LICHTUNGEN
Iris Wolff ist mit ihrem Roman ein Wunder der Sprachkunst gelungen
Manche Bücher lassen ihre Leser*innen ebenso rat- wie hilflos zurück. Man spürt, dass das, was man da auf – sagen wir – 250 Seiten rezipiert hat, irgendwie Großes ist. Poetisch, tiefgreifend, schön. Auch traurig und ergreifend. Und dennoch fern. Nicht greifbar, nicht nah, obwohl doch eine ganz einfache Geschichte erzählt wird. Solch ein Werk ist für diesen Rezipienten Iris Wolffs Buch LICHTUNGEN (2024).
Der fünfte Roman der Autorin, die gebürtig aus dem rumänischen Siebenbürgen stammt und im Barnat aufwuchs, wo meist auch ihre Geschichten angesiedelt sind, erzählt von der Freundschaft zwischen Lev und Kato. Seit Lev als Elfjähriger wochenlang im Bett liegen musste und die im Dorf verfemte gleichaltrige Kato abgestellt wurde, ihm die Schulaufgaben nicht nur nachhause zu bringen, sondern ihm den Stoff auch nahezubringen, sind die beiden nahezu schicksalhaft miteinander verbunden. Es ist eine Verbindung, deren Gehalt, deren Zauber sich vor allem durch die Jahre bewahrheitet, die sie besteht. Lange teilen sie Erlebnisse, Ansichten und Zukunftsaussichten, doch mit den politischen Veränderungen der Zeit – der Fall des sogenannten Eisernen Vorhangs und die sich öffnende Perspektive auf ein Europa, das Möglichkeiten verspricht, von denen beide nie zu träumen gewagt hätten – ändern sich auch ihre Lebenseinstellungen und damit auch ihre Träume einer möglichen Zukunft. Und so wird das Einende auch zum Trennenden, wenn Kato eines Tages aufbricht, dieses Europa zu erkunden und Lev zurücklässt, der auch dann, als es möglich ist, seine Heimat nicht verlassen will, vielleicht auch nicht verlassen kann. Und der sich sehr bemüht, gegenüber seines Herzensmenschen keine unguten Gefühle zu hegen, Gefühle der Verlassenheit, des Verrats.
Es ist vor allem Wolffs Sprache, die diesen Roman tatsächlich zu dem Ereignis macht, als der er gemeinhin gefeiert wird. Wie sie in die Zwischenräume menschlicher Beziehungen vordringt, dabei aber unaufdringlich bleibt, wie sie emotionale Zustände erforscht und flirren lässt, die nur schwer zu beschreiben und den Protagonisten meist selbst nicht klar sind, wie es ihr gelingt, die Leser*innen aufzunehmen, mitzunehmen, gleichsam zu entführen durch die Zeiten – der Roman wird in neun Kapiteln rückwärts erzählt, beginnend mit einem Wiedersehen zwischen Lev und Kato nach Jahren, bis hin zu jenen Nachmittagen, die sie gemeinsam in der Kindheit verbracht haben – in jenen Zustand kindlichen Staunens, der gern als „magisch“ bezeichnet wird, das ist Poesie im besten Sinne. Hier ist wahrlich eine Meisterin der Sprachkunst am Werk.
Doch sind es nicht nur die Freundschaftserlebnisse, die Wolff ihre Leser*innen so einfühlsam spüren lässt, sondern durchaus auch die gesellschaftlichen und sozialen, also politischen Bedingungen, durch die alle Beziehungen, die Menschen hier zueinander eingehen, definiert werden. Man kann die Angst, man kann auch die Deformationen spüren, die der einzelne in Gesellschaften wie diesen – autoritären, von Angst, Denunziation und Verrat geprägten Gesellschaften – erfahren und ertragen muss. Man versteht, wie tief etwas Nicht-Greifbares in die intimsten, die privatesten Sphären eindringt und dort Verheerendes anzurichten vermag. Aber davon erzählt Wolff nie dramatisierend, nie schockierend oder verstörend. Sie erzählt von diesen Schrecknissen leise, stellt aus, was da angerichtet wird, beschreibt weniger. Da es Levs Perspektive ist, die den Leser*innen hauptsächlich präsentiert wird, ist es auch seine Empfindung, die die Sicht des Romans prägt. Und diese Empfindung ist häufig fast verhärtet, distanziert, schützend, damit das Leid nicht Überhand gewinnt. Und doch dringt in diese Verhärtung und Distanz immer auch die Magie in diese Welt ein, die Magie, welche die Freundschaft zu Kato – aber auch zu anderen, denen die beiden im Laufe der Jahre begegnet sind und zu denen sie Vertrauen gefasst haben – bedeutet und die immer auch zu verzaubern weiß.
Doch tritt das, was die Autorin zu erzählen hat, hinter dieses Wunder einer so tastenden und vorsichtigen, so genauen und doch Räume lassenden und immer auch öffnenden Sprache zurück. Inhaltlich wirklich packend ist das nicht. Zu häufig wurde diese Geschichte von Freundschaft und von Liebe in all ihren Facetten und Möglichkeiten, in ihren Bedingungen und der Unmöglichkeit, ihr in manchen Situationen nachzugeben, sie zuzulassen, doch schon erzählt. Und auch die gesellschaftlichen Bedingungen wurden bereits dutzendfach und öfter beschrieben. Geneigte Leser*innen mögen sich da während der Lektüre schon fragen, wen das wirklich fesseln kann. Außer jene, die es persönlich betreffen mag. Wer aber – durch familiäre Bande, durch Freundschaften – selbst Verbindungen in jene Gegenden hat, von denen Wolff eben auch immer erzählt, nach Siebenbürgen, ins Barnat, in die Abgelegenheit und Abgeschiedenheit dieser Weltregion, wer um die Rückständigkeit weiß, die hier unter dem alten Regime geherrscht hat und noch lange herrschte, nachdem die Zeitenwende bereits geschehen war und sich Europa in den so zukunftsvergessenen wie gegenwartsbesoffenen Neunziger Jahren um sich selbst drehte, ohne die heraufziehenden Gefahren – des Nationalismus bspw. – wahrnehmen zu wollen, die schon damals deutlich erkennbar waren (und sich in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien auch manifestierten), der findet hier Vieles, wovon hören konnte, wer zuzuhören bereit gewesen ist.
Literatur ist eben immer auch – das unterscheidet sie so grundlegend von theoretischer und Sach-Literatur – ein emotionales Abenteuer. Immer läuft man Gefahr, auf dünnem Eis zu wandeln und wenn man nicht aufpasst, wenn man nicht immer wach ist, dann droht man einzubrechen und wird überwältigt von Erinnerungen, die vielleicht gar nicht die eigenen sein mögen, die aber tief in einem verwurzelt sind. Und wenn dann eine so schmerzhaft genaue und so zärtliche und so tiefgreifend verständnisvolle Beschreibung einer Freundschaft hinzukommt, die unabhängig von Orten und Zeiten überall entstehen kann und überall sich entwickeln und auch zerbrechen und wieder zusammengefügt werden kann, dann wird Lesen ein Abenteuer und eben auch eine echte emotionale Gefahr. Denn sowohl die damit verbundene Freude als auch den Schmerz, den dieses Finden, Verlieren und Wiederfinden eines Lebens-Partners verursachen kann, kennen die allermeisten.
Dieses Wunder der Literatur ist Iris Wolff mit ihrem Roman tatsächlich gelungen.
Und doch bleibt diese Rat- und Hilflosigkeit, die der Rezipient nach Beendigung der Lektüre verspürte und immer noch verspürt. Es bleibt ein Abstand, denn es ist dann eben doch nicht die eigene Geschichte, es ist eben nicht das Eigene des Hintergrunds, vor dem all dies geschieht und erzählt wird. Und es bleibt somit fern. Vielleicht wünscht man sich, dies sei ein Teil der eigenen Geschichte, ein Teil des Eigenen und vielleicht weiß man – durch Freundschaften bspw. – um diese Geschichte. Doch bleibt, wie so oft in der Literatur, eine Kluft zwischen dem Selbst und dem Erzählten. Unüberwindbar.