MISS MURIEL/MISS MURIEL AND OTHER STORIES

Eine wunderbare Kurzgeschichtensammlung der großen amerikanischen Erzählerin Ann Petry

Eine große Ungerechtigkeit ist es, Ann Petry immer und immer wieder als „erste schwarze Bestsellerautorin“ zu bezeichnen, als sei eben dies das Besondere an dieser Autorin gewesen. Eine Ungerechtigkeit, die dieser Text hier soeben wieder begangen hat. Dabei ist das Besondere an dieser Autorin – abgesehen davon, dass sie eine hervorragende, manchmal brillante Schriftstellerin gewesen ist, die über ein unglaubliches Sprachgefühl und Sprachvermögen verfügte und darüber hinaus eine ausgesprochen souveräne Stilistin war – ihre Fähigkeit, zu einer Zeit, da dies keineswegs als normal zu gelten hatte, die Lebenswirklichkeit schwarzer Amerikaner auf eine Art abbilden zu können, die das Bild eines normalen, durchschnittlichen, eines bürgerlichen Lebens zeichnete. Und nicht die Klischees des unterdrückten, armen, ungebildeten Schwarzen zu reproduzieren, welche vor allem, aber nicht nur, durch weiße Autoren, bspw. durch William Faulkner, geprägt wurden. Natürlich spielte in diesen durch Petry beschriebenen Leben die Tatsache, schwarz zu sein eine große Rolle und natürlich waren auch diese Geschichten in einem von weißen Menschen definierten Referenzrahmen angesiedelt. Doch beschreibt Petry immer wieder schwarze Leben, die von Themen und teils Konflikten bestimmt werden, die nur indirekt, manchmal auch nur marginal durch Rassismus und die Behandlung durch weiße Menschen geprägt sind. Und doch werden hier auch  universelle, jeden Menschen betreffende Themen – wie die Liebe zum Beispiel – verhandelt.

MISS MURIEL (MISS MURIEL AND OTHER STORIES, Original erschienen 1971; Dt. hier 2024), ein Band mit Erzählungen und Kurzgeschichten, zeugt eindringlich davon, wie weit Petrys literarische Fähigkeiten reichen. In dreizehn, mal längeren Novellen, manchmal wirklich kurzen Stories erzählt Petry von mal mehr, mal weniger dramatischen Begebenheiten im Alltagsleben schwarzer Menschen. Dabei beschäftigen sich die ersten drei Beiträge des Bandes mit dem Leben der Familie Layer, die als einzige schwarze Familie in Wheeling, New York, lebt und dort einen Drugstore betreibt. Und schon nach der ersten dieser Geschichten hat man die Familie derart ins Herz geschlossen, dass man gern länger bei ihr verweilt hätte. Und sicherlich ist die dem Band seinen Titel gebende Eröffnung MISS MURIEL nicht nur die längste Geschichte des Bandes, sondern auch jene, die Petrys Sicht und Anliegen vielleicht am konsequentesten auf den Punkt bringt.

Da bewerben sich ein weißer Schuster und ein schwarzer Klavierspieler um Tante Sophronia, wobei es schon ungewöhnlich ist, mit welcher Selbstverständlichkeit Petry beschreibt, wie Mr. Bemish, der Schuster, hier um eine schwarze Frau wirbt. Das hat schon etwas Märchenhaftes; erst recht, wenn schließlich Chink Johnson, der Klavierspieler, der im Hause der Layers nicht wirklich willkommen ist, da Vater Layer ihn als einen Hurenbock zu identifizieren glaubt und damit auch unter Schwarzen durchaus verbreitete stockkonservative Ansichten zum Besten gibt, gemeinsam mit einem Freund der Familie dafür sorgt, dass Mr. Bemish die Stadt verlassen muss. Gerade in dieser Geschichte spielt Petry auf ungeheuer vielschichtige Art und Weise das Verhältnis von schwarz und weiß und die Wechselwirkung durch, die dieses Verhältnis hat – und bürstet es praktisch gegen die geläufigen Klischees. Als Mr. Bemish die Ich-Erzählerin, die als aufmerksame Zwölfjährige die Geschehnisse beobachtet und erzählt, fragt, weshalb Tante Sophronia ihn nicht wolle, erhält er – wohlgemerkt von einer Zwölfjährigen – die Antwort, er habe leider die falsche Hautfarbe. Es sind Momente wie dieser, die die enorme Spanne der erzählerischen Möglichkeiten dieser Autorin markieren. Sie weiß das Unerwartete mit solcher Beiläufigkeit und vor allem einer Selbstverständlichkeit zu platzieren, dass es auch gelesen wie ein kurzfristiger Schock wirkt – und vor allem weiße Leser mit der eigenen, eben doch wieder klischeehaften Erwartungshaltung konfrontiert.

Eine Geschichte wie DER SPIEGEL erinnert hingegen an eine der besten und berühmtesten Short Stories, die die Literaturgeschichte kennt – Hemingways A DAY´S WAIT (1933). Und steht ihr in ihrer Eindringlichkeit in Nichts nach, wenn sie auch deutlich länger ist. Hier wie dort erwarten alle etwas Furchtbares – wobei das Warten und die Ängste der Familie Layer, nachdem der Vater morgens aus dem Haus gegangen und bis zum Nachmittag nicht zurückgekehrt ist, auch und gerade durch die Hautfarbe geprägt werden, wissen alle Beteiligten doch, was einem schwarzen Mann, der allein unterwegs ist, zustoßen kann – und sind umso erleichterter (und befremdeter), als sich der Grund für all die Besorgnisse als ein vollkommen anderer erweist, denn angenommen. Im Falle der Layers sogar als ein an sich positiver, hat Dad Layer doch schlicht die Möglichkeit in Anspruch genommen, sich ein Gebiss einsetzen zu lassen.

Hier wird die schlichte Könnerschaft dieser Autorin dadurch deutlich, wie es ihr gelingt, auf wenigen Seiten ungeheure Spannung aufzubauen, vielschichtig in das Thema und die Hintergründe einzudringen, dabei niemals didaktisch den Zeigefinger zu heben und die Leser*innen zu belehren und schließlich alle Implikationen sowie die Banalität der Tatsachen so auf den Punkt zu bringen, dass dies weit über die eigentliche Thematik der Erzählung hinauswiest. Brillant.

Man möchte Geschichte für Geschichte, Erzählung für Erzählung durchgehen und sie loben und preisen und sich wundern, dass man als Rezensent, der immer Romane dem Format der Kurzgeschichte vorgezogen hat, so berührt wurde, dass man dieses Buch nicht aus der Hand legen wollte, bis die letzte Seite, die letzte Zeile gelesen war. Und am liebsten gleich von vorn mit dem Lesen begänne.

Doch seien an dieser Stelle nur zwei weitere Beiträge hervorgehoben, die sinnfällig verdeutlichen, wie wenig weiße Menschen wirklich von Rassismus und dem Leiden Schwarzer verstehen und weshalb gerade sie immer und immer wieder diesen Band, diese Seiten lesen sollten.

Zum einen ist da die Geschichte mit dem Titel DIE GEBEINE DER LOUELLA BROWN, die von der Verwirrung erzählt, welche entsteht, wenn man es mit den sterblichen Überresten einer schwarzen und einer weißen Frau zu tun hat und schlichtweg nicht mehr feststellen kann, wem welche Knochen zuzuordnen sind. Das ist komisch, urkomisch erzählt und zudem so treffend in seiner Weisheit, so genau in der Beobachtung vor allem der Weißen und ihrer Ängste, Vorurteile und Obsessionen, dass sich Lesende während der Lektüre ertappt fühlen können. Wir sind alle gleich, das Blut ist rot und die bleichen Knochen sind weiß. Doch die Ängste, die die Vertreter des Bestattungsunternehmens umtreiben, die die Verwirrung zu verantworten haben, beschreibt all die bigotte Haltung eben jener, die sich selbst so gern für aufgeklärt und abgeklärt halten. Und wie es so ist im puritanisch geprägten Neuengland, wo die meisten dieser Stories angesiedelt sind, wird die Angst vor allem von ökonomischen Aspekten geprägt, befürchtet man doch deutlichen Rückgang der Kundschaft, wenn diese Kenntnis von der Verwirrung erhält.

Die zweite, extra erwähnte Geschichte trägt den Titel WIE EIN LEICHENTUCH und beschreibt mit unglaublicher Wucht, dabei aber ohne jedwede Überdramatisierung, fast still, fast beiläufig, das Entstehen von Gewalt als Reaktion auf Demütigung, Unterdrückung und verdrängte Wut, wie man es vielleicht so nicht kannte bisher. Und vor allem: Hier wird, aus der Feder einer Frau, also aus dezidiert weiblicher Sicht, mit allergrößtem Einfühlungsvermögen, doch ohne Apologie, das Entstehen männlicher Gewalt (ist Gewalt nicht in den allermeisten Fällen männlich?) beschrieben. Das ist exakt bis an die Schmerzgrenze des Erträglichen, einfach, weil es so wahr ist. Wie sich ein schwarzes Individuum, ein schwarzer Mann nicht wehren kann in einer Welt, in der sein Leben nicht viel wert ist, nichts bedeutet, und wie er schließlich seine Wut und die daraus resultierende Gewalt gegen die richtet, die er vermeintlich folgenlos angreifen darf: Eine schwarze Frau. Als Leser, also als Mann, auch als Weißer, wird man hier mit einer Motivik konfrontiert, die ungeheuer schmerzt.

Diese Geschichten sind durchweg brillant, es gibt keinen Abfall der Qualität. Petry, deren Romane immer schon gelobt wurden, erweist sich also auch als eine Könnerin der Kurzform, was man nicht von allen Autoren behaupten kann. Vielleicht sind es nur die allergrößten, die in beiden Feldern reüssieren konnten. Aber es bedurfte keines weiteren Beweises, was für eine außergewöhnliche schriftstellerische Kraft Ann Petry verkörperte. So sollte man diese Geschichten einfach lesen und genießen. Mal alltäglich, mal todtraurig, mal lustig und oft von tiefer Einsicht in das allzu Menschliche geprägt. Literarisch wundervoll.

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