TRANSIT

Vielleicht ist es dringend geboten, Anna Seghers wieder in der Schule zu lesen?

Jahre und Jahrzehnte galt Anna Seghers´ TRANSIT als Paradebeispiel deutscher Exilliteratur. Sowohl in der DDR als auch der alten BRD wurde das Werk über Flucht und Flüchtende aus einem von den Nationalsozialisten überrollten Westeuropa in den Schulen gelesen, ein mahnendes Beispiel für das, was nie wieder passieren darf. Nun sind erneut Flüchtlingsströme auf dem Mittelmeer unterwegs und vielleicht kann eine Re-Lektüre des Romans helfen, die Dinge einzuordnen?

Ein namenloser Erzähler berichtet uns, seinem Publikum, in einer Gesprächssituation, die in einer Pizzeria in Marseille stattfindet, wie er aus einem deutschen Lager nach Frankreich floh, dort zu Beginn des Krieges erneut inhaftiert wird, erneut flieht und sich, wie so viele, nach Marseille durchschlägt und versucht, den herannahenden Nazis auf einem der Schiffe, die nach Amerika, Südamerika, nach Nordafrika oder Asien fahren, zu entkommen. Eindringlich wird die Situation der Flüchtlinge geschildert, die bürokratischen Hürden, die es zu nehmen galt, um Visa, Transitvisa und die Abreisevisa zu erlangen, die aber alle bezahlt und alle zur rechten Zeit gestempelt und beglaubigt sein wollen. Fast kafkaesk muten die Versuche der verschiedenen dem Erzähler begegnenden Menschen an, ihre Papiere zusammen zu bekommen. Besonders gefangen genommen wird er von einer jungen Frau, die ihm immer wieder auffällt, wie sie die diversen Flüchtlingscafés und Restaurants aufsucht, scheinbar auf der Suche nach einer bestimmten Person. Es ist der Dichter Weidel, der sie einst für sich eingenommen hatte und von dem es heißt, er sei in Marseille eingetroffen. Was die junge Dame nicht ahnt, der Erzähler aber weiß: Weidel ist bereits tot, er hat sich in einem Hotelzimmer in Paris das Leben genommen, als die Front näherrückte. Der Erzähler hat Weidels Papiere an sich genommen und so für Verwirrung gesorgt. Nun will er der jungen Dame helfen, glaubt aber zugleich, sie sei die Rettung seines Lebens, die Liebe, die ihm Sinn verleiht. Und dennoch wird er sie schließlich ziehen lassen, an der Seite eines anderen Mannes, hat in ihrem Herzen doch ebenfalls nur ein anderer, einen toter Mann einen Platz.

Ein Roman, in dem zunächst wenig passiert. Die Handlung besteht hauptsächlich aus den diversen Besuchen diverser Konsulate und Botschaften, diverser Restaurants und Cafés, aus den Begegnungen von Menschen mit Menschen, die sich kennen, manchmal mögen, oft belauern und meist versuchen, irgendwie zu helfen. Doch darf man Seghers oft naturalistisch anmutenden Stil, den sie selber als dem Realismus verpflichtet betrachtete, nie unterschätzen. Wie auch in ihrem Weltroman DAS SIEBTE KREUZ, ist TRANSIT von erlesener Komposition und geprägt durch symbolische wie verschlüsselte Verweise auf die Situation der Flüchtlinge einerseits, andererseits aber ist es aber auch ein Entwicklungsroman, der aufzeigt, wie aus einem „Drifter“, einem, der das Leben leicht nimmt und die Gefahr nicht ernst nehmen mag, ein echter Antifachist und überzeugter Kämpfer wider die Tyrannei wird.

Das ist wesentlich, denn Seghers verstand sich zeitlebens als Kommunistin, ihre Bücher sind immer auch didaktisch angelegt, sie zeigen immer auch einen sozialistischen Ansatz. War DAS SIEBTE KREUZ einer der ersten, wenn nicht überhaupt der erste Roman, der die Konzentrationslager der Nazis thematisierte und damit ein Schlaglicht auf die Vorgänge in Nazideutschland warf, zugleich aber auch eine Art Manifest, durchzuhalten und sich der Barbarei entgegen zu stemmen, so ist TRANSIT in gewisser Weise fast ein existenzialistischer Roman, in dem ein junger Mann erkennen muß, daß im Leben Aufgaben sich manchmal von selbst stellen, nicht ausgewählt werden können. Es gibt die Figur eines einbeinigen Kommunisten, der von seinen Kameraden aus diversen Lagern befreit und mitgeschleppt wurde, obwohl er die Flucht erschwert und im Grunde „nutzlos“ ist. Dreimal begegnet der Erzähler diesem Mann und anhand der Reaktionen, die er erfährt – Verachtung, zweifelnde Zuwendung, Anerkennung – können wir seine Entwicklung ablesen.

In der Haltung und den Aussagen, die der Erzähler reflexiv äußert, uns, seinem (hörenden, lesenden, lesend hörenden) Publikum zugewandt, können wir das Echo einer viel später in die Literatur eingeführten, sehr viel skandalöseren Figur vernehmen – die des Erzählers im ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN, in welchem Imre Kertész einen Jugendlichen (der er selber war – wie Seghers erzählt er aus der Perspektive dessen, der erleben musste, was er beschreibt) Auschwitz fast als Spiel erleben lässt, womit dem Lager, dessen Name zur Chiffre wurde, ein gut Teil seiner Bedrohlichkeit aberkannt wurde. Auch Seghers´ Protagonist gibt sich dem Grauen, der Angst nicht hin, auch er ist nicht bereit, das Unheil, das sich zusammenbraut, als übermächtig zu akzeptieren, auch ihm ist das Leben erstmal so selbstverständlich, daß er den Nazis nicht zugestehen mag, überhaupt eine Macht darüber zu erringen. Er muß es lernen – und er lernt es.

Seghers, die ihren Roman entweder schon in Marseille zu schreiben begann, selber auf Transit wartend, oder aber – die Quellen sind da uneindeutig – doch erst auf dem Schiff, das sie schließlich nach Mexiko brachte, war natürlich extrem nah dran an ihren Erfahrungen, wartete nicht Jahrzehnte ab, bis sie sie niederschrieb. So ist TRANSIT von großer Dringlichkeit was die unmittelbar beschriebene Situation betrifft, wobei Seghers es sich nicht nehmen lässt, durchaus komische bis tragikomische Situationen zu schildern, bspw. wenn das argentinische Konsulat als ein gottverlassenes Gebäude dargestellt wird, in dem sich die Angestellten nahezu verschanzen, um den Visanträgern nicht entgegen treten zu müssen.

Doch zugleich – auf den „Entwicklungsroman“ wurde bereits verwiesen – ist TRANSIT auch ein vielschichtiges Nachdenken über die Situation des Menschen in einer aus den Fugen geratenen Welt. Was eigentlich ist denn der „Transit“? Sicher, es sind gewisse Visae, die den Antragstellern erlauben, gewisse Länder zu durchqueren auf dem Weg in ein Zielland, wo man Sicherheit zu finden hofft. Doch so, wie Seghers ihren Roman anlegt, wird das Leben selbst plötzlich zu einem „Transit“. Ein Übergang, prekär und undefiniert, eigentlich nur auf ein Ziel hin ausgelegt, um das zu kämpfen sich lohnt: Die Liebe. Scheint es. Daß der Erzähler schließlich seine Liebe ziehen lässt und sich entschließt, selber vor Ort den Kampf gegen den Feind aufzunehmen, sich einer Widerstandsgruppe anzuschließen – es ist die Kommunistin Seghers, die dies schreibt und damit natürlich auch das Subjekt feiert, daß sich schließlich in einem höheren Ziel, einer gemeinsamen Aufgabe, einem gemeinsamen Kampf erkennt und sich diesen verschreibt und bereit ist, dabei zu sterben. Daß es sich lohnt, diesen Weg einzuschlagen, daß man dabei eben alles gewinnen kann, das beweist die reine Erzählung, denn der Erzähler ist ja offenbar nicht gestorben, hat den Krieg überlebt und kann berichten. So wird die Entwicklung von einem jugendlichen Tagedieb zu einem sich politisch-historisch bewussten Antifaschisten eben selbst zu einem „Transit“, den ein Kommunist – für eine Kommunistin wie Seghers der einzige gangbare Weg – im Leben so oder so zu durchlaufen hat. Leben, der Transit zwischen Geburt und Tod, bedeutet eben, sich der vorgefundenen Bedingungen anzunehmen und für eine bessere, sprich: eine kommunistische, Welt zu kämpfen. Es bedeutet aber eben auch, für die Idee der Liebe zu kämpfen, die als Selbstzweck – dialektisch das Innen zum Außen einer kriegerischen, einer ideologischen, einer umkämpften Welt – in jedwede politische Situation hineinstrahlt, so, wie die politische Situation die Idee der Liebe deformiert und neu definiert.

Es sind dies nur einige Aspekte des Romans. Ihn zu lesen, gar zu untersuchen, fördert etliche andere, immer neue Aspekte zu Tage. Die Schlüsselpersonen, die durchaus auf reale Figuren zurückzuführen sind – Weidel, der wohl Ernst Weiß entspricht, sei hier stellvertretend genannt – , Situationen, die, genau beobachtet, wiedergeben und erklären, was die diversen Beglaubigungen und Stempel für ein Leben, in einem Leben, bedeuten konnten. Hinzu kommt diese brillante Konstruktion eines namenlosen Icherzählers, der somit für „alle“ stehen kann, der sich zwischen dem persönlichen Glück (der Liebe) und dem übergeordneten Kampf entscheiden muß und schließlich merkt, daß es überhaupt nur eine Entscheidung geben kann, will man je persönliches Glück erleben.

Nun kann man dem Roman wenig entnehmen über das Schicksal von Mittelmeerflüchtlingen. Die Heutigen wagen weitaus mehr, müssen mehr riskieren, weil es für sie nicht einmal Transit gibt. So weist Seghers´ Roman in dieser Hinsicht nicht über die Zeit hinweg in die Gegenwart. Doch er legt aufwühlend dar, was uns (erneut) blühen könnte, wenn es uns nicht gelingt, den in Europa um sich greifenden Rechtspopulismus einzufangen und in etwas Positiveres, eine bessere Kraft zu wandeln. Die, die vernichten wollen, die, die Gewalt als Mittel befürworten, die waren nie weg, sie waren nur lange leise, auch, weil Bücher wie Seghers´ Werke lange wie ein Gegengift gewirkt haben. Vielleicht wird es Zeit, TRANSIT wieder in der Schule zu lesen?

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