DIE LIEBESLIEDER VON W.E.B. DU BOIS/THE LOVE SONGS OF W.E.B. DU BOIS
Ein gewaltiges Werk mit kleineren Schwächen
Manchen Büchern nähert man sich mit solcher Ehrfurcht, solchem Respekt, daß eine reelle Bewertung schwerfällt. Die Ehrfurcht mag in bereits gelesenen Besprechungen gründen, vielleicht auch im Umfang, vielleicht auch nur im Respekt vor der Autorin oder dem Autor. Im Falle von Honorée Fanonne Jeffers´ Großroman DIE LIEBESLIEDER VON W.E.B. DU BOIS (THE LOVE SONGS OF W.E.B. DU BOIS; Original erschienen 2021/Dt. 2022) wird es wahrscheinlich eine Melange aus allen drei Kriterien sein, die den Rezensenten ein wenig erschauern lässt.
Es beginnt mit der Autorin. Jeffers, eine anerkannte amerikanische Lyrikerin, die bereits mehrere Bände mit Gedichten veröffentlicht hat, legt mit dem fast 1000seitigen Wälzer ihren ersten Roman vor. Sie ist Professorin für Creative Writing an der Universität von Oklahoma, sie ist eine selbstbewusste Frau – und sie ist schwarz. Als weißer, männlicher Leser setzt also eine gewisse Beißhemmung ein, will man ihr Buch fair besprechen. Es ist ein gewaltiges Werk, ein episches Werk, ein geschichtsträchtiges Werk. Und es wurde in den USA frenetisch von der Kritik, allen voran Oprah Winfrey, gefeiert. Es wurde ein New-York-Times-Bestseller und stand monatelang auf den Bestenlisten. Kaum mag man also Kritik üben.
Und doch: Ist es nicht gerade diesen Umständen geschuldet, ein solches Werk eben ganz genau unter die Lupe zu nehmen und sehr differenziert zu besprechen? Und dabei die Stärken und die Schwächen klar zu benennen? Doch, anders wird es nicht gehen. Wo also beginnen?
Jeffers erzählt im Kern eine bürgerliche Familiengeschichte. Es wird also nicht zuletzt dies der Grund sein, daß der Roman von der Kritik u.a. als „Schwarze Buddenbrooks“ bezeichnet wurde. Das trifft insofern zu, als Jeffers eben aus dem Leben einer bürgerlichen Familie erzählt, einer schwarzen bürgerlichen Familie, den Garfields. Sie leben in einer Großstadt in den nördlichen Bundesstaaten, nie näher genannt, wo Vater Geoffrey auch herstammt. Er hat eine sehr gute Ausbildung zum Mediziner genossen, sich allerdings in Maybelle Lee Driskell, genannt „Lee“ verliebt. Sie ihrerseits stammt aus Georgia, also dem tiefen Süden der USA, und ist nicht nur Armut gewohnt, sondern auch Rassismus und Gewalt. Es ist ihre jüngste Tochter Ailey Pearl Garfield, die dem Leser die Geschichte der Familie Driskell erzählt und dabei sehr, sehr weit in die Historie des Landes zurückgreift. Denn mit diesem Rückgriff bis ins 18. Jahrhundert wird der Leser auch in eine andere Geschichte der USA eingeführt.
Es ist eine „Gegengeschichte“ zum herkömmlichen, allseits bekannten weißen Narrativ von den Gründervätern, den Pilgern, von der Eroberung des Westens, des Sieges der Siedler über die Natur, der kurzerhand auch die Indianer zugeschlagen werden, und des steten Fortschritts des Landes hin zur Supermacht der Gegenwart. Aileys Geschichte, aus ihrer subjektiven Sicht geschildert und das Augenmerk hauptsächlich auf die unmittelbare Geschichte der Eltern, vor allem der Mutter und ihrer Familie, richtend, wird immer wieder von Einschüben unterbrochen, die möglicherweise ebenfalls aus Aileys Feder stammen, wissen wir doch am Ende des Romans, daß sie sich gegen den Wunsch ihrer Eltern dazu entschieden hat, nicht Medizin zu studieren, sondern vielmehr im Fach Geschichte zu reüssieren. Die Einschübe sind in vielerlei Hinsicht das Herzstück des Romans, denn sie erzählen diese andere, diese sehr viel differenziertere Geschichte Amerikas.
In diesem Narrativ sind die Geschichte der Indianer, die der schwarzen Menschen, die den Kontinent als Sklaven, also als Waren, betraten und die der Weißen eng ineinander verschlungen. Denn das Land, auf dem die Plantage entstehen sollte, auf der die Familie mütterlicherseits lebte und teils noch lebt, gehörte ursprünglich den Creek-Indianern. Und bereits hier beginnt es kompliziert zu werden. Denn die ersten Weißen, die hier ankamen, vermischten sich mit den Indianern, betrogen sie, verdrängten sie von ihrem Land, nahmen sich aber auch ihre Frauen und zeugten mit diesen Kinder. Gleiches gilt für schwarze Menschen, die auf diese Ländereien verbracht wurden: Die Frauen (und Mädchen) sind nicht nur den Übergriffen ihrer Peiniger – das bedeutet den Männern, ihren „Besitzern“ – ausgeliefert und gebären also jede Menge Kinder, deren Väter weiß waren, sondern einige geflohene Sklaven schließen sich ihrerseits den Creek an und auch hier entstehen Verbindungen, werden Kinder geboren, die in den Augen der Weißen schlichtweg „Bastarde“ sind.
So wird mit Fortschreiten des Romans immer deutlicher, daß die Geschichte Nordamerikas eben nicht eine der Eingeborenen, eine der Weißen und eine der Schwarzen ist, sondern diese vielmehr eng miteinander verwoben sind, zueinander in Beziehung stehen und damit auch den Fortlauf dieser Geschichte definieren. Jeffers greift dies auf, indem sie immer wieder auch den Rassismus innerhalb der Black Community thematisiert, beschreibt und auch anprangert. Denn hier spielt es eine enorme Rolle, welchen Grad an Schwärze die Hautfarbe aufweist. Es ist ein Kriterium dafür, wen man heiratet, welche Stellung man innerhalb der Gesellschaft oder auch der Community bekleidet, welchen Studien- oder Arbeitsplatz man bekommt. So sind die Eltern von Vater Garfield so hellhäutig, daß die Oma väterlicherseits auf die Familie seiner Frau herabblickt; auch einige Verwandte im Süden – allen voran Onkel Root, der eine wesentliche Rolle in Aileys Leben und im Roman einnimmt – sind sehr hellhäutig und konnten so durchaus als Weiße durchgehen, mindestens als hispanisch, was ihnen das Leben in einem durch und durch rassistischen und immer gewaltbereiten Umfeld natürlich erleichterte.
Rassismus und (die aus ihm resultierende) Gewalt sind also zwangsläufig bestimmende Themen des Romans. Es seien also an dieser Stelle zartfühlendere Gemüter gewarnt: Es gibt teils drastische Schilderungen sexualisierter Gewalt, aber auch ganz alltäglicher, fast „normaler“ Gewalt – Demütigungen, Auspeitschungen, Bestrafungen bis hin zu Lynchmobs – die nichts beschönigen. Es ist schlicht die Wahrheit der Historie, daß diese Gewalt immer und jederzeit einem schwarzen Mann oder einer schwarzen Frau widerfahren konnte und es wäre eine Beschönigung, sie zu verschweigen, aber auch, sie nicht genau so zu schildern und zu beschreiben. Jeffers geht ein Risiko ein, doch es gelingt ihr, diese Episoden so zu schildern, daß die Empathie beim Leser immer erhalten oder aktiviert wird. Der Gegenentwurf zu diesen rohen und manchmal schwer erträglichen Passagen ist das eben bürgerliche Leben, ist das bürgerliche Umfeld, in dem Ailey behütet aufwächst. Und doch kennt auch sie die Gewalt, ebenso wie ihre Schwestern Lydia Claire und Carol Rose. Alle drei nämlich wurden Opfer ihres Großvaters väterlicherseits. Denn der hat die drei Mädchen nach und nach mißbraucht.
In diesem Mißbrauch spiegelt sich die Gewalt, die gegenüber Schwarzen von ihren weißen „Besitzern“ ausging. In diesem Mißbrauch wird aber auch die Hierarchie innerhalb der schwarzen Gemeinde noch einmal verdeutlicht. Denn die Verfügbarkeit von besonders dunkelhäutigen Frauen, Mädchen, Kindern, wird hier auch noch einmal bestätigt. Für die drei Garfield-Mädchen hat der Mißbrauch ganz unterschiedliche Folgen. Ohne daß der Roman es explizit so behauptet, wird doch nahegelegt, daß Aileys soziale Zurückhaltung – sie findet nur schwer Freunde und auch ihre Auseinandersetzungen mit ihren Verehrern war, ist und bleibt kompliziert – , Lydias schließlich tödliche Drogensucht und Carols Homosexualität in ihren frühkindlichen Erlebnissen mit dem Großvater wurzeln. Und hier beginnen die Probleme des Romans. Denn Mißbrauch, Drogensucht und Homosexualität sind einerseits mittlerweile anerkannte Problematiken, andererseits sind sie eben auch in allen bürgerlichen Familien virulent. Gleich ob weiß, schwarz, gelb oder grünblau gescheckt. Und sie werden seit einiger Zeit auch in vielen, vielen Romanen thematisiert, aus- und bloßgestellt und verurteilt. Nur sind sie eben nicht spezifisch. Und so liest man auf gefühlt 400 der fast 1000 Seiten eben von bürgerlichen Problemen. Die unterscheiden sich aber nicht sonderlich voneinander, ganz gleich ob sie in der schwarzen oder weißen Oberschicht vorkommen. Um es kurz zu machen: Es kommt der Punkt, an dem der Leser sich etwas überfordert fühlt, wirkt das alles doch etwas überfrachtet, werden zu viele Aspekte und Einzelschicksale behandelt, deren jeweilige Problematiken je ein eigenes Buch wert wären.
So zerfasert der Text ein wenig. Und es geschieht etwas, das einem Roman nie gut tut: Die behandelten Einzelschicksale berühren den Leser immer weniger, sind sie doch immer nur Teilaspekte eines noch größeren, noch weitläufigeren Unrechts. Sicher, man kann argumentieren, daß gerade die sexualisierte Gewalt eben ein ganz wesentlicher Bestandteil dieser Geschichte des Unrechts ist. Das stimmt. Doch warum müssen diese drei jungen Frauen zwangsläufig selbst Opfer solcher Art von Gewalt geworden sein? Ist es einer Frau wie Ailey nicht möglich, allein aufgrund der Erzählungen ihrer Familienmitglieder genug Empathie zu empfinden, um geschockt und mitgenommen zu sein? Muß Aileys eigene Geschichte sozusagen als Gewähr gelten, damit ihre Studien glaubwürdiger werden? Notwendig ist dies definitiv nicht. Die Geschichten ihrer Ahnen, die so exemplarisch sind für die schwarze Bevölkerung – gleich welchen Grades an Hautpigmenten – der USA, sind eigentlich schrecklich genug, um Aileys und mit ihr des Lesers Mitgefühl und Aufmerksamkeit zu bekommen.
Aus diesem Komplex geht eine weitere, literarisch gesehen ausgreifende Kritik hervor. Denn wenn man den Roman als überfrachtet betrachtet, muß man ebenso konstatieren, daß der Text mäandert, sich durch verschiedene stilistische Merkmale auszeichnet, deren Einzelaspekte jedoch nicht zwingend zueinanderkommen. Den einzelnen Kapiteln sind Zitate des Historikers, Soziologen, Philosophen und Journalisten William Edward Burghardt Du Bois vorangestellt. Allerdings sind es Auszüge aus seinen historischen, soziologischen und philosophischen Texten. Keine Liebeslieder. Sicherlich kann man diese Zitate als Liebesbezeugungen an die schwarze Rasse (die ja nun im eigentlichen Sinne keine solche ist) lesen. Denn Du Bois war sicherlich einer der ersten, die schwarzes Selbstbewusstsein, schwarze Selbstbehauptung, aber auch Anerkennung durch das Umfeld, eine durch Weiße geprägte Gesellschaft, einforderten. Im Roman diskutieren Onkel Root und einer von Aileys Verehrern jahrelang über die Bedeutung von Du Bois in Bezug auf Booker T. Washington, der der Allgemeinheit als schwarzer Intellektueller seiner Zeit heute sicherlich geläufiger ist. Wie dem auch sei – im Roman spielt Du Bois lediglich insofern eine Rolle, weil er für Onkel Root ein Säulenheiliger ist. Ist man als Leser mit seinen Schriften nicht vertraut, spielt er nur eine untergeordnete Rolle und taugt eben auch nicht dazu, Struktur oder Inhalt (den schon eher, vielleicht) zu entschlüsseln oder zu interpretieren. Im Roman sind seine Zitate immer jenen Passagen vorangestellt, die von der weit zurückliegenden Geschichte erzählen – vielleicht werden diese Abschnitte immer mit „Songs“ überschrieben, um dem Leser das legendäre, das mythische Potential vor Augen zu führen, welches immer in „der Geschichte“, jedoch jenseits der Fakten (oder Faktizität) schlummert.
Und so steht man dem Konvolut aus subjektiv erzählten Passagen (Ailey), eben ins Mythologische abdriftenden Abschnitten, Rückblicken in die Familiengeschichte der Driskells (stark) und der Garfields (weniger stark) und gelegentlich eingeschobenen theoretischen Gedanken zu den behandelten Themen, die allerdings auch immer aus Aileys Warte geschildert werden, recht hilflos gegenüber. Und da das Erzählte oft an einem vorbeizieht, zwar stilistische, aber kaum intensivierende Unterschiede zwischen der engeren Geschichte Aileys und ihrer Familie und den weiter, teils Jahrhunderte zurückliegenden Geschehnissen feststellbar sind, lässt die emotionale Beteiligung, die für einen Roman wahrscheinlich aber zwingend ist, nach. Man bewundert die Konstruktion, man folgt aufgeregt den langen verschlungenen Pfaden, die die Autorin anlegt, man versteht nach und nach den metatheoretischen Zusammenhang zwischen dem (letztlich schlicht bürgerlichen) Familienepos und dem historischen Gesamtpanorama und natürlich kann man über die gewaltige Leistung der Autorin, dies alles zusammenzuschnüren, auszutarieren und in Balance zu halten, nur staunen. Doch fühlt sich das alles irgendwann einerseits nach einem Zuviel an, andererseits nach Allerlei. Von allem etwas, doch nur wenige Themen wirklich ausgearbeitet. Zwingend ist das alles aber nicht.
Dennoch: DIE LIEBESLIEDER VON W.E.B. DU BOIS ist ein großer Wurf (mit Schwächen), es ist ein Panoramablick auf ein Land, das momentan an einem Wendepunkt seiner Geschichte zu stehen scheint und an diesem Wendepunkt spielt auch und gerade das Verhältnis zwischen dem weißen und dem dunkelhäutigeren Teil der Bevölkerung eine enorm wichtige Rolle. Ein Roman wie dieser ist also vor allem geeignet, den Leser innehalten zu lassen, die eigenen Bilder und Vorurteile noch einmal Revue passieren zu lassen, zu überprüfen und auch zu revidieren. Ein solches Werk kann natürlich kritisiert werden, doch bleibt ihm ein Rest inne – sollte man es „Aura“ nennen? – welcher sich jeglicher Kritik entzieht und ein Mehr entwickelt, das in einem übergeordneten Diskurs außerordentlich wichtig ist. Literatur, die solches schafft, ist aus sich selbst heraus schon wirkmächtig und damit wesentlich. Ein großer Roman also.