GOD`S POCKET

Pete Dexter erzählt in den frühen 80ern von einer beschädigten Gesellschaft

Nominell ein Kriminalroman, hat man es bei Pete Dexters GOD´S POCKET (1983/Dt. 2010) eigentlich mit der Alltagsbeschreibung einer Stadt und einiger exemplarischer, dort gelebter Leben zu tun, wobei die Ereignisse aus vielerlei Perspektiven erzählt werden. So wird die Story irgendwann nur noch zu einem roten Faden, an dem die Narration entlanghangeln kann. Wichtiger werden die einzelnen Personen, die das Erlebte verarbeiten müssen.

Das zentrale Ereignis ist der Tod eines jungen Mannes, der ab und an Jobs annimmt, meist seiner Mutter, bei der er wohnt, auf der Tasche liegt und ansonsten gern den starken Mann markiert. So auch an diesem Morgen, mit dem das Buch beginnt: Leon Hubbard fuchtelt auf der Baustelle, auf der er kurzfristig mit Hilfe seines Stiefvaters Mickey Arbeit gefunden hat, vor den Augen des Vorarbeiters Peets und dessem „besten Mann“ Old Lucy, einem Schwarzen, mit seinem Rasiermesser herum und erzählt bizarre Geschichten darüber, was er mit diesem Messer schon alles angestellt habe oder andere habe anstellen sehen. Irgendwann bedroht er willkürlich Old Lucy, verletzt ihn sogar. Und der erschlägt Leon daraufhin mit einem Eisenrohr. Keiner der Anwesenden Arbeiter fällt Peets, der das ganze vor der Polizei als Arbeitsunfall darstellt, ins Wort oder gar in den Rücken und so wird ein „Unfall“ konstruiert, mit dem zunächst alle gut leben können. Nur Leons Mutter Jeanie glaubt die offizielle Version nicht. Der „Unfall“ zieht nach und nach seine Kreise, verschiedene Gruppen haben unterschiedliche Interessen, die alle irgendwie an einem Punkt der Handlung durch den Tod Leons berührt werden. Und jede dieser Gruppen zieht ihre eigenen Schlüsse, wie mit dem „Umfall“, bzw. seinen Folgen umzugehen sei…

Damit ist aber keineswegs die Handlung dieses Romans wiedergegeben. Auch der Aufbau der Erzählung kann mit einer Inhaltsangabe nicht erklärt werden. Denn das Geschehen selbst scheint immer nebensächlicher zu werden gegenüber der Schilderung einer zerrütteten Ehe, den gesellschaftlichen Implikationen, wenn „die Sache“ anfängt, höhere Kreise zu erreichen, der Atmosphäre der unterschwelligen Bedrohung, wenn, ohne daß der Text es je explizit thematisiert (außer in ein, zwei Dialogpassagen), die Gerüchteküche wesentlicher Bestandteil für die Entwicklung der Story wird. Dexter hält die Geschichte nah am Fall, wodurch beim Leser den Eindruck entsteht, einer kohärenten Erzählung zu folgen. Letztlich wird er aber Zeuge eines Mosaiks aus Einzelerzählungen, die zusammengelegt (wobei die Reihenfolge manches Mal fast nebensächlich erscheint) eine Gesellschaft erklären, in der es zu viele Verlierer und eigentlich nur kriminelle Gewinner gibt. Jeder, der es in dieser Welt zu etwas gebracht hat, ist dabei nicht sauber geblieben – ob die Mafiamänner (die sowieso), deren kleinen Helferlein, ob die Polizisten, die Arbeiter, die Geschäftemacher oder selbst die Rentner, die sich unter gewissen Umständen als tödlich erweisen können. Niemand in diesem Panoptikum ist sauber, ist nett oder „gut“, es gibt ein paar, die es gern wären, so wie es ein paar gibt, den verstorbenen Mr. Hubbard eingerechnet, die sich in diesem Haifischbecken, für das das titelgebende Stadtviertel God’s Pocket stellvertretend steht, hervorragend eingerichtet haben und bestens mit dessen knallharten Spielregeln zurechtkommen.

Dexter macht das, was guter Noir schon immer gemacht hat: Er verleiht gesellschaftlichen Zuständen, Ängsten, herrschendem Wahn und der allseits verbreiteten Paranoia Ausdruck. Daß das im Noir meist pessimistisch, oft zynisch ausfällt, sollte dem Konsumenten dieser Stilrichtung – ob als Literatur, ob als Film – klar sein. Pessimistisch ist Dexter, keine Frage, zynisch wird er ansatzweise an einigen Stellen, doch ist er seinen so fehlbaren Figuren zu sehr zugetan, als sie billig preiszugeben. Dieses Werk wurde Anfang der 80er Jahre geschrieben, man könnte meinen, es spiele in den späten 50ern, ist aber in der Zeit seiner Entstehung angesiedelt. Reagan-Jahre. Erster Schub kapitalistischen Superwahns zu Gunsten einiger weniger, zu Lasten des Landes, das sich fast 20 Jahre nicht erholen konnte von diesem staatlichen Kahlschlag. Während der Lektüre meint man Springsteens NEBRASKA-Album von 1982) zu hören, dessen Songs von genau diesen Zuständen und davon erzählen, was sie in den Seelen der Menschen an Verheerungen anrichten. Und diese Verheerungen zeigt Dexter meisterlich auf. Niemand hier ist unschuldig, aber es bleibt auch niemand verschont, ungestraft oder ungerechterweise geschlagen. Keiner dieser Menschen, die einem Viertel wie God’s Pocket entstammen, hatte oder hat je eine wirkliche Chance, stattdessen müssen sie mit ansehen, wie jene, die Chancen hatten, diese mit Füßen treten, nicht wahrnehmen, nicht wollen, zynisch verachten. Die Dynamik, die aus dieser gesellschaftlichen Situation entsteht und wie sie sich auch zukünftig auswirken wird in dieser Gesellschaft – das kann man getrost von heute aus betrachtet sagen – hat Pete Dexter erschreckend genau antizipiert.

GOD`S POCKET hat Drive, es ist auf vielerlei Ebenen spannend, es ist lakonisch in der Sprache, manchmal ergibt es sich auf fast schreckliche Weise galligem Humor. Selbst unterhaltsam ist es auf seine Weise, wobei man schon durchaus Sinn für die dunkleren Seiten des Lebens haben sollte. Eben Noir. Großartiger Noir!

 

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