FINKS KRIEG
Martin Walsers Schlüsselroman zur Affäre Gauland/Wirtz ist ein sprachmächtiges SIttenbild des bundesrepublikanischen Politikbetriebs
Fast jeder kennt das Gefühl, ihm sei Unrecht geschehen, er sei Opfer himmelschreiender Ungerechtigkeit geworden, ob im Beruf, familiär oder unter Freunden. Die nagende Pein, der dumpfe Schmerz, das verletzte Ehrgefühl, die Herabsetzung. Und wie sehr erst nagt es an einem, wenn die zu Unrecht erlittene Niederlage sich ausweitet und alle Felder des Lebens zugleich besetzt, das Leben selbst bestimmt und doch jeder Versuch, sich Gerechtigkeit zu verschaffen, fehlschlägt, verhallt, versandet. Bis schließlich kaum mehr jemand zuhören mag, folgen mag, die Bereitschaft zeigt, sich möglicherweise selbst zu engagieren und helfend zur Seite zu stehen. Bis zum Schmerz sich das tiefsitzende Gefühl gesellt, man sei ein Idiot, ein Pedant, gar ein Querulant, der es nicht gut sein lassen kann, nicht bereit ist, klein beizugeben, wenn doch wahrlich jeder im Umfeld längst begriffen hat, daß der Kampf verloren ist.
Martin Walser ist mit FINKS KRIEG (erschienen 1996) das Kunststück gelungen, genau diesem Gefühl aus Sicht eines Opfers, eines vermeintlichen Opfers, Ausdruck zu verleihen. Der Beamte der hessischen Staatsregierung Stefan Fink, offizieller Verbindungsmann der Verwaltung zu den verschiedenen Kirchen und religiösen Gruppierungen in und um Frankfurt a.M., soll im November 1988 auf Anweisung des neuen Staatssekretärs Tronkenburg von eben jenem Posten versetzt werden, den ein Parteifreund der neu gewählten Regierung nun besetzen soll, und seinen Dienst zukünftig an anderer Stelle verrichten. Als Fink sich weigert, beginnt zunächst eine innerbehördliche Auseinandersetzung, in welcher Tronkenburg den Widerspenstigen unter anderem damit konfrontiert, Vertreter der Kirchen hätten sich über diesen beschwert, seine Amtsführung in Frage gestellt u.ä. Fink, mit Unterstützung seines Freundes Franz Karl Moor, aber auch bekannter Richter, Wissenschaftler, Journalisten und befreundeter Beamter, beginnt, sich zu wehren. Er veröffentlicht – öfter unter Pseudonym oder den Namen von ihm Vertrauten – Beiträge in Kirchenblättern, in der Frankfurter Rundschau, in Magazinen, er verteilt Flugblätter und spannt in seinem schließlich sechs Jahre währenden Kampf um Rehabilitierung und Wiedereinsetzung in seine bisherige Position nahezu jeden ein, von dem er sich irgendeine Art von Zuspruch oder Unterstützung verspricht. Und obwohl die ehrabschneidenden Äußerungen, die Tronkenburg über ihn hat fallen lassen, schließlich zurückgenommen werden und er damit rehabilitiert ist, reicht es Fink nicht, er will, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird und man ihm offiziell nicht nur seinen Posten zurückgibt, sondern auch die ihm entstandenen Kosten erstattet, er verlangt eine offizielle Entschuldigung und Erklärungen jener, die er für verantwortlich auserkoren hat – darunter Bischöfe und Prälaten und natürlich der mittlerweile in die neuen Bundesländer abgewanderte, ehemalige Staatssekretär. In seinem manchmal an Wahn grenzendem Furor entfremdet er sich langsam von seiner Familie, von Freunden und Bekannten und vereinsamt nicht nur zusehends, sondern wird – auch öffentlich, da die Gegenseite zu gleichen Mitteln greift und Artikel, Aufrufe und Erklärungen lanciert – mehr und mehr zu einem Sonderling, den kaum mehr jemand ernst nimmt. Zumal in sechs langen Jahren andere Ereignisse über seinen Fall hinweg ziehen, ihn unwichtig erscheinen lassen und Stefan Fink Vergleiche mit Kleists Kohlhaas, mit Don Quichotte und schließlich Dostojewskis Idiot einbringen.
Walser hat einen Schlüsselroman geschrieben, dessen Form er schließlich auflöst. Wie meist, ist es seine Sprache, die das Lesen zum Ereignis macht, weniger die berichtete Geschichte. Die ist zudem weitestgehend bekannt. Vorbild für die Auseinandersetzung um Stefan Fink und den Staatssekretär Tronkenburg ist eine Affäre in der Hessischen Staatskanzlei, an der der damalige CDU-Staatssekretär Alexander Gauland und der Ministerialbeamte Rudolf Wirtz beteiligt waren. Walser, der mit Wirtz bekannt war, hielt sich vergleichsweise eng an die wirklichen Geschehnisse, verarbeitete auch das mediale Echo, das vor allem die FAZ auslöste, die die Affäre über Jahre hinweg begleitete und dabei deutlich Position pro Gauland bezog. Doch Walser nutzt geschickt die subjektive Form, berichtet aus der Perspektive Finks/Wirtz`, wodurch dessen Verletztheit große Wirkmacht entfaltet, den Leser mit einer ungeheuren Wucht trifft. Indem Walser diesen Stefan Fink aber zusehends mit sich selbst ins Gespräch treten lässt – da ist der „Beamte Fink“, der sich mit dem „Menschen Fink“ auseinandersetzen muß, wobei lange ersterer die Oberhand behält und letzterer schließlich die Einzelteile einer zusehends zerrütteten Persönlichkeit wieder zusammenflickt – entsteht ein brillantes Psychogramm. Es ist wahrlich das Psychogramm eines Zerfalls.
Dieser Stefan Fink, der jenen „Beamten Fink“ in sich mehr und mehr abspaltet, zu isolieren versucht, ist zwar Opfer eines letztlich miesen Tricks, gar einer Verleumdung geworden, verliert aber Maß und Mitte in seinem Kampf um Rehabilitierung. Er verpasst fast allen seinen Gegnern und Mitstreitern Spitznamen, die sich oftmals aus der Riege deutscher Generäle diverser Kriege rekrutieren, er spricht in einer zunehmend militarisierten Sprache, startet Frühjahrs- und Herbstoffensiven, wartet auf den Tag des großen Sieges, der Entscheidungsschlacht etc. In einem Memo versteigt er sich schließlich zu einem Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg, inklusive geschichtsphilosophischer Betrachtungen darüber, wie die Sieger die Geschichte schreiben, setzt sich zusehends in Eins mit einem Führer, der Armeen – vornehmlich die 12. Armee unter General Walter Wenck, der von Hitler den Auftrag hatte, Berlin gegen die anrückende Rote Armee zu verteidigen und diesen Befehl schließlich nicht umsetzte – dirigiert, Befehle erteilt und sich von Gott und der Welt verlassen sieht, wenn diese nicht die erwünschten Folgen zeitigen. In den Selbstgesprächen und der deutlichen Abspaltung dieses „Beamten Fink“ wird der geistige Zustand des Erzählers immer mal wieder angerissen, bis er auf den letzten 40 Seiten zum eigentlichen Gegenstand des Buches wird. Fink, geschlagen, sich mit Selbstmordgedanken tragend, entflieht in ein Schweizer Kloster, wo die Benediktinerinnen ihn aufnehmen und wo er zur Ruhe kommt. Und hier endlich gelingt es dem „Menschen Fink“, die Oberhand zu gewinnen, das Geschehene einer wirklichen Reflektion und Revision zu unterziehen und sich mit sich selbst darauf zu einigen, daß, wer sich mit den Mächtigen, den Macht-Habenden, anlegt, im Grunde in einer ehrenvollen Niederlage den eigentlichen Gewinn, einen Sieg, erkennen sollte. Da setzt sich ein Mensch, der sich zu verlieren drohte, Stück für Stück also wieder zusammen.
Walser gab an, nahezu sechs Jahre an dem Roman gearbeitet zu haben. Man wäre gern bei diesem Entwicklungsprozeß dabei gewesen, hätte gern miterlebt, wie er das Material ordnet, nach einer Form sucht, wie er überlegt, ob dies als Tragödie, als nüchterner Bericht oder gar als Farce zu erzählen sei. Und wie er schließlich den Entschluß fasst, aus der Perspektive des Geschädigten zu erzählen, die Betreffenden klar zu markieren – so treten Ignaz Bubis, Max Willner, Werner Bockenförde oder auch Franz Kamphaus mit Klarnamen im Roman auf – von der Affäre nicht verschlüsselt, sondern offen und erkennbar zu berichten. Und dann doch formal das Konzept des Schlüsselromans zu überwinden, vielleicht sogar zu sprengen, indem er eine radikal subjektive Sichtweise auf das Geschehen einnimmt. Ob der reale Rudolf Wirtz ihm das gedankt hat, wer weiß? Versprochen hat der sich möglicherweise anderes. Der im Roman an exponierter Stelle auftretende Beamtenkollege und Schriftsteller Franz Karl Moor, den Walser in den Roman an seiner Statt einschreibt und gegen Ende des Buchs sterben lässt, was einmal mehr die Egozentrik Finks unterstreicht, der kaum in der Lage ist, angemessen auf den Tod des langjährigen Wegbegleiters zu reagieren, wird von diesem mehrfach aufgefordert, sich des Falles anzunehmen, daraus ein Stück zu machen, da die Literatur der Bereich sei, wo einem wie ihm, Fink, vielleicht noch Gerechtigkeit widerfahren könne. Vielleicht ist Moors Weigerung, diesen Auftrag anzunehmen – er verspricht einen Essay über Fragen von Macht und deren Auswirkungen auf die Mächtigen und schreibt diesen doch nie – Walsers Hinweis darauf, daß die Forderung nach Gerechtigkeit gerade in der Literatur nicht einlösbar ist. Allerdings lässt er Moor auch einen fürchterlichen Verrat an Fink begehen, wodurch ein wenig ausgleichende Gerechtigkeit dann doch aufscheint.
Walser bedient sich eines manchmal hochtrabenden Tons, der in seiner gelegentlichen Pedanterie ins Parodistische, Ironische kippt und das Geschehen durchaus auch zur Farce werden lässt. Die Frage nach dem Verhältnis und dem Maß von Ursache, Wirkung und Reaktion reißt der Roman nur am Rande an, die Form jedoch stellt diese Frage ununterbrochen und führt „Finks Krieg“ eben auch ad absurdum. Und doch ist man immer bereit, diesem Verletzten zu folgen, ihm in seinen einsamen Stunden an Kopiergeräten und der Schreibmaschine Gesellschaft zu leisten, all die durchwachten Nächte und bedrückenden Stunden des Wartens mit ihm zu verbringen. Man versteht bei aller Unverhältnismäßigkeit der Mittel und des Furors den Grund für all das. Da hat sich einer was aufgebaut – die Stelle, die er bekleidet, hat er erst definiert und ausgebaut – , hat sich in einer durchaus auch bequemen Position eingerichtet, hat Renommee gewonnen, ist angesehen, steht in einem dichten Geflecht von Verbindungen, Bekanntschaften, Seilschaften – und wird dann mir nichts dir nichts aus genau dieser Position entfernt. Als sei da nichts, als sei man austauschbar, einfach so. Daß dies einerseits genau so ist, daß eine neue Regierung ihre eigenen Leute an Schlüsselpositionen setzen will, gerade eine christdemokratische Regierung möglicherweise einen eigenen Koordinator zu den Kirchen haben will und dies möglicherweise ein vollkommen normaler Vorgang ist, andererseits die meisten anderen froh gewesen wären, einen solchen Posten verlassen zu dürfen, lässt der Roman nicht unerwähnt. Das Querulatorische ist diesem Stefan Fink durchaus zu Eigen. Aber seine Verletztheit begreift der Leser eben auch. Auch sein Verlangen nicht nur nach Rehabilitation, sondern auch nach Satisfaktion. Es sind die Mittel, zu denen er greift, die Maßlosigkeit seiner Reaktionen, die auch den Leser abrücken lassen – und Walser forciert diese Bewegung natürlich durch die Sprache.
Wie so oft bei Martin Walser – dessen Werk man schätzen mag oder nicht, seine Sprachmächtigkeit wird ihm wohl kaum jemand absprechen – passiert das Wesentliche in den Sätzen, den Formulierungen und Gedanken. So wird FINKS KRIEG vor allem zu einem weiteren Beleg dafür, wie genau, wie pointiert, wie hintergründig dieses Formulieren oft ist. Es erscheint leichtfüßig, man ergibt sich dieser Sprache und merkt oft erst am Ende eines Satzes, was man da gerade wahrgenommen, gelesen, imaginiert hat, auch, welche Ungeheuerlichkeit in den Worten und ihrer Aneinanderreihung liegt. Rechnet man den Roman Walsers mittlerem Werk zu, sticht er sicherlich hervor als äußerst gelungen. Vergleicht man ihn mit dem 2002 erschienenen Schlüsselroman TOD EINS KRITIKERS, fällt auf, wie weit die Spannbreite gerade dieses Autors ist. Was in FINKS KRIEG sprachlich so atemberaubend gelingt, gerinnt im späteren Buch zu einer etwas miefigen Brühe aus Klischees und raunendem Antisemitismus. Was der Autor natürlich weit von sich weist.
Ein letzter Satz zum Staatsekretär Tronkenburg. Alexander Gauland ist heute vor allem als Vorsitzender der rechtslastigen Partei „Alternative für Deutschland“ in der Öffentlichkeit bekannt. Fink/Walser charakterisieren ihn mit eben jenen Merkmalen, die auch heute gern bemüht werden: Ein etwas snobistischer Anglophiler, der sich gern die Aura der englischen Upper Class gibt und seltsam entrückt auf das Alltagsgeschehen blickt. Diese Entrücktheit macht sich gerade durch Tronkenburgs Abwesenheit im Roman bemerkbar. Bis auf die Eingangsszene, in welcher Fink seine Versetzung mitgeteilt wird, tritt der Auslöser des Ganzen kein weiteres Mal direkt im Buch auf. Man denkt aus heutiger Sicht, wie genau Walser diesen Mann erfasst zu haben scheint. Denn Gauland wirkt oft genau so: Entrückt, desinteressiert, auch an den Folgen eigener Worte, unberührt und ohne Empathie. So auch ist Tronkenburg. So wird Walsers Roman schließlich nicht nur zu einem Schlüsselwerk über eine spezifische Affäre, sondern eine allgemeine Allegorie auf den politischen Betrieb, die Schnittstelle von Politik, Bürokratie und Kultur und ein Portrait jener, die diesen Apparat mit Leben füllen und dabei ihre Menschlichkeit, Maß und Mitte, zu verlieren drohen.