auch auf anderer Ebene durchaus an die Dramaturgie eines Western erinnert und mit der Einsamkeit von Sheriff Calder, den Brando in einer seiner etwas entrückt-distanzierten Darbietungen als nahezu tragische Gestalt gibt, Erinnerungen an HIGH NOON (1952) evoziert, wo niemand bereit ist, Marshal Kane zu helfen – kreisen die Gedanken all der Bewohner von Tarl um einen Mann, der gar nicht da ist. Wie eine Leerstelle, ein McGuffin, ist Bubber Reeves das Nicht-Zentrum eines Films, der im eigentlichen Sinne eben überhaupt kein Zentrum und nicht einmal eine Hauptfigur hat. Allerdings geht THE CHASE dann doch in eine andere Richtung als HIGH NOON, der vor allem feige Menschen zeigte. In Penns Film sind es hingegen gelangweilte Menschen, die sich dem Suff ergeben und im Suff dann zur Gewalt neigen. Gleichgültige Menschen. Diese Richtung macht den Film tatsächlich brisant, wenn auch nicht auf eine so treffliche Art wie Norman Jewisons ein Jahr später entstandener Film IN THE HEAT OF THE NIGHT (1967), der in Bezug auf das zeitgenössische Klima im Süden der USA weniger – weil formal ein einfacher Kriminalfilm – und zugleich mehr – weil eine wirklich packende, konzentrierte und fokussierte Studie und Beschreibung des fürchterlichen Rassismus´ des Südens – war.
THE CHASE zeigt eine Gesellschaft, die sich an Gewalt ergötzt, sich im wahrsten Sinne des Wortes an ihr aufgeilt, sie allerdings im Grunde zur reinen Unterhaltung goutiert. Während der Abend seinen Verlauf nimmt und der Film zwischen seinen verschiedenen Protagonisten hin und her springt, wird uns das Sozialleben dieser Kleinstadt in seiner ganzen bigotten, erbärmlichen Verlogenheit vor Augen geführt. Der Patriarch Rogers feiert seinen Geburtstag, zu dem die oberen Zehntausend des Örtchens eingeladen sind. Die, die nicht dazu gebeten wurden – darunter einige der führenden Angestellten in Rogers´ Bank und deren Gemahlinnen – verübeln ihrem Chef dessen Ignoranz. Von Beginn an spielen Reichtum, Geld und die Macht, die es nicht nur monetär, sondern eben auch sozial verleiht, eine wesentliche Rolle im Subtext des Films. Hinzu kommt Neid, das Gefühl des Zu-kurz-Gekommen-Seins, das sich in den Köpfen und Herzen vieler dieser Menschen eingefräst hat. Hier werden klassische Kleinbürger in ihrer amerikanischen Spielart und Ausprägung beschrieben, eher noch vorgeführt.
Buch und Regie machen es sich aber nicht so einfach, wie man zunächst annimmt. Denn sie zeigen uns die eher distinguierte Party bei Rogers, auf der gesittet getanzt, gesittet gespeist und vor allem gesittet getrunken wird, auf der sich Calder und seine von Angie Dickinson gespielte Frau einfinden und äußerst unwohl fühlen, auf der die Eheprobleme zwischen Rogers Sohn Jake und seiner Frau überdeutlich zutage treten: Spießertum, wie es in den 60er Jahren noch häufig zu finden war; bürgerliche Verklemmtheit, Lebenslügen. Wer sie in Frage stellt, wie es Calder tut oder auch Jake, der die Verlogenheit seiner Ehe nur durch immer mehr Alkohol ertragen kann, fällt aus dem Rahmen, gehört nicht wirklich dazu, ist es doch von höchster Wichtigkeit, hier die Fassade aufrecht zu halten. Buch und Regie zeigen uns im Kontrast dann aber auch die Party, die als Gegenmodell bei den Fullers stattfindet. Auf dieser Feierlichkeit dürfen wir nun all die bigotte Verkommenheit eines moralisch verrotteten Kleinbürgertums bestaunen. Der Alkohol fließt literweise, niemand ist mehr nüchtern. Jeder scheint es mit jeder zu treiben, Ehebruch und die daraus entstehende Verachtung des andern werden geradezu zelebriert. Damon Fuller demütigt seine sich dem Suff ergebende Frau vor aller Augen, während er sein Verhältnis mit Emily Stewart nicht nur nicht verheimlicht, sondern offen zur Schau stellt und zum Glück in deren Gemahl Edwin keinen wirklichen Kontrahenten hat, wirkt der doch, als sei er froh, dass sich ein anderer um seine doch sehr anstrengende und fordernde Gattin kümmert.
Es ist ein Sittengemälde par excellence, das von heute aus betrachtet sicherlich voller Klischees steckt. Doch sind es natürlich Filme wie THE CHASE gewesen, die diese Klischees überhaupt erst geprägt und verfestigt haben. Der Süden der USA in den 1950er und den 60er Jahren war sicherlich nicht so weit entfernt von dem was der Film, wenn auch gnadenlos überspitzt, zeigt. Um sein Anliegen zu verdeutlichen, braucht der Film aber genau diese überspitzten Darstellungen. Es ist, wie weiter oben bereits erwähnt, eine Gesellschaft, die sich an der Gewalt, die an diesem feucht-fröhlichen Samstagabend die ganze Zeit in der Luft liegt, geradezu aufgeilt. Und der Begriff „geil“ ist nicht im metaphorischen Sinne zu verstehen. Eine sexuelle Dringlichkeit durchzieht den ganzen Film und wird immer wieder angeführt, mal im Positiven – zur Beziehung Calders mit seiner Frau wird später noch etwas zu sagen sein – wie im Negativen. Meist im Negativen, das gehört eben auch zur Wahrheit.
Diese Männer und Frauen geilen sich zunächst aneinander auf, Emily Stewart ist da nur das deutlichste Beispiel, doch wirkt dieses sexuelle Spiel nur wie ein Auftakt, dessen Höhepunkt dann die irgendwann ausbrechende Gewalt ist. Dieses Sich-aneinander-Reiben scheint den Aggregatszustand herzustellen, der später – hier ist die Metaphorik dann überdeutlich – in einem einzigen Funken zur Explosion führt. Denn wenn die Gewalt dann losbricht – und das tut sie mit enormer Wucht am Ende des Films, wenn es auf dem Schrottplatz, wo Bubber Reeves Unterschlupf gefunden hat, dazu kommt, dass ein aufgeheizter Mob den Gesuchten auszuräuchern versucht – ist sie kaum noch beherrschbar. Und obwohl sie sich – der Anlass – gegen den Flüchtigen wendet, ist sie im Grunde nicht zielgerichtet. Das macht Penns Interpretation des Stoffes ebenso interessant wie bedrohlich: Obwohl viele der Stadtbewohner Reeves´ Rückkehr fürchten, ist die gezeigte Gewalt eher ziellos und entsteht gleich einem Furor, der nur sich selbst dient, sich aus sich selbst nährt. Diese Gewalt hat Volksfestcharakter, für die meisten, die gar nicht wissen, wer sich da zwischen den abgehalfterten Autos versteckt, ist sie Unterhaltung am Samstagabend, Katharsis einer kritischen Masse, die bis zu einem Punkt aufgeheizt ist, an welchem irgendetwas passieren, an dem sie sich entladen muss.
Doch auch vor diesem Finale furioso kommt es mehrfach zu Gewaltausbrüchen. Fuller und seine Kumpel schlagen Calder ausgesprochen brutal zusammen – auch in einem Film der 60er ist diese Brutalität so nicht häufig zu sehen gewesen und sie verweist bereits auf BONNIE AND CLYDE, der u.a. für seine ästhetisierte, überstilisierte Gewalt angegriffen wurde -, zweimal versuchen sie, ihr Mütchen an Schwarzen zu kühlen, beide Male kommt ihnen Calder in die Quere und kann das Schlimmste verhindern. Später stürmen sie die Polizeistation und versuchen dort, den von Calder zu seiner eigenen Sicherheit eingesperrten Lester Johnson, Besitzer des Schrottplatzes und einer der wenigen, denen Bubber Reeves vertraut, zu lynchen. Schließlich wird der bereits verhaftete Reeves auf den Stufen der Polizeistation inmitten der aufgebrachten Menge von einem der Kumpel von Fuller erschossen. Eine Szene, die 1966 nicht ganz zu Unrecht mit dem Mord an Lee Harvey Oswald durch Jack Ruby in der Tiefgarage des Polizeigebäudes in Dallas assoziiert wurde. Ein Kommentar auf das Zeitgeschehen einerseits – da nimmt jemand das Recht in die eigene Hand und der Akt des Tötens erscheint erneut als ein Akt der Katharsis -, andererseits ein Kommentar auf eine Gesellschaft, in der Waffen immer vorhanden, immer gegenwärtig sind und somit irgendwann auch zum Einsatz kommen. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass Fuller und seine Kumpane den ganzen Abend über mit Revolvern herumfuchteln und durch die Gegend ballern.
Interessanterweise ist die ganze Gewalt, die den Film durchzieht, die immer unterschwellig vorhanden ist, die der Geschichte eine gewisse Struktur gibt und, auf die Laufzeit des Films von über zwei Stunden gerechnet, doch nur gelegentlich aktiv ausbricht und dann auch explizit gezeigt wird, in den allermeisten Fällen unmotiviert. Beziehungsweise wirken die Motive meist vorgeschoben. Dass Fuller und seine Männer auf Calder losgehen, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass sie den Sheriff verdächtigen, ein Protegé von Rogers zu sein und das Gesetz nach dessen Wunsch und Willen auszulegen, was der Sheriff vehement bestreitet und zumindest dem Publikum gegenüber auch belegen kann. Das bereits erwähnte Neid-Motiv zieht sich durch den ganzen Film: Wer gehört zu den Reichen und Schönen? Wer kann sich was leisten und kommt wie damit davon? Auch die Gewalt gegen Reeves erklärt sich nicht wirklich, weil nie deutlich wird, weshalb die Menschen in der Stadt ihm eigentlich zürnen. Er soll geraubt haben, doch scheint er niemanden nachhaltig geschädigt zu haben. Das einzige hinlängliche Motiv, ihn zu fürchten, hätten Jake Rogers und Anne Reeves, denn immerhin betrügt hier einer seinen besten Freund mit dessen Frau. Dieser Konflikt wird dann allerdings sprachlich, also zivilisiert, gelöst. Die Gewalt gegen die Schwarzen schließlich wird als das gezeigt, was sie immer schon gewesen ist: Reine Triebabfuhr, Hass und Ressentiment, Ausdruck einer von Rassismus durchtränkten und zerfressenen Gesellschaft.
Es ist geschickt von Penn – und letztlich auch von Spiegel in seiner Schnittfassung – die Ängste und Sorgen der Stadtbewohner hinsichtlich der Ankündigung von Reeves´ Heimkehr mit einem tatsächlichen Bubber Reeves zu kontrastieren, der so gar nicht die Voraussetzungen erfüllt, die die Bewohner Tarls ihm zuschreiben. Redford war damals ein wirklich schöner Mann, seine weichen und doch kantigen Züge verleihen ihm etwas Edles; so, wie er Bubber Reeves spielt, ist dieser Kerl zu keiner Schandtat fähig, ist aber auch – das verdeutlicht sein Monolog am Ende des Films – durch das Gefängnis verhärtet und seiner jugendlichen Leichtigkeit verlustig gegangen. So oder so kann man in keinem Moment des Films jenen Mann in ihm erkennen, den alle so fürchten. Und auch dies – einst als Drehbuchschwäche ausgelegt – gibt dem Film etwas Kafkaeskes, einen fast unheimlich-surrealen Touch. Der manifestiert sich auch in dem von Robert Duvall in einer seiner frühen aber schon so Duvall-typischen Darbietungen des verklemmten, spießigen, innerlich distanzierten und doch hoch neurotischen Edward Stewart. Ein extremer Kontrast zu Bubber Reeves, der offenbar immer schon außerhalb der Kleinstadt-Gesellschaft Tarls stand, für einige – darunter eben Ed Stewart – aber auch immer schon der willkommene Sündenbock gewesen ist.
Ebenso, wie wir hier keine wirkliche Hauptfigur präsentiert bekommen – der Film mäandert von Jake zu Anne zu Reeves zu Calder zu Fuller zu Stewart und dazwischen hin und her – bekommen wir auch die Motivation all dieser Figuren eben nie wirklich zu fassen. Das macht aber die Entwicklung der Geschichte ebenfalls schwer fassbar und wirkt dadurch enorm bedrohlich. In Tarl herrscht vor allem bleierne Langeweile. Hier ist nichts los. So saufen die Menschen und wenn sie genug intus haben, lassen sie jedwede moralische Grenze fallen, zunächst hinsichtlich der von ihnen selbst bestimmten Benimmregeln, was das Sexualverhalten angeht (und das spielte 1966 in einer amerikanischen Kleinstadt noch eine große Rolle), dann hinsichtlich der Unversehrtheit ihres Nächsten. Gewalt als Beschäftigungstherapie, als Belustigung, als Selbstzweck an einem Samstagabend, um die Menge zu unterhalten. Darauf läuft die Moral dieses Films schließlich hinaus. Und dies ist eine ausgesprochen bedenkliche Aussage über eine Gesellschaft, die gerade einmal zwanzig Jahre zuvor in den Krieg gezogen war, um Europa vom Faschismus zu befreien. Was hier vorgeführt wird, ist eine im Kern proto-faschistische Gesellschaft, die jederzeit bereit ist, den berühmten dünnen Firnis der Zivilisation abzuwerfen und sich ihren atavistischen Trieben hinzugeben.
Nicht zuletzt dieser Ansatz dürfte auch Marlon Brando bewogen haben, den Part des Sheriffs zu übernehmen. Der Star hatte seit einiger Zeit beschlossen, wenn möglich ausnahmslos sozialkritische Rollen anzunehmen, nur noch in Filmen aufzutreten, die etwas zu sagen hatten. Das ist ihm im Großen und Ganzen nicht unbedingt gut bekommen und vor allem konnte er diesen Vorsatz auch nicht einhalten. Hier allerdings fand er ein Script vor, dass seinen Erwartungen genügt haben dürfte. Die Rolle des Calder ist mit Abstand die interessanteste in der ganzen Handlung. Er steht, es wurde schon darauf hingewiesen, eher abseits dessen, was in der Stadt geschieht. Die einzige Beziehung im Reigen derer, die der Film vorführt, die überhaupt funktioniert und nicht verlogen erscheint, ist die zwischen ihm und seiner Frau Ruby. Sie hält zu ihm, sie müht sich, seinen moralischen Grundsätzen gerecht zu werden und sie versteht auch seine Ansätze.
Als sie für Rogers´ Party ein Kleid anzieht, das der Patriarch ihr geschickt hat, bittet Calder sie, es auszuziehen, weil er es ihr nicht gekauft habe. Er wolle nicht, dass sie sich in einem Kleid zeigt, dass er sich nicht leisten könne. Sie folgt ihm – nicht, weil er ihr befiehlt, sondern weil sie zu verstehen scheint, worum es ihm geht und weil er sie bittet. Denn es geht nicht nur um seinen Stolz, es geht auch um die Stellung, die er offensichtlich wirklich auf Grund von Rogers´ Beziehungen innehat und in der er unbedingt jedweden Eindruck, gekauft zu sein, vermeiden will. Und vermeiden muss, wie die späteren Ereignisse beweisen, wenn Fuller und seine Männer ihm vorwerfen, Rogers´ Lakai zu sein.
In einem ausgesprochen ruhigen, fast zarten Moment deutet der Film auch an, dass die beiden keine Kinder bekommen können und Ruby fragt sich, ob sie nicht Kinder hätten adoptieren sollen, woraufhin Calder sie – und sich – fragt, wie er denn hätte Kinder erziehen sollen? Es ist Resignation und eine leise Melancholie, die sich hier leise ausbreiten, und ohne viel Worte wird eine ganze Geschichte von Verlust und Vergänglichkeit mit-erzählt. Wir können uns fast sicher sein, dass dieses Paar zusammenhalten und seinen Schmerz gemeinsam aushalten wird. In der vorletzten Szene des Films, es ist der Morgen nach dem Showdown auf dem Schrottplatz, durch die Straßen wehen die Reste dessen, was wie ein Volksfest wirkte – ein Volksfest mit tödlichem Charakter -, brechen Calder und Ruby auf und verlassen die Stadt. Dies wiederum ein Abgang, der an jenen von Marshal Kane und seiner Frau Amy in HIGH NOON erinnert. Wie jene sind auch die Calders offensichtlich angewidert, erschüttert und zutiefst enttäuscht von dem, was sie in Tarl in den vergangenen 24 Stunden erleben mussten.
Die andere interessante und sehr viel kompliziertere Beziehung, die der Film anbietet und für deren Darstellung er sich auch sehr viel mehr Zeit nimmt, ist die zwischen Bubber Reeves, Anne und Jake. Die drei waren offenbar schon zu Kindheitszeiten und in der Jugend eng befreundet. Anne stand offensichtlich immer schon zwischen den beiden, hat aber später Bubber geheiratet, da Jake, immer den Ansprüchen seines Vaters folgend, eine Frau ehelichte, die zwar gesellschaftlich seinem Rang entsprach, die er aber nicht liebte. Nun haben Jake und Anne eine Affäre, die durch Bubbers Zeit im Gefängnis begünstigt wurde. Als Anne erfährt, dass Bubber entflohen ist, bricht sie das Treffen mit Jake in einem Motel umgehend ab und begibt sich auf die Suche nach Bubber, von dem sie annimmt, dass er ihre Hilfe braucht. Und Jake schließt sich an. In dem Dialog, der sich zwischen Anne und Jake während ihrer Suche nach Bubber entspinnt, wird die Zerrissenheit deutlich, die beide in ihrer jeweiligen Situation empfinden. Mehrfach erklärt Anne, dass sie Jahre auf Jakes frage, ob sie ihn heiraten wolle, gewartet habe und er sie jetzt, im falschen Augenblick, dann stellt und wie sehr ihr das zu schaffen macht. Und Jake empfindet die schwersten Schuldgefühle, weil er seinen besten Freund betrügt und dessen missliche Situation ausnutzt. Zugleich – und das ist eine weitere Stärke des Drehbuchs – wird deutlich, dass seine Gefühle echt sind. Somit auch seine moralische Lage ein echtes Dilemma darstellt. Hinzu kommt sein Pflichtgefühl gegenüber einem Vater, der ihn beherrscht.
In Bezug auf Val Rogers muss angemerkt werden, dass hinsichtlich dieser Figur Klischees vermieden werden. Er ist ein Südstaatenpatriarch, doch anders als Burl Ives in CAT ON A HOT TIN ROOF (1958) oder Orson Welles in THE LONG, HOT SUMMER (1958), ist dieser Mann trotz der zweifellos von ihm ausgehenden Macht kein „Big Daddy“, der schon allein mit seiner Erscheinung ausdrückt, wer das Sagen hat. Auch ist er nicht laut und vulgär, im Gegenteil. Val Rogers kommt eher auf leisen Sohlen daher, er scheint seiner Umgebung leicht entrückt, nimmt kaum wahr, was um ihn herum vor sich geht, weshalb ihm auch entgeht, wie verletzt seine Angestellten in der Bank sind. Ebenso entgeht ihm die Gefahr, die sich aus der Unzufriedenheit dieser Leute ergibt – Fuller und Emily Stewart reden mehrfach darüber, wie es gelingen könnte, die Bank zu übernehmen, in der Fuller neben Ed Stewart eine gehobene Position bekleidet. Dieser Charakterisierung entspricht auch Val Rogers´ ernstzunehmende Besorgnis um das Wohl seines Sohns. Seine Versuche, diesen zu retten, wirken echt und daraus erklärt sich schließlich auch seine Bereitschaft, sogar gegen das Gesetz zu verstoßen und Bubber Reeves zur Flucht zu verhelfen. Ein Angebot, dass eigentlich nicht zu diesem Mann passt, im gegebenen Kontext jedoch glaubwürdig wirkt.
All diese Figuren befinden sich in ausgesprochen prekären Lagen, sind zwischen Wollen, ihren Rollen und dem sozialen Sein, der sozialen WIrklichkeit gefangen. Was im Falle Calders und seiner Frau durch Andeutungen und das ausgesprochen präzise Spiel von Brando und Angie Dickinson angemessen zum Ausdruck kommt, nimmt im Falle der Dreiecksbeziehung der alten Freunde Bubber, Anne, Jake möglicherweise zu viel Raum ein. Andererseits ist diese Beziehung das einzige echte Motiv, welches die gesamte Handlung vorantreibt und das eigentliche Drama ausmacht.
Am Ende des Films sind Bubber und Jake tot und Anne, die die Nacht vor der Villa der Rogers´ verbracht hat, geht einsam davon, nachdem der alte Rogers ihr mitgeteilt hat, dass Jake verstorben ist. Nichts Gutes ist all dem entwachsen, was der Film uns vorgeführt hat. Die Calders gehen und auch Anne wird nur gehen können, was bliebe ihr anderes übrig? Wer leben will, wird diese sterbende und sich selbst hassende Gesellschaft hinter sich lassen müssen. Ein Jahr später, in BONNIE AND CLYDE, zeigte Penn dann anhand zweier historischer Figuren, im vollen Bewusstsein, dass in San Francisco der Summer of Love ausgebrochen war, wie man sich einer engen, im Korsett der Konvention erstickenden Gesellschaft entziehen kann. Und dass das – metaphorisch gesehen – manchmal nur gewaltsam möglich ist.
Vermittelt wird die Geschichte von THE CHASE mit modernen Mitteln. Kameramann Joseph LaShelle findet perfekte Bilder für die nervöse Grundstimmung des Films, gerade zu Beginn, wenn Reeves´ Flucht sehr genau verfolgt wird. Es ist eine enorm bewegliche Kamera, die ihm dabei folgt, wie er am Güterbahnhof zwischen die Gleise krabbelt und unter den Zügen hindurchkriecht, sich dann in einen Kühlwagen rettet und aus diesem auf das Dach eines Zuges, von dem er schließlich in einen Fluss springt. Später wird die Kameraarbeit dann langsamer, gesetzter, passt sich dem eher biederen Erzähltempo an. Aber sobald die Dinge eskalieren und es auf dem Schrottplatz zu den Ausbrüchen des Mobs kommt, nimmt auch die Arbeit LaShelles wieder an Rasanz zu und wir bekommen erneut atemberaubende Bilder der nächtlichen Feuer geboten. Mit extremen Perspektiven, Untersicht, subjektiven Einstellungen und gelegentlichen Verzerrungen gibt LaShelle all diesen Bildern eine Dynamik, die die Dramatik der Handlung und einzelner Situationen hervorhebt. John Barrys gelegentlich überdramatischer Score tut ein Übriges, um den Plot voranzutreiben. Das wird zu Beginn mit Reeves Flucht und am Ende virulent, wenn sich alles auf den Schrottplatz konzentriert und die Emotionen einzelner Protagonisten, aber eben auch der in regelrechte Lynchstimmung sich hineinsteigernden Menge immer intensiver, immer wilder werden. Beides – Kameraarbeit und die Musik zum Film – könnten die Arbeit an IN THE HEAT OF THE NIGHT beeinflusst haben, denn dort werden ähnliche Bilder geliefert und wird mit diesen und der Musik von Ray Charles eine ähnlich nervöse, schwüle, unterschwellig bedrohliche und gewaltgeladene Atmosphäre geschaffen wie in THE CHASE.
Es gelingt hier, die Atmosphäre einer Kleinstadt in der Hitze des Südens, das Langsame, das Bedächtige einzufangen, in der immer auch etwas Bedrohliches, etwas Gefährliches zu schlummern scheint. Die Szeneristen und Bildgestalter bieten eine gute Kulisse (der Film wurde, obwohl er in Texas spielen soll, komplett in Kalifornien gedreht), die eine texanische Kleinstadt glaubhaft wiedergibt. Die Dekors und Innenausstattungen einzelner Räume überzeugen. Man sieht THE CHASE an, wie ambitioniert das Projekt gewesen ist, wie sehr das Studio auf einen großen Hit, einen Erfolg an den Kinokassen gesetzt hatte. Und es muss eine enorme Enttäuschung gewesen sein, dass dies schließlich nicht so funktionierte, wie es gedacht war.
Wie dem auch sei – THE CHASE gehört vielleicht zu jenen Filmen, die in ihrer Zeit verkannt, von späteren Generationen jedoch als das erkannt wurden, was sie eben auch sind: Kleinode, die sich in all der offenkundigen Fehlerhaftigkeit verbergen, hinter all den bekannten Schwächen, die diese Werke ohne Frage aufweisen, verstecken. Und die es unbedingt neu zu entdecken gilt.
[1] Man vergleiche nur den Abschnitt in Tony Thomas´ Brando-Anthologie. Nicht nur werden dort minutiös die Verrisse durch Leute wie Pauline Kael aufgezählt, sondern gleich auch die Interviews angeführt, die die Beteiligten – allen voran Drehbuchautorin Lillian Hellman und Penn selbst – hinsichtlich des Films gegeben haben. Niemand scheint damals mit dem Film glücklich gewesen zu sein.
Literatur
Feldvoß, Marli; Löhndorf, Marion u.a.: MARLON BRANDO. Berlin, 2004; S.189-209.
Thomas, Tony: MARLON BRANDO UND SEINE FILME. München, 1980; S.145-152.