HOLLY
Der späte Stephen King läuft noch mal zur Höchstform auf
In einem Interview teilte der Autor Stephen King seinem Publikum vor nicht allzu langer Zeit mit, er habe sich in eine seiner Figuren verliebt. Holly Gibney – eigentlich eine Nebenfigur in Kings erstem offiziellen Kriminalroman MR. MERCEDES (2014), der zugleich der Auftakt der Bill-Hodges-Trilogie war – hatte mittlerweile Auftritte in verschiedenen Romanen und einer Novelle des Schriftstellers. Darunter natürlich die weiteren Hodges-Romane, aber auch in DER OUTSIDER (2018) spielt sie eine wesentliche Rolle, auch, wenn sie erst spät in die Handlung eingeführt wird. Nun also HOLLY (Original und Dt. 2023). Ein Roman, dessen Titel schon besagt, dass der Meister sich nun also vollkommen seiner nicht mehr ganz so frischen Liebe widmet und ihr ein eigenes Buch gönnt.
Man muss nun nicht mehr wiederholen, welche Verdienste sich der „Meister des Schreckens“ im Laufe seiner nunmehr fünfzigjährigen Karriere erworben hat. Er trägt den eben genannten Titel wohl zurecht. In über fünfzig Romanen und Novellen und in Hunderten von Kurzgeschichten hat er seine Leser das Gruseln gelehrt, manchmal mehr, manchmal weniger gelungen. Dabei hat er alle Sub-Genres des Horror-Metiers durchstreift, gleich ob Vampire, Werwölfe, böse Clowns, Geister, Ungeheuer – weltlichen oder außerweltlichen Ursprungs – oder Menschen mit außergewöhnlichen, meist psychischen, also telekinetischen oder telepathischen Fähigkeiten, er hat uns das Böse nähergebracht und uns im Glauben bestärkt, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als wir mit unseren Sinnen begreifen können. Nur selten verzichtete er dabei auf Übernatürliches. Dadurch wurden die Bösewichter und Antagonisten gelegentlich ungreifbar, umso grusliger, in späteren Werken allerdings dann weniger unheimlich, was vor allem daran liegen mag, dass der späte King milder gestimmt ist als jener Mann, der uns einst auf den FRIEDHOF DER KUSCHELTIERE (1983) führte und, seien wir ehrlich, dort sitzen ließ. Wo wir immer noch festsitzen.
Viele dieser späten Antagonisten macht der Autor schon früh lächerlich, stellt zumindest ihre Motivation als etwas bloß, das es nicht wirklich ernst zu nehmen gilt. Und da er sich seit geraumer Zeit mit sich selbst darauf geeinigt zu haben scheint, seine Geschichten nicht in Blut und Chaos enden zu lassen, sondern ihnen meist Happyends zugestehT, verlieren die späten King-Werke, bis auf sehr wenige Ausnahmen, etwas an Reiz und Spannung. Gut geschrieben sind sie nach wie vor. Und nach wie vor ist King ein brillanter Beobachter der amerikanischen Wirklichkeit. Er erfasst einerseits sehr genau all die Trivia, die sie ausmacht – sowohl die Populärkultur aus Radio, Fernsehen, Musik, neuerdings natürlich den sozialen Medien – aber auch klassisches Americana (ein Genre, welches er, wenn man so will, maßgeblich mitgeprägt hat): Diner und Tankstellen, die alten Autokinos der 50er und 60er Jahre, die heute oftmals verloren und verlassen an den Ausfallstraßen liegen, die Peripherien, wo die Industrie und oftmals auch die Wohngebiete derer angesiedelt sind, die es im Leben nicht so gut getroffen haben. Für all dies und noch viel mehr hat King einen sehr wachen Blick.
So auch hier. Holly kommt – wie die ganze Welt in HOLLY – gerade aus der Pandemie. Da die junge Dame mit psychischen Störungen kämpft und, wie wir wissen, sich mittlerweile zwar besser in sozialen Kontexten bewegen kann, nach wie vor aber so ihre Probleme mit ihren Mitmenschen hat und nur sehr wenige wirklich an sich heranlässt, können wir erahnen, dass sie einerseits wohl besser als so mancher durch die Jahre von Covid-19 gekommen ist, andererseits aber auch stark unter dieser unsichtbaren Bedrohung gelitten haben wird. Zudem ist ihre Mutter in dieser Zeit gestorben und selbst Holly wirft das ein wenig aus der Bahn, auch wenn sie zu der Dame nie ein sonderlich enges Verhältnis hatte. Obwohl sie eigentlich noch eine Pause machen wollte, hat sie ihre Detektei Finders Keepers inoffiziell wieder eröffnet und übernimmt die Suche nach einer jungen Frau, die wie von der Erdoberfläche verschwunden scheint. Holly gräbt tief und stößt auf verstörende Tatsachen. So findet sie heraus, dass es in den vergangenen Jahren in immer kürzeren Intervallen Fälle Vermisster gab, die alle in einem engen Umkreis verschwanden. Die Suche führt Holly schließlich in die Universitätskreise der Stadt und dort zu dem Ehepaar Rodney und Emily Harris. Er Biologe, sie Literaturwissenschaftlerin, arbeiten die beiden an einem wahrlich monströsen Projekt – sie glauben ihr Leben verlängern, vor allem aber ihre altersbedingten Schmerzen durch den Genuss von Menschenfleisch lindern zu können.
Wenn wir also ehrlich sind und uns fragen, wann King das letzte Mal einen wirklich unheimlichen Antagonisten erschaffen hat, dann stellen wir fest, dass dieser weiblich war und auf den Namen Annie Wilkes hörte. Richtig – es war die Dame aus seinem Roman SIE (1987) und man traute ihr nahezu alles zu – und zwar wortwörtlich bis zur letzten Seite. Vor allem aber war die Bedrohung in jenem Roman nicht übernatürlich, sondern ausschließlich Annies Wahn entsprungen und damit umso bedrohlicher. Annie war das, was man wohl als Hardcore-Fan beschreiben muss. Und als sie das Objekt ihrer Begierde – den Schriftsteller Paul Sheldon (eine Figur, die man in ihren inneren Kämpfen, ob sie als „ernstzunehmender“ Autor gelten kann oder lediglich Trivialliteratur schreibt, durchaus als Alter Ego des Autors Stephen King begreifen durfte) – durch einen Zufall in ihre Fänge bekommt und begreift, dass der im Begriff ist, ihre Lieblingsfigur Misery (so auch der Originaltitel des Romans) sterben zu lassen, um sich von ihr zu befreien, nimmt sie ihn als Geisel, hält ihn in ihrem Haus gefangen und zwingt ihn, ihr ihr höchsteigenes Buch mit eben dieser Figur zu schreiben.
Das Ehepaar Harris´ unterliegt einem ähnlichen Wahn. Nur geht es in ihrem Fall nicht darum, den Geist des Opfers zu okkupieren, sondern den Leib. Auch sie entführen Menschen, von deren Körpern sie die entsprechenden Teile verspeisen wollen, weil sie glauben, deren Verzehr könnten ihnen helfen. Sie verleiben sich aber vor allem Menschen ein, von denen sie glauben, dass sie in der sozialen Nahrungskette unter ihnen stünden und also weniger wert seien. Somit stellen sie das idealtypische Klischee des Bildungsbürgers dar, der sich liberal – woke, wie man heutzutage sagt – gibt und zugleich ununterbrochen damit beschäftigt ist, die eigenen Ressentiments zu unterdrücken und wenn, dann nur heimlich zu bedienen. Dies schildert King vor allem in Emilys Fall anhand oft kursiv (ein altes King´sches Stilmittel) oder in Klammern (ebenfalls ein altes stilistisches Mittel in seinen Romanen und Geschichten) eingeschobener Gedanken hinsichtlich Schwarzer oder auch jüdischer Mitbürger etc. Zudem hegt sie heimlich Sympathien für Trump, zumindest für dessen Anhänger. Rodney hingegen – er war an der Uni öffenbar ein Außenseiter, der sehr eigene, eher ungewöhnliche Thesen und Theorien vertrat (darunter eben die der kannibalistischen Verjüngungskuren) – ist derart von der eigenen Großartigkeit überzeugt, dass es ihn eigentlich nicht anficht, wen es zu verachten gilt, der Mensch als solcher – von Emily einmal abgesehen – steht so oder so meilenweit unter ihm und ist ihm somit eher Anschauungsmaterial denn gleichberechtigter Mitbürger.
King nutzt seit geraumer Zeit seine Romane, um deutliche, manchmal auch etwas platte Statements zur amerikanischen Gesellschaft und Politik der Gegenwart abzuliefern. Das trifft vor allem Trump und dessen Anhänger, die der Liberale King selbstredend verabscheut. Hier, in HOLLY, sind es aber auch gleich die Impfgegner und alle, die die Solidargemeinschaft während der Pandemie in Frage stellten. Das mag den ebenfalls liberal gestimmten Leser*innen seiner Werke ja in die Karten spielen und gefallen, es wirkt aber auch aufgesetzt pädagogisch und somit etwas herablassend. Versöhnlich gestimmt lässt King dann aber immerhin an einer entscheidenden Stelle des Romans einen Impfgegner auftreten, der ansonsten vernünftig erscheint und Holly sogar hilft.
Im Ehepaar Harris portraitiert King allerdings einen bestimmten Typus, den seine Leser*innen kennen dürften. Eben dieses bildungsbeflissene Bürgertum, das sich für etwas Besseres hält – entweder aufgrund wirklich erbrachter Leistung (Doktorgrade etc.), zumeist aber aufgrund sehr viel diffuserer Annahmen, deren das Geburtsrecht, ergo die Familie, der man entstammt, die weit verbreitetste sein dürfte. Allerdings muss man King zugestehen, dass ihm mit diesen beiden – auch und gerade, weil sie eben nichts Übernatürliches an sich haben und den Schrecken, der von ihnen ausgeht, aus sich heraus gebären – seit längerem mal wieder wirklich beängstigende Bösewichter gelungen sind. Ihre vordergründige Freundlichkeit – Emily vermittelt Hollys Freundin Barbara an eine Kollegin an der Universität, da Barbara sich für Lyrik interessiert und die Kollegin eine berühmte Dichterin ist – kontrastiert eben aufs Schauerlichste mit ihren heimlichen Gedanken und King lässt uns natürlich auch ausgiebig an den fakultätsinternen Neid- und Eifersuchtsdebatten teilhaben. Sichtlich Spaß hat er daran, all diese Intellektuellen und ach so Gebildeten bloßzustellen als das, was sie natürlich auch sind – Menschen mit allzu menschlichen Anwandlungen, Gefühlen und Gedanken. Oft eben auch bösen Gedanken.
Dass King im Roman relativ schnell die Geheimnisse um das Ehepaar Harris preisgibt und uns in deren Keller führt, wo der Schrecken herrscht, gibt ihm allerdings die Möglichkeit, die beiden als durchaus traurige Figuren vorzuführen. Auch das, wie bereits gesagt, typisch für den späten King: Seine Bösewichter behandelt er oft mit einer gewissen Ironie, die sie weniger grausig erscheinen lässt (obwohl Holly im Text viel und gern auf ihre jüngeren Abenteuer verweist, die ihr nach wie vor schlaflose Nächte und böse Träume bescheren). So auch die Harris.
Allerdings ist es hier insofern anders, weil King diese Ironie – so beschreibt er, der nun ja auch schon in den höheren 70ern angelangt ist, die Fährnisse des Alters und der beginnenden Gebrechlichkeit recht eindrucksvoll und auch nachvollziehbar so, dass man versteht, wieso Menschen wie die Harris, die ihr Leben lang „im Saft standen“, wie man so schön sagt, die sich für wichtig und unabkömmlich halten, zu äußersten Maßnahmen greifen, um sich noch ein wenig Leben abzuknapsen – auch nutzt, um vor dem Hintergrund von rheumatischen und arthritischen Schmerzen und dem, was sie aus den Gepeinigten machen, die grausigen Praktiken der beiden als ebenso zwangsläufig in ihrem Wahn, wie eben auch unnütz in einem objektiven Sinne zu schildern. All die Menschen, die ihr Leben im Keller der Harris lassen mussten, haben dies mit hoher Wahrscheinlichkeit völlig umsonst getan. Denn, so stellt es der Roman zumindest immer wieder dar, ob Rodneys Ansichten und Thesen auch nur einen Funken Wahrheit in sich bergen, ist doch höchst unwahrscheinlich. Und somit entspringt nicht nur die Idee, durch Menschenfleisch das eigene, altersbedingte Leiden abmildern zu können dem Wahn dieser Intellektuellen, sondern auch der sich einstellende Effekt dürfte eher eingebildet sein. Das ist dann der Moment der Erkenntnis, der den Leser wirklich schaudern lässt.
HOLLY ist auch deshalb Kings bester Roman seit langem, weil es ihm gelingt, auf der Seite der Antagonisten die Leser*innen in ein Dilemma zu stürzen. Denn er macht es sich und uns nicht leicht, wenn er mit den Harris ein Pärchen einführt, die in Vielem dem entsprechen, was wir kennen: Scheinbar liberale, gebildete Professoren (Lehrer kann man hier ebenso anführen), zu denen wir aufschauen und denen wir vertrauen. So wie Barbara es tut, die diesen Fehler bald bitterlich bereuen wird. Der Schrecken ist da, aber kommt eher schleichend um die Ecke, oder besser aus dem Keller, und packt uns nach und nach. Denn einmal mehr begreifen wir, dass das Vertraute, aus dem King immer schon das Fürchterliche generiert hat, einmal mehr nicht so ist, wie es scheint. Das ist gelungen.
Hollys höchsteigene Geschichte hingegen ist eher melo-dramatisch und mit viel Verständnis, ja Mitgefühl für ihre Gefühlswelt, ihre Ängste und Befürchtungen beschrieben. Der Verlust der Mutter und die zwiespältigen Gefühle, die ureigenen Ängste, die Holly so lange begleiten, wie wir sie kennen, ihre Sorge um ihre wenigen Freunde – es sind eben all jene Versatzstücke, die wir bereits kennen. So ganz verstehen, weshalb King sich nun ausgerechnet in diese Figur so verliebt hat, kann auch der geneigte Leser nicht. Aber gut, sei´s drum, es ist sein gutes Recht als Autor. Definitiv ist HOLLY ein gelungener Roman des späten Stephen King und kann somit allen Aficionados und auch denen, die ihn nur gelegentlich lesen, empfohlen werden.