GITTERSEE
Charlotte Gneuß entüfhrt ihre Leser*innen literarisch in den heißen Sommer des Jahres 1976 und die Verwirrungen einer jungen Frau
In Bezug auf Anne Rabes autofiktionalen Roman DIE MÖGLICHKEIT VON GLÜCK (2023) hatte es Anfeindungen gegen die Autorin gegeben hinsichtlich ihres Alters und der damit zusammenhängenden Befähigung, etwas über und von der DDR, der Wiedervereinigung und den damit einhergehenden Verfasstheiten der Betroffenen zu erzählen. Immerhin sei Rabe erst 1986 geboren und damit in die Spätphase der DDR hinein, sie könne sich gar kein Bild der damaligen Zustände machen.
Im Fall von Charlotte Gneuß haben dann möglicherweise ihr Geburtsjahr – 1992 – und erst recht der Geburtsort – Ludwigsburg – dazu geführt, dass ihr Debut-Roman GITTERSEE (2023) gar nicht mehr die breite Rezeption erfuhr, derer Rabes Buch – immerhin war die Finalistin um den Deutschen Buchpreis 2023 – sich erfreuen durfte. Vielleicht liegt es auch daran, dass der gesamtdeutschen Öffentlichkeit pro Saison nur ein Werk zum Thema zuzumuten sei? Wer weiß. Nominierungen – u.a. die Longlist des Deutschen Buchpreises – und auch Preise hat sie durchaus erhalten, doch wurde der Roman bei Weitem nicht so exklusiv und prominent besprochen, wie dies bei Rabe der Fall gewesen ist.
Fakt ist: Man kann die Diskussion ja durchaus führen. Man kann sich ja fragen, weshalb mehr oder weniger fiktionale Werke zum Thema gelesen werden sollten, wenn es doch genügend Autorinnen und Autoren gibt – und nicht nur ältere Semester à la Christoph Hein -, die durchaus adäquat von den Verhältnissen in der DDR und den Jahren der Wende erzählen können, schlicht schon deshalb, weil sie sie erlebt haben. Andererseits – man hat die Diskussion ja schon unter weitaus schwereren Bedingungen hinsichtlich des Holocaust erlebt, bei dem die Berührungsängste mit fiktionalisierten Werken zurecht noch weitaus größer sind – wird so oder so irgendwann ein Zeitpunkt erreicht sein, an dem es nur noch fiktionalisierte Werke zum Thema geben wird. Sicher, das wird noch dauern, aber wieso nicht bei Zeiten damit beginnen und diese dann unter verschärfte Beobachtung jener stellen, die es wahrlich beurteilen können? Nur müssen deren Urteile dann auch fair ausfallen.
GITTERSEE ist zunächst einmal ein Coming-of-Age-Roman. Angesiedelt ist der Roman im heißen Sommer des Jahrs 1976. Die sechzehnjährige Karin lebt mit ihrer Familie in Gittersee, einem Außenbezirk von Dresden. Die Mutter erscheint als fernes Wesen, sie wird die Familie im Laufe des ca. 240 Seiten starken Romans verlassen und nach Dresden ziehen. Der Vater ist ein freundlicher Mann, der oft hilf- und ratlos wirkt. Vor allem aber ist er ein harter Trinker. Die Oma wohnt ebenfalls bei Karins Familie. Sie schwelgt gelegentlich in Erinnerungen an den Krieg, den sie als Hilfskraft an der Ostfront verbracht hat, während ihr Mann offenbar desertiert ist. Die Angst der Männer macht den Krieg kaputt ist eine der Sottisen, welche sie immer mal wieder zum Besten gibt. Karin hat eine kleine Schwester, die gerade in das Alter kommt, in welchem sie Sprechen lernt und um die sich vor allem die Ich-Erzählerin kümmert. Karin liebt Paul, der sie eines Tages fragt, ob sie Lust auf ein Abenteuer hat. Mit seinem Motorrad will er in die Berge, klettern. Karin will nicht ohne die Erlaubnis des Vaters ein Wochenende verschwinden. Am darauffolgenden Montag wird Paul als vermisst gemeldet – offenbar hat er Republikflucht begangen…
Pauls Flucht setzt eine ganze Kette von Ereignissen in Gang, von denen Karin nüchtern und sachlich, oft distanziert und geradezu emotionslos erzählt. Gneuß nutzt fast ausschließlich Hauptsätze, meist bleibt die Sprache deskriptiv, es entsteht eine nahezu kalte Atmosphäre. Es gelingt ihr allerdings, eine Wirklichkeit zu erschaffen, die vielleicht nichts mit der des Jahres 1976 in Gittersee bei Dresden zu tun haben mag – das sollen die beurteilen, die jene Jahre vor Ort erlebt haben -, die aber in einem literarischen Rahmen absolut glaubwürdig wirkt. Da ist etwas zutiefst Verunsichertes in diesen Figuren und was ihnen widerfährt ist für sie zutiefst verstörend. Aber Vieles von dem, was Genuß in ihren Text einfließen lässt – bspw. die vom Krieg und den Nazis schwärmende Oma – kennen auch im Westen sozialisierte und aufgewachsene Leser*innen. Und auch an die enorme Hitze jenes Sommers kann sich erinnern, wer ihn erlebt hat. Daran, wie sie die Köpfe schwer werden ließ und das Denken beeinträchtigte. Und für den Fortgang der im Roman geschilderten Ereignisse ist diese Hitze, ist das eingeschränkte Denken möglicherweise wesentlich.
Denn Karin wird in der Schule, vermittelt durch die Direktorin, von einem Mann namens Wanderwitz angesprochen, offenbar ein Stasi-Mitarbeiter, der sie bittet, ihm alles über Paul, schließlich auch über dessen Freund Rühle, über Marie, Karins beste Freundin und auch ihren Vater zu erzählen. Wanderwitz tritt als Freund auf, als jemand, der Verständnis hat, Einfühlungsvermögen besitzt. Zugleich gibt er sich aber ganz offen als das zu erkennen, was er ist. Er wirbt Karin nicht nur an, sondern wirbt sogar für die Arbeit, die er und seinesgleichen verrichten. Bietet der Heranwachsenden an, vielleicht ja auch im Ministerium zu arbeiten. Er ist ein hervorragender Psychologe, der es perfekt versteht, Karins jugendlich-pubertäre Verunsicherung, auch die Wut, die sie nach Pauls Verschwinden verspürt, ihre Hilflosigkeit gegenüber der häuslichen Situation, die scheinbare Ausweglosigkeit, die Trostlosigkeit, die das Leben wohl nur bietet und ihre Ratlosigkeit derart zu nutzen, dass sie sich bei ihm wohl zu fühlen beginnt. Vor allem fühlt sie sich verstanden.
Ob diese „Anwerbung“, wenn man es so nennen will, reellen Versuchen des MfS entspricht, ob wirklich Sechzehnjährige derart offensiv angeworben oder auch nur befragt wurden – all das sei einmal dahingestellt. Das müssen die Historiker, die Experten und Spezialisten bewerten. Doch ist dies ein (fiktionaler) Roman, und im Rahmen eines solchen ist es Gneuß nahezu brillant gelungen, juvenile Wut und Ziellosigkeit, Widerspruchsgeist und Verführbarkeit einzufangen, die darin enthaltenen Ambivalenzen anhand dieser erdachten Geschichte, die sie in einen historischen Kontext einbettet, nicht nur spürbar, sondern nahezu erfahrbar zu machen. Vielleicht könnte man eine ähnliche Geschichte auch in anderen Kontexten erzählen, vielleicht wäre es nicht nötig, dafür auf die DDR und eine Verquickung mit der Stasi zurückzugreifen. Doch so oder so ist dies – literarisch – schon ein Meisterstück, wie hier die Gedanken- und Gefühlswelt einer jungen Frau, eines Mädchens an der Schwelle zum Erwachsenwerden (was durchaus auch einen gewissen; auch freizügigen Umgang mit Sexualität betrifft) eingefangen werden.
Gneuß´ Eltern haben die DDR noch vor dem Mauerfall verlassen. Es mag sein, dass sie sich, wie der Klappentext des Romans mitteilt, schreibend der DDR annähert, der Realität wie der Utopie, und sich so an der eigenen Familiengeschichte abarbeitet. Doch scheint dies gar nicht so wichtig, zumindest nicht für die Rezipient*innen. Denn dies ist definitiv vor allem ein präzises und gerade in seiner distanzierten Nüchternheit oft treffendes und durchaus schmerzhaftes Stück Literatur, welches gerade bei empfindsamen Leser*innen immer wieder auch Erinnerungen an die eigene Jugend und vielleicht weniger dramatische, doch möglicherweise dennoch traumatisierende und verletzende Erlebnisse evozieren wird. Hier hat jemand jene äußerst prekären Jahre der Pubertät sehr genau eingefangen und wiedergegeben. Literatur, die sticht.