JEAN-LUC GODARD. DER PERMANENTE REVOLUTIONÄR

Eine sehr gelungene Einführung und Auseinandersetzung mit dem Werk des Star-Regisseurs der Nouvelle Vague

Man mag es heute vielleicht kaum glauben, aber es gab einmal eine Zeit, in welcher Filme als Kunst betrachtet wurde, in der sie „anstrengend“ und „anspruchsvoll“ sein durften und ein Publikum geradezu auf den neuen Truffaut, den neuen Antonioni oder den neuen Godard wartete und sobald die Meister einen Film in die Kinos brachten, Schlange stand. Lange her. Es waren die 1950er und 60er Jahre und das Kino in Europa machte sich auf, reelle Gegenentwürfe zum gängigen Hollywoodkino zu liefern.

Es hatte mit dem Neorealismus in Italien begonnen, als bereits im Krieg Filme wie OSSESSIONE (BESESSENHEIT – 1943) von Luchino Visconti, Roberto Rossellinis ROMA, CITTÀ APERTA (ROM – OFFENE STADT – 1945) oder PAISÀ (1946) – ebenfalls von Rossellini realisiert – entstanden und das Ende des Krieges dokumentierten und einen realistischen Blick auf das Leben der Menschen warf. Dies setzte sich zu Beginn der 50er Jahre mit Filmen wie Vittorio De Sicas LADRI DI BICICLETTE (FAHRRADDIEBE – 1948) fort und schuf vollkommen neue Möglichkeiten filmischer Herangehens- und Darstellungsweise an die Welt. In Frankreich wurden die Entwicklungen aufmerksam verfolgt und führten unter den jungen Autoren und Filmkritikern der intellektuellen Filmzeitschriften zu dem Wunsch, eigene cineastische Ideen umzusetzen.

Mit den Cahiers du cinéma hatte sich seit 1951 eine Zeitschrift etabliert, die unter der Leitung von André Bazin zu einem Sammelbecken für die jungen Wilden wurde. Unter den Autoren fanden sich Namen wie François Truffaut, Claude Chabrol, Éric Rohmer, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard. Sie alle standen in einem Spannungsverhältnis zwischen der Liebe zum amerikanischen Genre-Kino und dem Bewußtsein, eine eigene filmische Identität in Europa ausprägen zu müssen – oder zu wollen. So waren sie u.a. maßgeblich daran beteiligt, einen gewissen Stil der Nachkriegskriminalfilme Hollywoods zu definieren und gaben ihm den Namen „Film Noir“. Damit drang eine intellektuelle Sichtweise auch auf anscheinend reines Unterhaltungskino zurück in die Traumfabrik.

Der Kino-Kenner weiß natürlich, daß alle der Genannten später selbst in den Regiestuhl wechselten und damit eine Bewegung begründeten, die sich Nouvelle Vague nannte und für die kommenden zwei Dekaden das europäische Kino maßgeblich prägen sollte. Es waren vor allem François Truffaut, Claude Chabrol und Jacques Rivette, die als erste eigene Filmprojekte realisieren konnten. 1960 stieß dann Jean-Luc Godard zu ihnen und schuf mit Á BOUTE DE SOUFFLE (AUSSER ATEM – 1960) nicht nur den Film, der für immer definieren sollte, was die Nouvelle Vague im Kern war, sondern auch ein Werk, das nachhaltig, im Grunde bis heute, die Filmsprache veränderte. Vielleicht einer der wichtigsten und wesentlichsten Filme des 20. Jahrhunderts.

Ab diesem Zeitpunkt war der Regisseur Godard eine Art Superstar des intellektuellen europäischen Kinos und seine Werkgeschichte sollte diesen Status Mal um Mal bestätigen. In den 60ern drehte er eine Reihe von Filmen, die sowohl die Kritik begeisterten, als auch Publikumserfolge wurden: LE MÉPRIS (DIE VERACHTUNG – 1963), ALPHAVILLE, UNE ÉTRANGE AVENTURE DE LEMMY CAUTION (LEMMY CAUTION GEGEN ALPHA 60 – 1965) und PIERROT LE FOU (ELF UHR NACHTS – 1965) dürften die auch heute noch bekanntesten darunter sein. Vor allem LE MÉPRIS zeigt schon deutlich, in welche Richtung sich Godard entwickeln würde, bzw. bereits entwickelt hatte. Denn es ist ein Film über den Film, ein selbstreferentielles System, in dem immer wieder die berühmte „vierte Wand“, also jene imaginäre Mauer, die die Kamera zu einem unsichtbaren Beobachter machte, durchbrochen wurde und die Filmrealität sich mit der Realität hinter der Kamera kreuzte.

Godard begann, was auch seine weniger bekannten Filme wie LE PETIT SOLDAT (DER KLEINE SOLDAT – 1960) oder BANDE À PART (DIE AUSSENSEITERBANDE – 1964) schon deutlich vorführten, in Bildern zu denken und das Verhältnis von Bild und Abgebildetem, von Repräsentanz und Repräsentiertem, von Signifikant und Signifikat auszuloten. Damit bewegte er sich auf der Höhe seiner Zeit, denn genau diese Fragen wurden gerade in der französischen Philosophie immer wesentlicher. Ob Roland Barthes, Michel Foucault oder Jacques Derrida, ob Gilles Deleuze oder der Italiener Umberto Eco – die Frage nach dem Zeichen, dem Symbol, der Form und Oberfläche, der reinen Erscheinung, wurde im Vergleich zu den Inhalten eines Textes (oder Films, was in der strukturalistischen und poststrukturalistischen Philosophie keinen wirklichen Unterschied mehr darstellte) immer wichtiger. Zugleich wurde Godard im Laufe der 60er Jahre immer politischer, er verortete sich immer weiter links, bis hinein in jene maoistischen Kleinkader, die aus der 68er-Bewegung hervorgingen.

1967 erschien mit WEEK END (WEEKEND – 1967) ein Film zur Stunde. Ein junges Paar, das sich außerehelichen Freuden hingibt, fährt gemeinsam in die Provinz, um beim Familienerbe nicht zu kurz zu kommen. Die Reise wird zu einem Trip an den Rand der Gesellschaft und darüber hinaus, bis das Paar schließlich im neuen Barbarismus angekommen ist. WEEK END war ein Film, der programmatisch gewisse gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen aufnahm, zugleich aber auch andeutete, daß der Regisseur sich nun in eine Phase höchster Experimentierfreude verabschieden würde. Und so verschwand er in den 70ern von der Bildfläche. Er hatte sich aus Paris zurückgezogen, versuchte sich an dem damals neuen Format der Videotechnik, drehte Filme, auch fürs Fernsehen, in denen er zu immer didaktischeren Konzepten griff, um sowohl seine eigene – eher wilde, unkoordinierte – Philosophie zu vertreten, zugleich aber auch seine ideologischen Anliegen zu verbreiten.

Erst 1980 kehrte er mit SAUVE QUI PEUT (LA VIE) (RETTE SICH WER KANN [DAS LEBEN] – 1980) auf die Leinwand zurück und wurde wie ein verlorener Sohn erwartet und empfangen. Die 80er brachten dann noch einige Werke hervor, die auch ein breiteres Publikum ansprachen, doch Godards Weg führte in immer erratischere, immer mehr der Zeichenwelt verhaftete Gefilde, in die zu folgen nahezu Exegese bedeutete. Mittlerweile 90 Jahre alt, dreht er weiter, untersucht filmische Mittel als wissenschaftliche Mittel und als System, die Realität zu durchleuchten und zugleich anhand des unendlichen filmischen Materials, das die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat, eine Realität aus Bildern abzubilden und zu dekonstruieren.

Ist Jean-Luc Godard also noch relevant? Zumindest filmhistorisch ist seine Stellung nicht zu unterschätzen. Umso schöner, wenn mit Bert Rebhandls Buch JEAN-LUC GODARD. DER PERMANENTE REVOLUTIONÄR (erschienen 2020) ein deutschsprachiges Werk vorliegt, das sich mit dem Filmemacher, seiner Wirkung und seiner Bedeutung auseinandersetzt. Rebhandl setzt sich sehr konkret von den bisherigen drei „großen“ Godard-Biographien ab und rekurriert auf den Film JLG/JLG (1994), welcher autobiographische Züge trägt. Godard, so Rebhandls These, ist nur in und durch sein Werk erkennbar und erfassbar. Sein Leben selbst ist zwar darin auch immer präsent, verschwindet aber nahezu gänzlich dahinter. Dennoch sind auch diese recht schmalen 286 Seiten voller Anmerkungen und Hinweise auf den privaten Godard, insofern diese Daten wesentlich sind zur Erfassung des Werkes.

Rebhandl unterteilt sein Buch in sieben Kapitel, die verschiedene Phasen im Schaffen Godards umfassen. Von den „modernen Zeiten“, also jenen Jahren, da Godard bei den Cahiers als Kritiker arbeitete, über die „Pop Art“ und Godard als eindeutigen Vertreter der Nouvelle Vague, das „Revolutionskino“ der politisch extremen Phase zwischen 1967 bis ca. 1973, die Jahre als Videopionier, die Wiederkehr in den 80er Jahren als „Idiot des Kinos“ und schließlich den „Partisan der Bilder“, der Godard in Rebhandls Augen vor allem in den späteren Jahren wurde, als er an seiner HISTOIRE(S) DU CINÉMA (1998) arbeitete und das Konzept einer alternativen Geschichtsschreibung in Bildern immer stärker in den Mittelpunkt seiner Arbeiten trat. Abgeschlossen wird das Buch durch ein Kapitel über die „fröhliche WIssenschaft“. Hier wird noch ein letztes Mal deutlich, wie Godard Bilder und das Kino begreift und daß er – gerade in Zeiten allergrößter Kommerzialisierung – vom Kino ein Mehr verlangt. Ein Mehr an Anstrengung und Willen, seine Möglichkeiten, auch mit neuen Techniken und Mitteln, auszunutzen und seine Macht, die tatsächliche Macht der Bilder, auszuspielen.

So entsteht vor allem eine gut ausgeleuchtete Werkgeschichte, die dem Leser die manchmal schwer zugänglichen Filme des Meisters nahebringen. Interessanter – und dankenswerter – Weise, konzentriert sich Rebhandl vor allem auch auf das Spätwerk, das immer verklausulierter, immer unzugänglicher wurde und im Grunde nur zu entschlüsseln ist, wenn man sich sowohl in Godards Werk, als auch in seiner Gedankenwelt auskennt. Doch auch die Klassiker lässt der Autor noch einmal Revue passieren und fasst die wesentlichen Merkmale zusammen. So entsteht ein vor allem gut lesbarer Überblick.

Man muß Rebhandl aber auch zugutehalten, daß er sich nicht vor jenen Auseinandersetzungen scheut, die auch Godard immer begleitet haben. Da sind einmal sein ausgeprägter Hang zu sehr jungen Frauen, die er in seinen Filmen auch inszenierte – angefangen bei Jean Sebergs Auftritt in À BOUTE DE SOUFFLE, vor allem aber auch seine Liaison und Ehe mit Anna Karina, seine oft arrogante und anderen gegenüber abwertende Art, die u.a. auch zum Bruch mit seinem einstigen Wegefährten und Freund François Truffaut führte und – leider muß man es so deutlich sagen – seinen immer wieder aufblitzenden antisemitischen Einstellungen, die sich vor allem aus seiner Auseinandersetzung mit Israel und den Palästinensern ergab. Rebhandl behandelt diesen letzten Punkt sehr vorsichtig, setzt sich vor allem auch mit Richard Brodys Biographie Godards auseinander, da dieser dem Regisseur Antisemitismus geradezu notorisch nachzuweisen versucht. Rebhandl bleibt zurückhaltend, entkräftet einige von Brodys Vorwürfen, verdeutlicht aber auch, daß Godard in seinen politischen Äußerungen nicht immer ein sonderlich glückliches Bild abgegeben hat.

Rebhandl ist sicher nicht nur eine gute Ergänzung zu Godard und jenen Texten gelungen, die bereits über ihn geschrieben wurden, sondern man kann sein Buch auch hervorragend als Einführung in das Werk des Regisseurs lesen. Es sind ihm viele Leser zu wünschen, so, wie man sich als Kinoliebhaber nur wünschen kann, es wären wieder mehr Menschen bereit, sich diesem Kino zu stellen, die alten und auch die jüngeren Werke Godards zu schauen und sich noch einmal einem Kino zu widmen, daß als Kunst begriffen wurde und als Kunst begriffen werden wollte. Ein Kino, das seine Herkunft und Geschichte nicht verleugnet und doch immer daran interessiert ist (und war?), sich fortzuentwickeln, sich zu reflektieren, seine Bilder und Aussagen, seinen Stellenwert und die Welt, Gesellschaft, die Realität, in die es eindringt, die es spiegelt und die es massiv beeinflusst. Will man wirklich etwas über die Macht der Bilder und ihre Wirkung begreifen, wird man an Jean-Luc Godard so oder so nicht vorbeikommen.

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