PUBLIC ENEMIES
Michael Mann untersucht den klassischen Gangsterfilm
Chicago, 1933 – Mit Hilfe ihres Bandenchefs John Dillinger (Johnny Depp) und seines Freundes John ‚Red‘ Hamilton (Jason Clarke), gelingt es einigen Gangstern, aus dem Staatsgefängnis von Michigan City zu entkommen.
Umgehend nimmt die Bande ihr Treiben wieder auf – Banküberfälle in benachbarten Staaten von Illinois. Ihr Vorgehen dabei ist immer äußerst brutal: Sie schlagen die Wachleute zusammen, gehen nicht zimperlich mit den Angestellten, vor allem den leitenden Angestellten, um und nehmen Geiseln, um sich ihren Rückzug zu decken.
Der Chef der noch vergleichsweise jungen Polizeibehörde FBI, J. Edgar Hoover (Billy Crudup), nimmt das Treiben von Dillingers Bande zum Anlaß, bei einer Senatsanhörung dafür zu plädieren, die Befignisse seiner Organisation zu erweitern. Er will vor allem erreichen, daß sie überstaatlich agieren darf, ein Agentennetz über das ganze Land ausbreiten, um immer schnell am Ort eines Verbrechens erscheinen und Beweise sammeln und sicherstellen zu können. Banden wie Dillingers nutzen vor allem jene Gesetzeslücke aus, die es Ermittlungsbehörden und der Polizei generell verbietet, über die Staatsgrenze hinaus die Verfolgung von Verbrechern aufzunehmen.
Obwohl Hoovers Bemühungen zunächst abgeschmettert werden, setzt er einen Sonderermittler ein, der in Chicago gegen das organisierte Verbrechen, vor allem aber gegen Dillinger vorgehen soll. Dies ist Melvin Purvis (Christian Bale), ein eiskalter Agent, der zuvor den flüchtenden ‚Pretty Boy‘ Floyd erschossen und damit bewiesen hat, daß er in entscheidenden Momenten die Ruhe bewahren kann.
Purvis nimmt umgehend seinen Dienst in Chicago auf. Dort hat Dillinger seine Basis. Er bewegt sich frei in der Stadt, nimmt am deren regen Gesellschaftsleben teil, besucht Nachtclubs und Restaurants. Seine Beziehungen zur Polizei sind eng, er verteilt Schmiergelder, vor allem an jene Beamten, die er braucht, um sich Rückzugsräume zu schaffen, wo er nach erfolgreichen Überfällen unterkriechen kann.
Bei einem Besuch in einem Club wird Dilliinger auf die junge Billie Frechette (Marion Cotillard) aufmerksam. Er findet sie wunderschön und beschließt, daß sie die Frau seines Lebens sein soll. Nach anfänglichem Zieren lässt Billie sich auf eine Beziehung zu dem Gangster ein.
Purvis unternimmt derweil erste Versuche, der Gangster habhaft zu werden. Doch zunächst schlagen diese fehl und kosten sogar Menschenleben. Purvis wird von Hoover ermahnt, Erfolge zu liefern und bittet deshalb um Agenten von außerhalb, mit denern er bereits zusammen gearbeitet hat, da ihm die Chicagoer Polizei sowohl korrupt, als auch nicht hart genug im Einsatz erscheint.
Dillinger verhandelt mit den Syndikaten, die ihn decken, obwohl sie ihr Geld vollkommen anders verdienen. Alkoholschnuggel, Wettbüros und Erpressungen sind ihr Geschäft. Doch lassen sie Dillinger, dessen Auftritte sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, gewähren und verschaffen ihm die Möglichkeit, sich immer wieder in ihrem Schutz zurückzuziehen.
Dillinger und einige seiner Leute werden bei einem solchen Rückzug in Tucson, Arizona, verhaftet. Hier treffen der Gangster und Purvis erstmals aufeinander. Mit Winkelzügen erreicht es Dillingers Anwalt, daß er nicht verlegt und der Prozeß um einen Monat verschoben wird. Während dieser Zeit gelingt Dillinger der Ausbruch.
Nach einem Raubzug in Florida muß Dillinger feststellen, daß die Syndikate ihn haben fallen lassen. Seine Art des Handelns ist nicht mehr zeitgemäß, er stört ihre Kreise und Geschäfte. Dadurch verliert er einige Verstecke.
Nun plant er mit dem Gangster ‚Baby Face‘ Nelson (Stephen Graham) einen echten Coup. Sie wollen die Bank von Sioux Falls in South Dakota überfallen, wo ein enormer Geldbetrag in Millionenhöhe liegen soll. Dillinger, der Nelson aufgrund von dessen Unberechenbarkeit nicht mag, lässt sich darauf ein, weil er das Geld braucht, um weitere Bandenmitglieder zu befreien. Doch der Überfall geht schief, es kommt zu einer wilden Schießerei auf der Starße, bei der sowohl Polizisten, als auch unbeteiligte Passanten getötet werden. Da sie ihren Kumpel Tommy Carroll (Spencer Garrett), der einen Kopfschuß erlitten hat, für tot halten, lassen ihn die Gangster auf der Straße liegen. Doch Carroll hat überlebt und wird von Purvis und dessen Männern noch auf dem Sterbebett derart gefoltert, daß er dem FBI den Aufenthaltsort der Bande verrät.
Die haben sich nach Wisconsin, in die Little Bohemia Lodge zurückgezogen, ein in den Wäldern gelegenes Motel. Purvis und seine Männer postieren sich bei Nacht in den umliegenden Wäldern und greifen die Lodge schließlich an, obwohl sie viel zu wenige sind, um sie wirklich umstellen zu können. Der Einsatz wird ein regelrechtes Fiasko, erneut sterben Unbeteiligte und sowohl Dillinger, sowie der schwer verletzte Hamilton, und auch Nelson können entkommen.
Hamilton stirbt später in Dillingers Anwesenheit. Es wirkt für den Gangsterboss wie ein Menetekel, daß sein engster Verbündeter ihn verlässt.
Purvis, der nun Unterstützung von dem Agenten Charles Winstead (Stephen Lang) – ein hartgesottener Agent der alten Schule, mit dem Purvis bereits zusammen gearbeitet hatte – erhält, erreicht bei Hoover, daß seine Einsatzmöglichkeiten nochmals erweitert werden. Die Ausrüstung wird verbessert und Dilliinger zudem zum „Staatsfeind Nummer 1“ erklärt, wodurch er in allen Radiosendungen, in den Wochenschauen der Kinos und auf den Titelseiten der Zeitungen mit Bild erscheint. Dillinger fühlt sich zwar geschmeichelt, weiß zugleich aber, daß das Leben für ihn gefährlicher wird.
Hoover erhält endlich die Befugnis, das FBI landesweit und über Staatsgrenzen hinweg einsetzen zu dürfen.
Dillinger und Billie Frechette leben eine Weile wie ein Paar in Chicago. Dilliinger, der mehr oder weniger ein hedonistisches Leben von Tag zu Tag führt, fragt sie, ob sie vielleicht mit ihm irgendwann außer Landes gehen würde, nach Havanna oder nach Rio de Janeiro. Billie fühlt sich geschmeichelt. Dillinger selbst treibt sein Spielchen mit dem FBI: Eines Tage spaziert er, nahezu ungetarnt, in die FBI-Zentrale, die in einem Revier in Chicago eingerichtet ist, und schaut sich ungeniert die Ermittlungsakten gegen sich an.
Doch dann fällt Billie den FBI-Agenten in die Hände. Der Agent Harold Reinecke (Adam Mucci) scheut sich nicht, sie in Purvis Abwesenheit brutal zusammen zu schlagen. Um weiterer Prügel zu entgehen, nennt Billie den Beamten einen imaginären Aufenthaltsort, von dem sie weiß, daß Dillinger nicht dort sein wird. Zurück im Revier, beginnt Reinecke ereut, sie zu schlagen. Sie verhöhnt ihn, Dillinger sei bei ihrer Verhaftung anwesend gewesen, die Agenten hätten ihn aber nicht erkannt. Purvis verhindert, daß Reinecke, außer sich vor Wut, der Frau weitere Gewalt antut.
Billie wird verurteilt, soll allerdings nur 2 Jahre einsitzen, wegen Beihilfe zu Verbrechen. Dillinger verkriecht sich bei der rumänischen Bordellbesitzerin Anna Sage (Branka Katić), zu der er auch früher schon freundschaftliche Beziehungen pflegte. Diese wird schließlich von Purvis extrem unter Druck gesetzt. Er droht ihr mit sofortiger Abschiebung aus Amerika, wenn sie nicht kooperiere und ihm sage, wo und wie man Dillingers habhaft werden könne.
Schließlich verrät sie Purvis, daß sie abends mit Dillinger und einem weiteren Mädchen in ein Kino ginge. Es kommen nur zwei Kinos in Frage und Winstead tippt sofort auf das richtige, weil er anhand der Filme, die lauefen sollen, errät, was Dillinger sich anschauen wird. Es ist ein Gangsterfilm mit Clark Gable. So kommt es nach der Vorstellung vor dem Kino zu einer Schießerei, bei der Winstead Dillinger schließlich tötet.
Der Agent fährt ins Gefängnis und besucht Billie. Er sagt ihr, daß Dilliingers letzte Worte „Bye-bye, Blackbird“ gewesen seien – der Titel des Songs, bei dem sich Billie und Dilliinger erstmals getroffen hatten.
John Dillinger wurde die zweifelhafte Ehre zuteil, als erster Verbrecher Amerikas zum „Staatsfeind Nr. 1“ – einem Public Enemy – erklärt zu werden. Dies und sein freches Auftreten, seine waghalsigen Ausbruchsversuche, die oft glückten, und nicht zuletzt sein Tod im Kugelhagel des FBI, als er ein Kino in Chicago verließ, trugen zu seinem Status als amerikanische Ikone bei. Wie viele Gangster seiner Zeit, wurde auch er verehrt, da er sich in wirtschaftlich schweren Zeiten einfach nahm, was er wollte. Anders als andre Unterweltgrößen, umwehte ihn allerdings das Odeur des arbeitenden Kerls, war er doch auf Banküberfälle spezialisiert, nicht, wie die großen Syndikate, auf Alkoholschmuggel oder Steuerhinterziehung. Während Typen wie Al Capone die Drecksarbeit bald andere erledigen ließen, erledigte Dillinger seine Jobs selbst, ging also Gefahren und Risiken ein, gefiel sich gelegentlich in einer Robin-Hood-Pose, die ihm nicht zustand, und starb einen angemessen romantischen Tod. Anders aber als das Gangsterpärchen Bonnie Parker und Clyde Barrow, die ebenfalls Banken überfiel, fast auf den Tag genau zwei Monate vor ihm eines ebenfalls gewaltsamen Todes starben und ebenfalls zu Gangster-Ikonen wurden, liebte Dillinger den Glamour und das gute Leben, die er sich mit seinen Überfällen verschaffte. Er bewegte sich im Umfeld der Syndikate aus Chicago und nicht im ländlichen Raum, wie es bei Bonnie & Clyde der Fall war, obwohl genau diese ländlichen Gegenden auch ihm immer wieder als Rückzugsraum dienten. Es war maßgeblich der Jagd auf Dillinger zu verdanken, daß J. Edgar Hoover das FBI zu jener Behörde ausbauen konnte, die auch heute noch als Bundespolizei fungiert und staatenübergreifend ermitteln darf.
1945 widmete sich ihm erstmals ein Spielfilm (DILLINGER/1945) aus Hollywood. Im Laufe der Jahre kamen einige hinzu, lange Zeit war John Milius´ DILLINGER (1973), mit Warren Oates in der Titelrolle, der bekannteste. Der ästhetisch aufregendste allerdings dürfte Michael Manns Bearbeitung des Mythos sein – PUBLIC ENEMIES (2009), Der Regisseur hatte sich zuvor in einigen Filmen dem Gangsterthema aus unterschiedlichen Perspektiven gewidmet. Schon einer seiner ersten Spielfilme, THE THIEF (1981) erzählte von einem Meisterdieb, der zwischen den Fronten aus organisiertem Verbrechen und der Polizei zerrieben zu werden droht. Schon hier zeigte Mann sein Bewußtsein für stilsichere Bilder, die die amerikanische Wirklichkeit zwischen Neonlicht, überproportionierten Autos und nächtlichen Diners einzufangen wusste. HEAT (1995) setzte diese überästhetisierende Programmatik fort und wurde einer der prägenden Filme der 90er Jahre, COLLATERAL (2004) und MIAMI VICE (2006) waren gelungene Variationen und Abwandlungen des Themas.
Während all diese Filme in ihrem Look und Inhalt jedoch zeitgenössisch sind, ist PUBLIC ENEMIES ein Ausflug in die Historie des klassischen amerikanischen Gangstertums. In jene Ära also, die so prägend war für das amerikanische Selbstverständnis des Self-made-Mans, der sich rücksichtslos nach oben boxt. Der Gangster stand stellvertretend für die Härte, die es braucht, und eine gewisse Skrupellosigkeit, die nötig ist, um es zu schaffen. Neben dem Cowboy wurde der Gangster eine der frühesten und originellsten Ikonen des Hollywood-Films. Den großen Gangstern aus Chicago wurden schon zu Lebzeiten zwiespältige, überaus ambivalente Denkmäler gesetzt. Ob LITTLE CEASAR (1931), THE PUBLIC ENEMY (1931) oder SCARFACE (1932) – sie alle huldigten den Verbrechern aus Chicago, die zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt ihrer Macht waren, verdammten sie aber zugleich, indem sie sie zumeist überaus gewaltsame Tode sterben ließen und damit zeigten, daß Verbrechen sich nicht lohnt. Dieser Epoche zollte auch Francis Ford Coppola mit seinen beiden ersten THE GODFATHER-Filmen (1972/74) und mit THE COTTON CLUB (1984) Tribut; Brian De Palma tat es mit THE UNTOUCHABLES (1987), der in erlesenen Bildern und mit einer grandiosen darstellerischen Leistung Robert De Niros den Mythos AL Capone und die Jagd des FBI nach dem Großgangster skizzierte. Sowohl THE COTTON CLUB als auch THE UNTOUCHABLES hat PUBLIC ENEMIES eine Menge zu verdanken, was Stil, Bearbeitung und Ausstattung betrifft.
Wie Coppolas Film, schwelgt auch Michael Manns Werk in einer atemberaubend genauen und bis in die kleinsten Details stimmigen Ausstattung und einem Setting, dem es gelingt, die eleganten Nacht-Clubs, die Anzüge der Herren und die Kleider der Damen, aber auch die Straßen Chicagos, die staubigen Landstraßen und Highways jener Jahre, die verkommenen Hotelzimmer und Kleinstädte, in denen Dillinger und seine Bande sich verstecken, derart treffend nachzubilden, daß man gelegentlich den Eindruck gewinnt, dokumentarisches, bestenfalls eingefärbtes Material zu betrachten. Mit THE UNTOUCHABLES teilt PUBLIC ENEMIES die gestochen scharfen Bilder, die Grandezza, mit der die Überfälle inszeniert werden, und die thematische Gegenüberstellung der sich großmännisch gebenden Gangster und der eher bieder daherkommenden Polizisten. Beide Filme verzichten weitestgehend auf psychologisierende Figurenzeichnung und konzentrieren sich auf die Arbeit der einen wie der anderen Seite, wodurch die Story, die sie jeweils erzählen, anekdotisch wirkt. Beiden ist ein gerüttelt Maß an Gewalt eigen, weshalb man über die deutsche Altersfreigabe ab 12 Jahren für PUBLIC ENEMIES nur staunen kann.
Setzt Coppola Gewalt in seinem Epos eher sporadisch und dann als schockartigen Effekt ein, wird sie bei De Palma und in Manns Film zu einem Stilmittel, das die ganze Atmosphäre des jeweiligen Films prägt. Sie ist latent und bricht immer wieder aus. Niemand ist je sicher vor Überfällen und Übergriffen. Damit treffen beide natürlich auch eine Aussage über die Zeit, in der die Filme angesiedelt sind, obwohl der historische Kontext bei Mann – die Zeit der großen Depression nach dem Zusammenbruch der Börse 1929 – kaum eine wirklich spürbare Rolle spielt. Michael Mann greift vielmehr einen Aspekt erneut auf, der für HEAT maßgeblich war – die Doppelung von Gangster und Polizist – und stellt diesen Konflikt somit als zeitlos dar. War es im früheren Film die Verwandtschaft beider in der Beziehungslosigkeit zu ihrer Umwelt, der Bindungslosigkeit und damit einhergehenden Einsamkeit, sind es in PUBLIC ENEMIES das Vorgehen und die Mittel, die jeweils angewandt werden, um an sein Ziel zu gelangen. Und dieses Mittel ist eben die Gewalt. Seien es die Ausbrüche – zwei davon zeigt der Film (historisch ungenau) – oder seien es die Banküberfälle, die Mann nahezu choreographisch inszeniert, seien es die versuchten Festnahmen oder die Verhöre – Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Unverhältnismäßigkeit sind sich auf Seiten Dillingers, als auch auf Seiten des FBI, gleich. Nimmt der eine Geiseln, um sich aus nahezu aussichtslosen Situationen zu befreien, scheuen die anderen nicht vor Folter zurück oder davor, gnadenlos loszuballern, wenn sie der Meinung sind, eines Gesuchten habhaft werden zu können.
Gerade die für Michael Mann typische Inszenierung des Zugriffs auf die Little Bohemia Lodge als epische Großschießerei – sie ist mitten im Wald gelegen und wie der Ausbruch aus dem Michigan Prison, mit dem der Film beginnt, in der Realität anders verlaufen, als der Film es darstellt – bezeugt die Brutalität der Polizei. Der leitende FBI-Agent Melvin Purvis beschießt einen Wagen, der das Grundstück verlässt, ohne sich auch nur ansatzweise zu versichern, wer eigentlich im Wagen sitzt. In der anschließenden Verfolgung Dillingers und auch ‚Baby Face‘ Nelsons, zeigen die FBI-Männer keine Gnade und schießen wild um sich. Bewusst inszeniert Mann diese Sequenz derart unübersichtlich, daß der Zuschauer bald nicht mehr weiß, wer zu welcher Seite gehört. Die Grenze zwischen Gangstern und Polizei verschwindet und es entsteht der Eindruck, daß hier zwei gleichberechtigte Seiten miteinander um Gebiete, Einfluß oder Macht ringen. Es wird der Krieg gezeigt, zu dem Hoover diesen Kampf ausgerufen hatte. Später wird Dillingers Freundin Billie Frechette vom FBI derart brutal verhört, daß Maß und Mitte vollkommen verloren gehen. Zwar unterbindet Purvis die Methoden, sobald er davon erfährt, doch lässt der Film keinen Zweifel aufkommen, daß es letztlich genau diese Methoden gewesen sind, die schließlich zum Erfolg des FBI führten.
In dieser spezifischen Szene allerdings ist das nicht der Fall. Billie erträgt die Schläge und macht falsche Angaben, um die Ermittler dann zu verhöhnen, war Dillinger bei ihrer Verhaftung doch anwesend und wurde schlicht nicht erkannt. Es gibt häufiger Szenen, die diesen Aspekt seines Draufgängertums unterstreichen. So genießt er einerseits die Menschenmassen, die gekommen sind, um ihn bei seiner Überstellung in ein neues Gefängnis zu bewundern, lässt es sich andererseits nicht nehmen, bei anderer Gelegenheit in ein Polizeirevier zu stolzieren, sich dort die gegen ihn vorliegenden Ermittlungsergebnisse anzuschauen und sich bei den diensttuenden Agenten sogar nach dem Zwischenstand des Baseballspiels zu erkundigen, das im Radio übertragen wird. Dillinger ist in Manns Wahrnehmung ein Hedonist, ein Spieler, jemand, der das Risiko liebt, ein Draufgänger. Was ihn jedoch dazu macht, wie er sich zu dem entwickelte, der er ist, lässt der Film komplett außen vor. Er gibt weder einen Einblick in Dillingers Geschichte, noch bietet er ein Psychhogramm dieses Mannes.
In diesen Kontext fällt auch jene kleine Szene, in der Dillinger von einem leitenden Angestellten des Snydikats darauf hingewiesen wird, daß er von den Bossen keine Deckung mehr erhält. Man sieht während dieser Auseinandersetzung im Hintergrund ein Wettbüro, das hochprofessionell betrieben wird. Die Zeit der Romantiker, der selbst ernanntenn Robiin Hoods – Dillinger lässt bei einem Überfall einem Kunden dessen Geld und erklärt, er wolle nicht das Geld des Mannes, sondern das der Bank – geht zuende. So, wie die Bundesbehörde FBI sich zusehends professionalisiert, so professionalisieren sich auch die Gangster und ihre Organisationen. Männer wie Dillinger, deren Geshäft laut, brutal und sehr aufmerksamkeitsheischend ist, stören nur. Das Spiel verändert sich, die Figuren verschieben sich und es muß Opfer geben, um weiterspielen zu können. Ob nun Bauern, Türme oder gar eine Königin geopfert werden, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.
Die einzige Ebene des Films, auf der ein kleiner Einblick in das Seelenleben des Gangsters geboten wird, ist das Verhältnis Dillingers zu Billie Frechette. Allerdings ist dieser Einblick so oberflächlich und romantisierend, daß man ihn nicht als ernsthaften Versuch betrachten kann, Dillinger als Person zu erfassen oder gar zu verstehen. Im Film ist er ein Mann, der scheinbar aus dem Nichts auftaucht, seinen brutalen Geschäften nachgeht, im Hier und Jetzt lebt und das Morgen verachtet, ein Mann, der vielleicht einmal weggehen und alles hinter sich lassen will. Er sieht Frechette erstmals in einem Nacht-Club, spricht sie an und beschließt umgehend, die Frau seines Lebens getroffen zu haben. Die in diesem Kontext großartige Darstellung des Gangsters durch Johnny Depp, der hier eine der letzten wirklich guten Leistungen seiner zusehends versandenden Karriere hinlegte, zeigt einen Mann, der nur aus und im Jetzt lebt, der das gute Leben, das seine Raubzüge ihm ermöglichen, genießt, der aber – eine kleine Einlage während der ersten Begegnung mit Frechette belegt dies – weder über Manieren noch den Pli der besseren Schichten verfügt. Er kann nicht tanzen und es ist ihm egal, wie sein Auftreten in den vornehmen Bars und Clubs der Stadt wirkt. In PUBLIC ENEMIES sind die Charaktere Schachfiguren, die ein übergeordnetes Schicksal an ihre jeweiligen Positionen gestellt zu haben scheint und deren Anforderungen sie wie selbstverständlich erfüllen.
Auch das gilt für beide Seiten. Purvis wird als Person noch weniger charakterisiert, als es der Film bei Dillinger tut. Dieser Mann ist ein Killer, das beweist sein erster Auftritt, bei dem er Pretty Boy Floyd auf der Flucht von hinten erschießt. Der Film gibt nichts Persönliches über den Mann preis – er hat keine Geschichte, keine Familie und außerhalb des FBI auch kein Leben. Christian Bale spielt ihn fast regungslos, ein gelegentlich angedeutetes Lächeln, ein Blick – mehr gönnt der Schauspieler Purvis nicht. Wird Dillinger zumindest im Ansatz in seinem Verhältnis zu Frechette romantisiert, bleibt Purvis ein kühles Geheimnis. Selbst De Palmas Elliot Ness in THE UNTOCUHABLES, der seinen Schwerpunkt ähnlich setzt und sich auf die Auseinandersetzung des FBI mit Capone fokussiert, hatte mehr Leben, als dieser Mann.
PUBLIC ENEMIES ist ein Film der Oberflächen und damit exemplarisch im Oeuvre des Regisseurs. Oberflächen sind Manns Fetisch, in nahezu allen seinen Filmen beobachtet er sie fast manisch. Regen auf Windschutzscheiben oder Panoramafenstern, Glasfassaden, Autolackierungen, chromblitzende Eingangsbereiche von Banken oder Hotels – immer wieder gleitet seine Kamera, die er oft selber führt, über diese Oberflächen, erfasst sie, tastet sie geradezu ab, verleiht ihnen eine mystische Note, gelegentlich ein Eigenleben, wenn sie zu Spiegelungen oder symbolischen Abbildungen des Innenlebens der Figuren werden, um die sich die Plots seiner Filme drehen. Diese letzte Ebene galt vor allem für Filme wie HEAT, THE INSIDER (1999) oder COLLATERAL. Nicht so in PUBLIC ENEMIES. Hier sind sie Symbole ihrer selbst, das Zeichen wird zu seinem eigenen Signifikat, verweist auf nichts weiter, als das eigene Da-Sein. Die Ausstattung und das Setting des Films sind, wie erwähnt, großartig, doch erstarrt der Film genau darin: In der Großartigkeit seiner eigenen Schauwerte. Manns Film bildet die Zeit, die er behandelt, hyperrealistisch ab, er schwelgt geradezu in den Interieurs, den Dekorationen, den Kostümen, doch dringt er nie unter diese Oberflächen vor, nie bricht er sie auf, nie erfassen wir mehr, als das, was sie uns erblicken lassen. Dadurch entsteht ein hermetischer Eindruck, das Bild einer abgeschlossenen Zeit. In High Definition digital gedreht, springen den Betrachter all die Details des Films geradezu an, doch findet der Betrachter keinen Zugang mehr zu den darunter verborgenen Ideen oder gar Wahrheiten. Und genau darin besteht dann das Problem des Films: Er kann keine eigene Idee vermitteln.
Verglichen mit all den oben genannten Werken, die im Mythos des Gangsters, dem sozialen Umfeld, in dem sowohl der Gangster, als auch der Mythos selbst gedeihen konnten, im historischen Kontext oder der Psychologie der Figuren ihren Mehrwert fanden, die diesen Themen etwas abringen und damit dem Zuschauer auch etwas über sich selbst erzählen konnten, bleibt PUBLIC ENEMIES reiner Schauwert. Er kann dem Sujet nichts eigenes mehr hinzufügen. Er kann keinen Mehrwert generieren. Er kann den Figuren nichts Neues abgewinnen oder einschreiben. So könnte man Mann unterstellen, daß sein Film sich mehr mit dem Film, seiner Geschichte und seinen Kontexten auseinandersetzt, als mit dem, was er inhaltlich behandelt. Eher rekurriert PUBLIC ENEMIES auf andere Gangsterfilme und führt deren Bildsprache in einen neuen, digitalen Kosmos, als daß er tiefere soziale Wahrheiten erkennen will. Dem entspricht die Darstellung Dillingers als Glamour-Boy, dem entspricht aber auch die historisch verbürgte Ermordung des Gangsters vor einem Kino, die Mann geradezu perfekt in diese Anlage des Films passt. Die rauhe Radikalität und Wirklichkeit des brutalen Sterbens im Kugelhagel kontrastiert mit der Leinwandrealität, derer Dillinger, seine Begleiterinnen und wir als Zuschauer eben noch gewahr wurden. Im Kino betrachtet Dillinger Clark Gable in MANHATTAN MELODRAMA (1934), der damit endet, daß Gable als verurteilter Mörder lieber auf dem elektrischen Stuhl endet, als begnadigt lebenslang hinter Gittern zu sitzen. Wie eine vorweggenommene Apotheose des eigenen Lebens und des eigenen Sterbens Dillingers kann das gelesen werden – und für einen Moment fallen Realität und Filmwirklichkeit in eins. Es ist bekannt, daß die Bosse in den 30er Jahren die Filme über sich liebten. Mann greift also auch diese Ebene der Vermischung von Realität und Fiktion auf, indem er Dillinger beim Betrachten eines Gangsterfilms zeigt. Wie Dillinger sich selbst sieht, ist auch die Leinwandpersona, die Gable darstellt, ein romantischer Held.
Im Oeuvre von Michael Mann steht PUBLIC ENEMIES sicher nicht an erster Stelle, er belegt wahrscheinlich nicht mal einen der vorderen Plätze. Aber wie das bei den Großmeistern des Regiefachs so ist – wirklich schlechte Filme liefern sie ebenfalls nur selten ab. Trotz seiner emotionalen Kälte und inneren Distanz zum Sujet und den Figuren, bleibt PUBLIC ENEMIES ein aufregender Film, ein Film, der über eine Laufzeit von fast zweieinhalb Stunden fesselt, Spannung erzeugt und auch unterhält. Sein eigentliches Thema ist wahrscheinlich das Genre des Gangsterfilms selbst und wie es in digitalen Zeiten in einem zeitgenössischen Rahmen verpackt werden sollte. Es ist ein Metafilm, der vielleicht für Filmemacher interessanter ist, wirkt er doch wie eine Abhandlung über das Genre selbst, seine Annäherung an die Thematik und darüber, wie sich Filme im Verlauf der Zeit damit beschäftigt haben. Mann fügt nun seine eigene Ästhetik, seine eigene stilistische Herangehensweise hinzu. Allein dies zu beobachten, lohnt.