SELMA
Bildgewaltiges und brillant gespieltes Drama
Trotz des Friedensnobelpreises, den er erhalten hat, geht für Martin Luther King (David Oleyowo) der Kampf gegen Unterdrückung und Ungleichheit weiter. In Birmingham sterben vier kleine Mädchen durch ein Bombenattentat auf eine Kirche, in Selma, Alabama, wird Schwarzen weiterhin das Wahlrecht verweigert. Der SCLC (Southern Christian Leadership Conference), dem King vorsteht, geht nach Selma, um von hier aus einen Marsch auf die Hauptstadt von Alabama, Montgomery, zu starten. Die örtliche Organisation des SNCC (Student Nonviolent Coordinating Committee) steht Kings Haltung und seinen Versuchen gespalten gegenüber. Zwar teilt man die pazifistische Einstellung, obwohl auch das bereits in Frage gestellt wird, doch legt man mehr Wert auf die Stärkung schwarzen Bewußtseins, als an tagespolitischen Entscheidungen teil zu nehmen. King versucht, zwei Vertretern des SNCC klar zu machen, daß man im Grunde für die selbe Sache, aber auf unterschiedlichen Ebenen kämpfe. Er fordert von seinen jungen Freunden Aufklärung über den örtlichen Sheriff Jim Clark (Stan Houston), der sehr brutal sein soll. Es kommt zu einer ersten Demonstration vor dem Verwaltungsgebäude, Clark und seine Männer gehen mit äußerster Brutalität gegen ihre Gegner vor. Bei den anschließenden Jagdszenen in der Stadt, wird der junge Jimmy Lee Jackson erschossen. King und seinen Leuten wird einmal mehr deutlich, wie gefährlich ihre Mission ist. Mehrfach reist King nach Washington, um mit Präsident Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) über eine Gesetzgebung zu reden, die es den Schwarzen sofort ermöglicht, an Wahlen teil zu nehmen. Johnson versucht, King die Zwänge der Realpolitik zu vermitteln, doch versteht er nicht, daß er es bei King eben nicht mit einem Politiker zu tun hat, sondern mit einem Mann auf einer Mission, der sich als Prediger versteht. In Selma kommt es zu einem ersten Marsch auf die Edmund-Pettus-Bridge, über die der Zug gen Montgomery ziehen soll. Die Polizei macht die Straße zu und fällt erneut mit unfassbarer Gewalt über die Menschen her. Dies ist der sogenannte „Bloody Sunday“. Ein Aufschrei geht durch das Land. King, der durch Indiskretionen des FBI Probleme mit seiner Frau Coretta (Carmen Ejogo) hat, die immer ebenso selbstlos wie selbstverständlich an seiner Seite stand, und deshalb an diesem ersten Marsch nicht teilnehmen konnte, eilt nun nach Selma, um einen erneuten Marsch anzuführen. Es kommen Sympathisanten aus dem ganzen Land zusammen, bei weitem nicht nur Schwarze. Am darauffolgenden Dienstag marschieren die Menschen, nun angeschwollen auf eine Menge von nahezu 2500 Demonstranten, erneut auf die Brücke zu, Martin Luther King an ihrer Spitze. Die Polizei macht den Weg frei, was die meisten als gutes Zeichen werten, nicht so aber King. Er dreht um und geht zurück. Dies wurde der „Turnaround Tuesday“. Nun beginnt ein Spiel mit den Gerichten und der Polizei. Schließlich wird den Demonstranten von einem Bundesgericht erlaubt, den Marsch anzutreten, der „angemessen“ sei in Anbetracht des zu „erreichenden“ Ziels. Der Marsch dauert vier Tage. Er setzt Washington derart unter Druck, daß Johnson in einer der berühmtesten Fernsehansprachen der amerikanischen Geschichte auf die himmelschreiende Ungerechtigkeit aufmerksam macht und ankündigt, ein Gesetz zu erlassen, daß Schwarzen und allen Minderheiten Angehörigen Wahlen überall im Land ermöglicht. Der ‚Voting Rights Act‘ wurde schließlich am 6. August 1965 unterschrieben.
Für einige – und darunter nicht nur Schwarze, wie der Film nicht vergisst zu erwähnen – endeten diese Tage tödlich. Unter anderem wurde die Chicagoer Hausfrau Viola Liuzzo von Anhängern des Klans ermordet, als sie Teilnehmer des Marsches heimfahren wollte.
1965 war für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung ein entscheidendes Jahr. Die Vorkommnisse in Selma, Alabama, wo der SCLC um den Prediger, Freiheitskämpfer und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King sich massiv für das Wahlrecht der Schwarzen einsetzte, führten zum ‚Voting Rights Act‘, der endgültig alle Hürden beseitigte, welche die Einzelstaaten weiterhin gegen geltende Bundesgesetze errichtet hatten, um die afroamerikanische Bevölkerung von allgemeinen Wahlen auf kommunaler, auf Staats- und Bundesebene abzuhalten. Selma war deswegen so wichtig, weil hier an einem Ort ein bestimmtes Unrecht klar benannt und definiert werden konnte. Sicher, seine berühmte „I have a dream“-Rede hatte King damals bereits gehalten, der berühmte Marsch auf Washington hatte bereits stattgefunden, doch wurde die Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegung erst in den Jahren 1964, 65, 66 wirklich hässlich, auch, weil ihre Erfolge deutlicher zu Tage traten. In Mississippi wurden 1964 drei Bürgerrechtsaktivisten, die Afroamerikaner dazu aufriefen, sich registrieren zu lassen, um wählen zu können, vom Ku-Klux-Klan ermordet, bereits 1963 hatte es in Birmingham, der Hauptstadt von Alabama, fürchterliche Szenen gegeben, als die Rassentrennung aufgehoben werden sollte und unter dem Sheriff „Bull“ Connor neben jungen Männern, Frauen und anderen, fremden Aktivisten auch Kinder mißhandelt wurden. Ebenfalls in Birmingham hatte es im September 1963 einen Bombenanschlag auf eine Kirche gegeben, bei dem vier schwarze Mädchen zu Tode kamen. Wesentlich war, daß King in seinem Umfeld die Gewaltlosigkeit als Waffe durchsetzte. Durch ihre gewaltfreien Aktionen, die bestenfalls zivilem Ungehorsam gleichkamen (Besetzungen von Straßenkreuzungen etc.), wurden ihre Gegner, die immer häufiger zu immer brutalerer Gewalt, bis eben hin zum Mord, griffen, entlarvt. Daß der Kampf, den Martin Luther King führte auch heute noch andauert, daß sein Ziel, die Gleichheit für die Schwarzen in den USA zu erringen, auch heute nicht verwirklicht ist, das wissen wir. Sein Weg aber wurde am 4. April 1968 gewaltsam beendet.
Wenn man also im Jahr 2014 einen Film über die Ereignisse in Selma dreht, sollte man sich natürlich überlegen, was man damit bezweckt? Soll dies ein Denkmal für jene sein, die auf dem langen Marsch in die Freiheit ihr Leben gelassen haben? Soll dies eine Mahnung sein, daß der Weg noch nicht zuende ist und noch sehr viel zu tun bleibt? Die Straßen der USA sind immer noch Kampfzonen, die häufigsten Todesursachen schwarzer Männer unter 30 Jahren sind nach wie vor Schussverletzungen, nach wie vor kämpfen Menschen dunkler Hautfarbe um Gleichbehandlung und Rechte, die andere, Weiße vornehmlich, wie selbstverständlich in Anspruch nehmen. Es gäbe also eine Menge zeitgenössische Themen, die die gegenwärtige Lage der Schwarzen reflektierte. Spike Lee (MALCOLM X/ 1992 u.v.a.), John Singleton (BOYZ N THE HOOD/1991; SHAFT/2000) oder zuletzt F. Gary Gray (STRAIGHT OUTTA COMPTON/ 2015) haben dies getan und dabei mal mehr, mal weniger aufregende und relevante Zeichen über ihr eigentliches Thema hinaus gesetzt. Vor allem Spike Lee verstand sein Wirken immer als ein politisches, das über den Anspruch eines Filmkünstlers weit hinausreichte.
Ava DuVernay wählt in ihrer ersten Großproduktion SELMA (2014) den Weg des Denkmals. Akkurat in Setting und Design, in Kulisse und Kostüm, mit einem erlesenen Stab aus hervorragenden Schauspielern, rekonstruiert sie die Ereignisse jener Monate im Sommer 1965, die schließlich zum ‚Voting Rights Act‘ führten. In großen Bildern werden große Gefühle präsentiert und ein Eisklotz, wer dabei keine Träne verdrückt. Im Spannungsverhältnis zwischen der öffentlichen Figur, die er ist und in deren Rolle er mit den eigenen Leuten disputieren und mit dem Präsidenten Lyndon B. Johnson verhandeln muß, und der Privatperson, die nicht nur manchmal schwach ist, manchmal verzagt und unsicher, vor allem aber auch als Ehemann nicht zwingend treu und deshalb angreifbar, wird King hier allerdings vom Monument in einen Menschen rückverwandelt. Dadurch bekommt der Kampf zutiefst menschliche Züge und das Drama, das sich vor dem Zuschauer entfaltet, wird umso tragischer, umso eindringlicher, weil man begreift, daß hier Menschen um ihr Recht kämpfen, Mensch zu sein. Das gelingt DuVernay hervorragend. Tief tauchen wir ein in Zeit- und Lokalkolorit, spüren die Hitze des Südens und die dumpfe Gewaltbereitschaft, die in diesem Sumpfklima ausgebrütet wird. Hass um seiner selbst willen und der Glaube, daß wenigstens noch die Hautfarbe einen zu etwas Besserem macht, lassen die Gräben zwischen den Fraktionen immer tiefer und immer unüberbrückbarer werden. Die Verzweiflung, mit der sich hier Menschen gegen ein ihnen als unentrinnbar vermitteltes Schicksal auflehnen, ist mit Händen zu greifen. Die Dialektik aus Aktion und Reaktion ist selten so gut auf der Leinwand zu beobachten gewesen.
Ein Problem solcher historisch Verbürgtes erzählenden Dramen ist eben die Dramatisierung selbst. Schnell neigen die Figuren in Werken wie diesem schon beim Verkünden profanster Weisheiten zum Proklamieren. Antworten auf eine Frage wie: Sollen wir morgen über die Brücke gehen?, werden dann schon mal zu minutenlangen Monologen über den Wert des aufrechten Gangs etc.. Vieles, was in den Dialogen in SELMA gesagt wird, ist wichtig und richtig, es gelingt dem Buch von Paul Webb vor allem auch, die Zerrissenheit innerhalb der Bürgerrechtsbewegung darzustellen. Fragen nach schwarzem Bewußtsein und danach, ob Gewaltlosigkeit der richtige Weg ist, kommen ebenso zur Sprache, wie die damals immer stärker in den Fokus rückende Frage nach dem Zusammenhang von Rasse und Klasse. In einem eindringlichen Dialog stellt King einem Freund gegenüber fest, daß die ganze Gleichheit und Gleichberechtigung und Emanzipation nichts brächte, wenn man an der neugewonnenen Freiheit mangels ökonomischer Potenz gar nicht teilhaben könne. Daß all diese Fragen meist staatsmännisch und getragen erörtert werden, mindert nicht den Wahrheitsgehalt, macht nur das Zuhören manchmal ein wenig anstrengend. Doch ebenso eindringlich werden wir Zeugen der ehelichen Auseinandersetzungen im Hause King, die durch gezielte Indiskretionen des FBI hervorgerufen werden. Ohne diesen Aspekten des King´schen Charakters zu viel Raum zu geben, nutzt Webb die Seitensprünge geschickt, um die überlebensgroße historische Figur „Martin Luther King“ zu erden. Das Drama, es wurde bereits erwähnt, erhält dadurch ein viel spezifischeres Gewicht.
Doch so, wie Kings Traum-Rede wie ein Monument unter den rhetorischen Spitzenleistungen des 20. Jahrhunderts steht, so ragen die Ereignisse des März 1965 aus den stürmischen 1960er Jahren heraus, wie wenige andere. Diese Ereignisse filmisch zu würdigen kann schnell den Eindruck vermitteln, das Geschehene als etwas Abgeschlossenes zu begreifen. Ganz sicher läuft SELMA diese Gefahr. Es ist eine Feier jener Frauen und Männer – wobei gesondert erwähnt sei, daß DuVernay der Rolle der in den Geschichtsbüchern oft namenlosen Frauen gerecht wird, die maßgeblich an den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung beteiligt waren, ohne dies als etwas außergewöhnliches zu interpretieren; es entsteht der nahezu natürliche Eindruck, daß hier vergleichsweise gleichberechtigt Hand in Hand gearbeitet wurde – die diesen Kampf ausgefochten und scheinbar auch gewonnen haben. Ein Vermächtnis, daß mit der Wahl Barack Obamas zum ersten Schwarzen ins Amt des Präsidenten abgerundet schien und von dem man doch Woche für Woche, manchmal Tag für Tag, feststellen muß, daß es keineswegs selbstverständlich ist. Erst recht nicht in Mississippi, Alabama oder Louisiana.
Das Mitwirken der Talkmasterin Oprah Winfrey – deren Firma maßgeblich an der Produktion des Films beteiligt war – in einer nicht unbedeutenden Nebenrolle, schlägt allerdings einen Bogen in die Gegenwart, wirkt in der puren Ikone, die „Oprah Winfrey“ darstellt, der reinen Historisierung des Geschehens entgegen. Daß diese Frau, die seit nunmehr über 25 Jahren die erfolgreichste Talkshow des U.S.-Fernsehens moderiert, auf der Forbes-Liste der mächtigsten Menschen der Welt unter den ersten Hundert geführt wird und die erste schwarze Milliardärin ist, diese Erfolge feiern konnte – und das versteht sie, gebürtig aus Mississippi, ganz genau – verdankt sie genau den Opfern, die der Film in manchmal verstörenden Szenen menschlicher Brutalität und Gehässigkeit zeigt. Beschönigt wird hier definitiv nichts. Und dennoch wird auch nicht angeklagt. Dies ist auch ein Film der Versöhnung und steht damit durchaus in der Tradition Martin Luther Kings. So gesehen, hat man es bei SELMA durchaus zwar mit einem Mahn- und auch Denkmal zu tun, allerdings mit einem durchaus virulenten, das uns Heutigen mehr zu sagen hat, als auf sich selbst verweisend die Gegenwart zu leugnen. Bestenfalls gemahnt uns ein Film wie dieser daran, daß der gezeigte Kampf nie endet, nicht hier und nirgends, solange noch Menschen von Menschen in ihrer Entfaltung behindert werden. Die Lehren Martin Luther Kings darf man wohl getrost übertragen auf allgemeines menschliches Leid und Unrecht, das es zu bekämpfen gilt, immer und überall.