MEINE REISE MIT CHARLEY/TRAVELS WITH CHARLEY: IN SEARCH FOR AMERICA
Ein manchmal naives, manchmal scharfsichtiges und immer wunderbares Stück Reiseliteratur
Nachdem er im Jahr 1958 einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, beschloß der wiedergenesene, damals 58jährige John Steinbeck im Jahr 1960, sich auf die Straße und – gemeinsam mit seinem Gefährten, dem Pudel Charley – auf die „Suche nach Amerika“, wie es im Untertitel des Werkes heißt, zu begeben. Er ließ sich einen Campwagen bauen, der, betrachtet man die zugänglichen Bilder, heutigen Wohnmobilen („mobile homes“) erstaunlich ähnelt. Nach einer Verzögerung durch einen Orkan, macht sich der Autor schließlich Ende September 1960 auf, in einer weiten Bewegung praktisch die Grenzen des Landes abzufahren. Hinauf nach Maine, dann gen Westen Richtung Chicago, wo er eine Pause einlegte und seine Frau traf, aus der ‚Windy City‘ in den Mittleren Westen, dann durch die Great Plains bis an die kanadische Grenze in Montana, durch Idaho nach Seattle, Washington St. und schließlich runter ins kalifornische Salinas, Steinbecks Heimatort. Von dort schwingt er sich noch einmal auf und durchmisst die Weiten des Südwestens, durchquert das ihm bis dato weitestgehend unbekannte Texas und dringt dann in den tiefen Süden vor, den er ebenfalls kaum kennt. Danach rast er heim, fast wie auf der Flucht, doch nicht, ohne uns mitgeteilt zu haben, daß die Reise in gewisser Weise schon an der Westküste an ihr natürliches Ende gekommen war. Was der aufmerksame Leser allerdings durchaus schon gespürt hatte.
John Steinbeck hat sich zeit seines schriftstellerischen Lebens mit seinem Land und dessen Menschen auseinander gesetzt, hat vor allem in seinen früheren Werken – IN DUBIOUS BATTLE (STÜRMISCHE ERNTE/1936), THE GRAPES OF WRATH (DIE FRÜCHTE DES ZORNS/1939) oder CANNERY ROW (DIE STRASSE DER ÖLSARDINEN/1945) – vom Leben der einfachen Menschen, was in den 30er Jahren v.a. die Armen meinte, erzählt, hat die Bedingungen ihres Daseins ausgeleuchtet, aber auch immer mit viel Wärme und Zuneigung ihre Stärken und Schwächen, Freuden und Ängste beschrieben. Er berichtete, auch journalistisch, von den fürchterlichen Bedingungen der Landarbeiter während der ‚großen Depression‘ der 30er Jahre, erzählte von Streiks und Streikbrechern, von der Rechtlosigkeit und Verzweiflung, in welche Armut Menschen stürzen kann und hat dabei eindeutig Partei ergriffen. Galt er Konservativen lange als Linker, gar Radikaler, stand er bei Liberalen bis in die 60er Jahre hinein als moralische Instanz im Wort.
Nun also wollte er noch einmal dieses Land be- und erfahren und herausfinden, wie es tickte, wie seine Bewohner funktionierten, welche Ansichten, Meinungen, Träume und Wünsche sie hatten. Wollte wohl auch herausfinden, wohin das Land steuerte. Die Präsidentschaftswahlen standen an und mit der Nominierung Richard Nixons und John F. Kennedys als jeweilige Kandidaten ihrer Parteien, hatten die Wähler die Möglichkeit einer wirklichen Richtungsentscheidung. Es sind also neben teils atemberaubenden Naturbeschreibungen, die Steinbeck gelingen, die Begegnungen mit seinen Landsleuten, die das Buch im Kern ausmachen. Und natürlich die Reflektionen des Autors auf all die Erlebnisse und Abenteuer seiner Reise. Im Ton oft trocken geschrieben, voller Staunen ob der Schönheiten des Landes und voll eines durchaus freundlichen, niemals bösartigen Humors, der Distanz zu den ihn auch mal verstörenden Ereignissen schafft, meint man manches Mal ein verwundertes Kopfschütteln mitlesen zu können. Allerdings kippt dies in den letzten Kapiteln, die sich mit einigen damals aktuellen Vorgängen in New Orleans befassen. Die Bürgerrechtsbewegung befand sich seit einigen Jahren im Aufbau, in der Stadt des Dixie wurde Steinbeck (gewollt) Zeuge reaktionärer Anfeindungen einem kleinen schwarzen Mädchen gegenüber, welches mit Polizeischutz in eine der ersten „gemischtrassigen“ Schulen gebracht wurde. So warmherzig sein Ton im ersten Teil ist, so belustigt er teils auf die Marotten seiner Mit-Amerikaner blickt, so stark ist seine Empörung ob der Widerlichkeit, die er dort beobachtet. Es ist das Sichtbarwerden eines Bruchs, der das Buch ab dem neuerlichen Aufbruch an der Westküste, zurück gen Osten, durchzieht. Es wirkt fast so, wie der Übersetzer Burkhart Kroeber in einem sehr lesenswerten Nachwort verdeutlicht, als wäre die Reise zurück eher eine Pflichtaufgabe, um das Projekt zu einem Abschluß zu bringen. Und richtig ist, daß Steinbeck die zweite Hälfte des Trips deutlich schneller, punktueller, gehetzter zu Papier gebracht zu haben scheint. Die Ereignisse in New Orleans stehen dann exemplarisch für eine Erkenntnis, die explizit nie genannt wird, die implizit jedoch stark hervortritt: Man kann innerhalb des Landes den drängenden Problemen aus dem Weg gehen, wenn man wohlhabend in Long Island residiert; lebt man mittellos im Süden, vor allem als Schwarzer oder dunkelhäutiger Mensch generell, steht man vor so ziemlich genau den Problemen, wie 25 Jahre zuvor die ‚Okies‘, die Wanderarbeiter aus Oklahoma, die vor der Versandung des Staates nach Westen flohen. Ernüchterung macht sich breit in Steinbecks Text und er reflektiert das durchaus, wenn er sich Gedanken über den Zusammenhang von „Klasse“ und „Rasse“ macht.
Es sind allerdings auch einige dieser Reflektionen, die den Leser heute manchmal schmunzeln lassen. Natürlich nicht die eben beschriebenen, doch stehen diese eben auch in einem harten Kontrast zu den oft liebvollen Beschreibungen und Gedanken zu den Entwicklungen des Landes und der Menschen, die der Reisende unterwegs beobachtet hat. Mal schmunzelt man ob der Naivität, die natürlich nur wir Nachgeborenen begreifen können, dann wieder hebt man erstaunt die AUgenbrauen ob der Scharfsichtigkeit des Autors. Daß Steinbeck ein früher Vertreter ökologischen Denkens war, ist bekannt, wenn man aber aus heutiger Sicht, diverse ökowissenschaftlicher Quantensprünge später, seine gleichzeitige Begeisterung für solche Wucherungen der Moderne wie Wegwerfpfannen aus Aluminium liest, bleibt eine gewisse Belustigung nicht aus. Doch erinnert man sich dann an die Zeit – 1960 – begreift man, daß hier ein wacher Geist, der die Entwicklung des Landes immer genau beobachtet und feinste Nuancen registriert hatte, eben erneut seine Fühler ausgestreckt hatte. So vieles war damals nagelneu. Das Auto wurde immer stärker zum bevorzugten Verkehrsmittel, die Straßen waren ausgebaut worden, entlang der High- und Freeways hatte sich eine ganze Industrie angesiedelt, die heute vollkommen selbstverständlich ist. Steinbeck sieht all das mit einer gewissen wohlwollenden Distanz, kann der Entwicklung jedoch auch meist etwas abgewinnen.
Anfangs berichtet er von Begegnungen mit Fernfahrern und Tankstellenbesitzern, vom Austausch über das Wetter oder die Jagd, er berichtet von den verschiedenen Idiomen und was es bedeutet in einem Land solcher Größe dennoch durch gewisse einheitliche Symbole, Icons, auch das immer wieder gleiche zu finden – Einkaufszentren, Coffee Shops, Fast-Food-Ketten – und darin Geborgenheit zu entdecken, wenn man sich – auch mit einem Schneckenhaus auf dem Rücken – gegenüber der schieren Weite des Landes oft unbehaust fühlt. Doch Steinbeck reflektiert auch durchaus eine gewisse Lethargie, vielleicht auch Ängstlichkeit, die über dem Land liegt. Die 50er Jahre, eine Zeit großer Prosperität, gehen zu Ende und obwohl der Wohlstand weiterhin zu wachsen scheint, wächst auch ein unbestimmtes Gefühl dafür, daß etwas nicht stimmt innerhalb der Gesellschaft. Ein Unbehagen. Mit zunehmender Reisedauer berichtet Steinbeck häufiger über ein Meinungslosigkeit, die er festzustellen meint. Die Menschen seien früher meinungsstärker gewesen, hätten klarere Vorstellungen davon gehabt, was sie wollten, was ihnen zustand und wie sie es erringen konnten. Wenn er dann am Ende seiner Reise erst bei Freunden in Texas mit der Dekadenz gelangweilter Neureicher, an deren Luxusorgien er dennoch gern teilnimmt, konfrontiert wird und dann in Louisiana mit dem bereits geschilderten Rassismus, dann drückt er – möglicherweise vollkommen unbewusst – etwas aus, eine unterschwellige Bewegung, etwas, das wuchs, aus Hilf- und Ratlosigkeit und Wut erwuchs, und die kommende Dekade zur wesentlichen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden ließ. Man merkt seinem Text die daraus entstehende Verwirrung an und versteht sein Fliehen in die Möglichkeit der Heimat. Eines Zuhauses. Es mag sein, daß er auch gespürt hat, daß die Probleme, die nun anstanden, anders gelagert waren, als jene Probleme, mit denen er sich lange beschäftigt hatte. Ein wenig spürt man das Zurückweichen des Älteren vor Entwicklungen, die er nicht direkt versteht. Oder für obsolet hält. Sein Glaube an die Gleichheit aller Menschen aller Rassen oder Religionen, was er durchaus als patriotischen Glauben betrachtet, ist SEIN Amerika doch eines, das sie aufnimmt, die Armen und Hungernden, dieser Glaube ist für ihn so stark, daß Rassismus als virulentes Problem eines großen Teils der Gesellschaft für ihn einfach unfassbar gewesen sein musste. Umso schmerzhafter die Erfahrung, daß es weiße, wohlhabende Frauen seiner eigenen Klasse sein können, die sich nicht entblöden, ein sechsjähriges Kind zu beschimpfen. Die Versuche Steinbecks, dies psychologisch zu erklären (Angst) muten da fast schon resignierend an.
Ob Steinbeck heute noch relevant ist, ob sein Schreiben wirklich die Qualität aufweist, die ihm 1962 den Nobelpreis für Literatur einbrachte, sei einmal dahin gestellt; ganz sicher aber kann man seinen Werken Wesentliches zur jüngeren amerikanischen Geschichte entnehmen. Es sind Zeitgemälde ebenso wie engagierte Portraits einer Gesellschaft und der Individuen in ihr, die von viel Zuneigung zum Menschen in seinem ureigenen Menschsein geprägt sind. Erzählt in einer gradlinigen Sprache, voll trockenem Humors, manchmal oberflächlich-naiver Betrachtungen dieses ihm so nah-fernen Landes und durchaus tiefsinniger Gedanken zum Wesen dieser Gesellschaft, oder der Gesellschaften, die die amerikanische Nation, die U.S.A., bilden, gehört TRAVELS WITH CHARLEY sicher zu den besten Texten des späten Steinbeck, in dem sich seine Sensibilität für die Nuancen und Schichtungen Amerikas, der amerikanischen Gesellschaft noch einmal voll entfaltet.
Doch ist dies auch – wenn man einmal von den zeithistorischen und sozialen Komponenten absehen will – einfach ein wunderbarer Reisebericht von einem alternden Mann und seinem Hund. Die Zuneigung, die aus den Beschreibungen von Charleys Eigenarten und seinem Verhalten spricht, ist ein wunderbarer Kontrapunkt zu den Beobachtungen menschlicher Eigenarten und menschlichen Verhaltens. Und zu all dem kommt hinzu, daß Steinbeck den Leser einfach daran teilhaben lässt, wie es ist, dieses gewaltige Land auf den genannten Routen (und sicher nicht nur auf denen) zu durchfahren. Wer es einmal erlebt hat, Stunde um Stunde durch eine Landschaft zu fahren, die scheinbar immer gleich an einem vorbei, dieses Band Asphalt, das schnurgerade unter einem entlang zieht, wer die Trance kennt, das meditative Gefühl, das dadurch hervorgerufen werden kann, wer weiß, wie das Individuum empfindet, wenn es drei Tage auf eine Bergkette zufährt und diese nie näher zu kommen scheint, das Empfinden von Kleinheit in einem alles überwölbenden Universum, wenn man am Straßenrand anhält und den Blick unbegrenzt 360 Grad wandern lassen kann, der weiß, daß Amerika, die U.S.A., zu durchfahren nicht einfach eine Reise, ein Roadtrip ist, sondern ein Geisteshaltung, ein Zustand. Und diese Er-Fahrung vermittelt Steinbecks Text ganz hervorragend!
So sei das Buch nicht nur jenen empfohlen, die sich für den Autor oder zeitgeschichtliche Zusammenhänge interessieren, sondern auch denen, die einfach gern Reiseliteratur lesen. Denn dies ist es auch und vor allem: Ein großartiges Stück Reiseliteratur.