HARTE JAHRE/TIEMPO RECIOS
Ein Spätwerk von Mario Vargas Llosa, das die Erwartungen leider ein wenig enttäuscht
Bevor man zur Kritik übergeht – und es gibt durchaus Kritisches zu Mario Vargas Llosas neuem Roman HARTE JAHRE (TIEMPO RECIOS/2019; dt. 2020) anzumerken – sollte man vielleicht grundsätzlich hervorheben, mit welcher Souveränität der mittlerweile 84jährige Nobelpreisträger sein Material beherrscht. Mit welch scheinbarer Leichtigkeit er den Leser in den zweiunddreißig Kapiteln, einem Prolog und einem Epilog, die unterschiedlichen Sichtweisen und Standpunkte verschiedener Figuren zu unterschiedlichen zeitlichen Momenten der etwa ein Jahrzehnt umfassenden Handlung einnehmen und ihn dabei literarisch elegant im Ablauf der Geschehnisse vor und zurück springen lässt. Wie es ihm gelingt, einer Geschichte zu folgen, die vom Politischen ins Persönliche, dann in die Welt der Geheimdienste und wieder zurück mäandert, wie er diese unterschiedlichen Ebenen elliptisch engführt, mal das eine stärker betonend, mal das andere, manchmal das eine im andern sich ergänzen, sich spiegeln, eine Ebene manchmal durch eine der anderen sich erklären lässt. Man spürt die Könnerschaft, den literarischen Feinschliff, errungen durch etliche Romane, aber auch Essays politischer wie literarischer Natur. Hier brilliert ein Großer der lateinamerikanischen und der Welt-Literatur, dessen politischer wie gesellschaftskritischer Blick nicht getrübt ist und auch nicht durch Altersmilde abgeschwächt wird. Ein wacher Geist, der genau um die ökonomischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen weiß, die in den Ländern des südamerikanischen Kontinents durch die oft brutale offizielle wie geheime Politik der USA und anderer der einst als „Erste Welt“ deklarierten Länder ausgelöst wurden.
Doch – um es einmal prosaisch zu sagen – wo viel Licht, da viel Schatten. Was oben so positiv beschrieben wurde, kommt dem Autor hier auch gelegentlich in die Quere. Bei aller Könnerschaft, die dem Leser vorgeführt wird, kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Vargas Llosa sich eben auch genau darauf verlässt. Das Wissen um die eigenen Fähigkeiten macht manchmal vielleicht übermütig, manchmal aber auch nachlässig. Gerade im Vergleich mit Frühwerken wie DAS GRÜNE HAUS (LA CASA VERDE; 1966) oder GESPRÄCH IN DER KATHEDRALE (CONVERSACIÓN EN LE CATEDRAL; 1969) – inhaltlich wie formal nahezu radikale Bücher – aber auch den dezidiert politischen Romanen wie DER KRIEG AM ENDE DER WELT (LA GUERRA DEL FIN DEL MUNDO; 1981) oder DAS FEST DES ZIEGENBOCKS (LA FIESTA DEL CHIVO; 2000), in denen Vargas Llosa sich von der experimentellen Lust an Polyphonie, an Fragmentierung und dem Konzept des „totalen Romans“ verabschiedete und sich eher konventioneller Methoden bediente, um seine nicht mehr ganz so linken, nicht mehr ganz so radikalen Ansichten zu verarbeiten, spürt man einen gewissen Spannungsabfall.
Inhaltlich schließt HARTE JAHRE in gewisser Weise an DAS FEST DES ZIEGENBOCKS an. Es treten sogar einige Figuren auf, die aus dem früheren Roman bekannt sind, dort vielleicht Nebenrollen einnahmen, jetzt aber zu wesentlichen Handlungsträgern werden. War es dort die Herrschaft des grausamen Diktators Trujillo über die Dominikanische Republik, die Verflechtung der CIA und anderer ausländischer Dienste und (vor allem ökonomischer) Interessenten in seine Ermordung, nachdem man den Tyrannen zunächst aufgebaut und unterstützt hatte, so ist es hier die Geschichte der demokratisch gewählten Regierung Árbenz in Guatemala, die 1954 auf Betreiben der United Fruit Company und unter der Kuratel der CIA gestürzt wurde. Es war einer jener Interventionen, die die USA in der Nachkriegszeit und vor allem unter dem Eindruck des Kalten Krieges immer wieder weltweit unternahmen, um sich ihnen strategisch wichtig erscheinende Länder gefügig zu machen.
Vargas Llosa erzählt die Geschichte des Umsturzes in Guatemala aus der Sicht einiger der Beteiligten – des Marionettenpräsidenten und Diktators Carlos Castillo Armas, seiner Geliebten, eines seiner Getreuen, aber auch verschiedener Gegner und Unterstützer – und setzt, einem Mosaik gleich, immer mehr Bausteine zusammen, bis der Leser ein – wenn auch nicht objektiv stimmiges – Gesamtbild der Lage des Landes als Spielball unterschiedlicher Kräfte und Mächte erhält. Politisch-ideologisch als antikommunistische Aktion im Kampf gegen den EInfluß der Sowjetunion in Lateinamerika verkauft, steckten doch knallharte ökonomische Interessen hinter den Bestrebungen, die demokratischen Reformen, die die Regierung Árbenz durchzuführen gedachte und teils auch schon verwirklicht hatte – darunter eine echte Landreform – zurückzudrängen. Und es war die bereits erwähnte United Fruit Company, die ihr ausbeuterisches Geschäftsmodell gefährdet sah, die federführend daran beteiligt war, die antikommunistische Hysterie der McCarthy-Jahre auszunutzen und ein lupenreines demokratisches System, ein System, das sich dezidiert an den USA orientierte, zu diskreditieren und damit einen Prozeß in Gang zu setzen, der bis weit in die 1980er Jahre nachwirken und den lateinamerikanischen Kontinent massiv in seiner Entwicklung beeinflussen sollte.
So politisch, so geschichtsträchtig, so genau recherchiert – und die Recherche des Autors dürfte erschöpfend gewesen sein – das Werk auch ist, dem Leser bleiben die handelnden Figuren trotz ihrer inneren Stimmen, die die Geschehnisse erzählend reflektieren und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, doch erstaunlich fremd. Ja, man kann soweit gehen, ihnen zu attestieren, blass zu sein. Denn Vargas Llosa legt nicht wirklich Wert auf ihre psychologische Erkundung, darauf, ihre Motive zu erforschen. Es sind teils fast geschichtslose Figuren, die nahezu ausschließlich anhand ihrer Handlungen und Taten beschrieben werden, Handlungen und Taten, die sich nicht immer aus sich heraus erklären. Beispielhaft ist die Figur der „Miss Guatemala“ zu nennen, spätere Geliebte des Diktators Armas, die, Augenstern ihres Vaters, als gerade einmal Fünfzehnjährige einen seiner Freunde verführt (oder sich von diesem verführen lässt?), schwanger wird, heiraten muß und dann aus dem ehelichen Heim flieht, um sich dem General anzudienen. Keine dieser Handlungen wird wirklich erklärt, fast macht es den Eindruck, als verlasse sich Vargas Llosa auf den Leser, dessen Imagination, seine politische und literarische Vorbildung, womit er in Kauf nimmt, daß man sich eine Lolita vorstellt, durchtrieben und leicht verkommen. Damit droht die Figur jedoch im Klischee zu erstarren. Einem äußerst misogynen Klischee zudem.
Ähnlich ist es um die Figur des Oberst Abbes Garcia bestellt, der als Sicherheitschef und Folterknecht für Armas tätig ist, jahrelang laviert, um eigene Pfründe zu sichern, mit „Miss Guatemala“ anbändelt und möglicherweise auch eine Affäre mit ihr unterhält, die eigene Ehefrau zufriedenstellen muß und schließlich in den Mühlen der Zeitläufte zerrieben zu werden droht. Garcia und Marta Borrero Parta, wie „Miss Guatemala“ mit bürgerlichem Namen heißt, sind die Hauptfiguren in einem ganzen Reigen von Protagonisten, die der Autor auftreten und sprechen lässt. Da klingt seine einst revolutionäre Technik der polyphonen, oft fragmentarischen Erzählweise an, fast erhält man den Eindruck einer Hommage an das eigene Werk, ohne dessen oft wenig zugängliche Methodik zu übernehmen. Aber wo in früheren Romanen, auch jenen, die die Technik des „totalen Romans“ bereits hinter sich gelassen hatten, die Psychologie der Figuren, die Verstrickung in eine „objektive“ äußere und eine subjektive innere Geschichte so genau und wirkmächtig war, sind die Beweggründe dieser Figuren nahezu willkürlich und nur aus einer im Roman eben nie wirklich erfassten und erfassbaren Geschichte des Kolonialismus, der Unterwerfung und der Tyrannei zu erklären. Und da, wo der Autor dann doch ansetzt, um zumindest die äußere Geschichte zu erklären, werden die betreffenden Abschnitte oft zu referierten Seminararbeiten.
So erscheinen auch technisch anmutende Kleinigkeiten wie eine Folge dessen. Lange braucht es, bis der Leser die verschiedenen Männer und ihre Positionen im Machtgefüge wirklich erkennen und einordnen kann. Man beginnt, die Namen zu verwechseln, fragt sich, ob dieser oder jener nun diese oder jene Funktion eingenommen hatte und verliert sich gerade auf den ersten 50, 60 Seiten ein wenig im Gewirr. Denn zu viele der Figuren sind sich charakterlich zu ähnlich, ihre Stimmen sind kaum voneinander zu unterscheiden, die Charaktere wirken schematisch und lediglich auf den formalen Nutzen angelegt.
Hinzu kommen einige dann doch ärgerliche Einzelheiten, wie bspw. der Prolog. Auf diesen ca. 20 Seiten wird – fast im Ton einer Legende – die Geschichte der United Fruit Company umrissen, vor allem während der Leitung durch Sam Zemurray, der den PR-Manager Edward L. Bernays damit beauftragte, das Image des Konzerns aufzupolieren. Bernays war maßgeblich daran beteiligt, die demokratisch gewählte Regierung Guatemalas als kommunistisch zu brandmarken und damit die Öffentlichkeit in den USA dahingehend zu beeinflussen, die Intervention durch die amerikanische Außenpolitik und die CIA – letztere wurde offiziell natürlich nie eingeräumt – nicht in Frage zu stellen. Rein historisch betrachtet darf man diese Beurteilung der EInflußnahme durch den Konzern als gesichert betrachten, aber spielt es dabei wirklich eine wesentliche Rolle, daß sowohl Zemurray als auch Bernays jüdischen Glaubens waren? Ist es nicht eine Zwangsläufigkeit, daß damit antisemitische Klischees zumindest bedient werden? Der Jude, der einen ausgerechnet als „die Krake“ benannten internationalen Konzern leitet und gegen alle politischen Widerstände sein ausbeuterisches Geschäftsmodell zwecks Gewinnmaximierung durchsetzt, erinnert doch arg an jene Phrase vom „internationalen Finanzjudentum“, die Antisemiten auch heute wieder so leicht über die Lippen kommt. Und daß das gerade in linken Kreisen als Ur-Übel des 20. Jahrhunderts ausgemachte Marketing, die Public Relations, die Werbung, welche erst für die ganze Malaise verantwortlich ist, nun auch noch von einem Juden erdacht und gelenkt wird, hat schon etwas Perfides. Zumal beide als typische Amerikaner beschrieben werden, einer Zeit entstammend, die den entfesselten Kapitalismus liebte und skrupellos positivistisch verfolgte. Ihr Glaube spielt also weder für die Politik des Konzerns, noch für den Fortgang der Geschichte eine Rolle. In Zemurrays[1] Fall ist es sogar so, daß er bereits 1951 seinen Posten an der Spitze des Unternehmens aufgab.
Man kann – und sollte in Zeiten, in denen sich die hässliche Fratze des Antisemitismus allenthalben wieder unverhohlen zeigt – also nicht darüber hinweggehen, daß Vargas Llosa hier, ob gewollt oder nicht, das Klischee des gierigen und skrupellosen Juden bedient, ein Bild, das heute wieder gern genutzt wird, um bspw. den durchaus umstrittenen Großfinanzier George Soros zu diskriminieren.
Zugutehalten muß man dem Autor dann allerdings, daß er im Fortlauf der Geschichte die Ereignisse zumeist als Folge von Korruption, reaktionären Einstellungen und Machtgeilheit der Vertreter der guatemaltekischen Gesellschaft schildert. Also durchaus als immanentes lateinamerikanisches Problem. Es schwingt immer die Annahme mit, daß jene Reformen, die Árbenz und sein Vorgänger, Präsident Juan José Arévalo, anstrebten, auf gesellschaftlichen Widerstand jener stießen, die sich in den feudalen Kolonialstrukturen gut eingerichtet hatten. Vargas Llosa schildert eine Gesellschaft, die zutiefst rassistisch geprägt ist, vor allem in Hinblick auf die indigene Bevölkerung, eine Gesellschaft, in der Gewalt und Unterdrückung als probate und vollkommen legitime Mittel des Machtgewinns und -erhalts betrachtet wurden und die wenig Interesse an wirklicher Demokratie und liberalen Ideen hatte (und hat).
Natürlich tauchen am Rande Figuren wie der notorische Howard Hunt auf, der an so ziemlich jeder Schweinerei der CIA in den 50er, 60er und 70er Jahre – bis hin zum Watergate-Skandal um Präsident Richard Nixon – beteiligt war, es gibt einen „Mann, der nicht Mike heißt“, auch dies eine leider etwas klischeehafte Figur, die für die CIA arbeitet und ein undurchsichtiges Spiel mit dem Diktator Armas spielt, und vor allem der Botschafter John Emil Peurifoy, ein Mann, der nominell zwar ein Diplomat war, inoffiziell jedoch eine Art „Mann fürs Grobe“ und bereits in Griechenland maßgeblich daran beteiligt war, ein den USA genehmes Regime zu installieren und vor allem zu halten. Abgesehen vom „Mann, der nicht Mike heißt“ sind dies historische Figuren, die ihren Anteil an den Vorgängen in Lateinamerika hatten, vor allem Peurifoy. Vargas Llosa lässt dennoch keine Zweifel daran aufkommen, daß es eine bereits herrschende Gesellschaft und eine soziale Struktur gewesen sind, die die Planspiele der Amerikaner nur allzu willfährig mitspielten.
HARTE JAHRE hängt also irgendwo zwischen der eingangs beschriebenen Eleganz und Könnerschaft und einer gewissen Oberflächlichkeit. Nun ist es mit den Großen der Literatur natürlich so, daß sie nie gänzlich versagen, selten völlig daneben liegen. Und so fesselt auch dieser Roman, reißt den Leser mit, packt mit seiner Genauigkeit, was historisch-politische Entwicklungen betrifft, bleibt dem Leser allerdings auch etwas schuldig, etwas, das man sich von Mario Vargas Llosa vielleicht automatisch erwartet. Psychologische Tiefe, eine gewisse Radikalität, Wagemut. Aber vielleicht sollte man auch bedenken, daß hier ein Schriftsteller ein Werk vorlegt, der mittlerweile deutlich im Spätherbst seiner Karriere angelangt ist. Und dennoch ein im Vergleich nach wie vor hohes Niveau hält.
[1] Zemurray wurde 1877 in Chișinău geboren, seine Familie wanderte 1891 in die USA aus. Er ist damit – vergleichbar den frühen Hollywood-Moguln wie Sam Goldwyn – einer jener jüdischen Emigranten gewesen, die die „Neue Welt“ als Chance begriffen, unabhängig von ihrem Glauben und ihrer gesellschaftlichen Stellung und vor dem Hintergrund erlittenen Unrechts wie Verfolgung und Pogromen, ökonomische und sozial aufsteigen zu können, ein Self-Made-Man, wie er in der Betrachtung der amerikanischen Geschichte oft so vergöttert wird.