SPIDER

Ein Wendepunkt im Schaffen David Cronenbergs

Dennis „Spider“ Cleg (Ralph Fiennes) kehrt als erwachsener Mann aus einer Psychiatrie nach London zurück, wo er in der Pension von Mrs. Wilkisnon (Lynn Redgrave), einer Art „betreutes Wohnen“, Unterschlupf findet. Mrs. Wilkinson führt ihr Haus mit strengem Regiment, was für den hypersensiblen, immer aufmerksamen, seine Umgebung ununterbrochen mit Argusaugen beobachtenden „Spider“ schwer zu ertragen ist. Er beginnt, ausladende Spaziergänge durch das East End der Stadt zu machen, wo er selber aufwuchs. Immer häufiger begegnet er dabei Schauplätzen seiner Kindheit und immer häufiger wird er von Erinnerungen an eben diese Kindheit überwältigt: Wie sein Vater (Gabriel Byrne) die Mutter (Miranda  Richardson) mit der Prostituierten Yvonne (ebenfalls Miranda Richardson) betrog, wie beide gemeinsam die vom Jungen über alles geliebte Mutter umbrachten, als diese sie in flagranti erwischte und es anschließend zu immer heftigeren Auseinandersetzungen zwischen dem Vater und seinem Sohn kam, behauptet der Alte doch schlicht, es habe nie eine Yvonne gegeben, da sei nur Mrs. Cleg, seine Frau. Während der junge „Spider“ von seinem erwachsenen Ich, das immer öfters auch in Erinerungen „einsteigt“, die er nicht haben kann, da sie Dinge betreffen, bei denen er nicht anwesend war, beobachtet wird, wird die Welt des Erwachsenen immer brüchiger, sieht Mrs. Wilkinson doch immer mehr aus wie Yvonne – oder Mrs. Cleg? „Spider“ – den das der Pension, die an einem innerstädtischen Kanal liegt, gegenübergelegene Gaswerk verängstigt, der Geruch des Gases scheint ihn vollkommen zu verwirren – gelingt es kaum mehr, Gegenwart, Erinnerung und Vision, bzw. das Konstrukt dessen, was er erinnert, auseinanderzuhalten, wodurch die Situation mit Mrs. Wilkinson auf eine erneute Katastrophe zuführt – wie damals, als der junge „Spider“ die Mutter dadurch rächen wollte, daß er mit einem gigantischen Netz quer durch das elterliche Haus die Gashähne derart manipulierte, daß Yvonne – oder „Spiders“ Mutter? – durch das austretende Gas vergiftet und der Junge für etliche Jahre in eine Heilanstalt verfrachtet wurde. Ein Schicksal, daß nun erneut auf ihn wartet, als der Anstaltsleiter bei der Pesnion vorfährt und „Spider“ bittet, einzusteigen…

SPIDER (2002) ist ein abgrundtief trauriger Film, ein Film, der von nichts anderem erzählt, als von Einsamkeit. Jener Einsamkeit, die im Kopf entsteht, sich dort ausbreitet und dort auch zu dem kommt, was man ihre „Vollendung“ nennen könnte. Eigentlich ist damit alles gesagt. Was die Trostlosigkeit umso erschütternder macht.

SPIDER markiert im Oeuvre seines Regisseurs einen Wendepunkt, könnte man heute sagen, nachdem man dessen weiteren kreativen Weg kennt. Immer noch ein „Horrorfilm“, wie man Cronenbergs Filme in Ermangelung besserer Kategorien und wahrscheinlich aus Furcht, diesen Albträumen sonst nicht Herr werden zu können, einzuordnen pflegt, ist dies doch ein radikale Abkehr von jenem „Body Horror“, dem Cronenberg sich aus guten Gründen nicht zuordnen lassen will. Die Metamorphosen, die er so hyperrealistisch, so megakonkret zeigt, haben immer auch allegorischen Charakter, selten sind seine Stilübungen in Gore, wie bspw. in THE FLY (1986), Selbstzweck oder reines Spektakel; immer verbirgt sich in dem, was wir auf der Leinwand sehen und so explizit geboten bekommen, mindestens eine weitere Ebene. Die zerplatzenden Köpfe in SCANNERS (1981) sind auch Symbole einer (jugendlichen?) Kraft, die unbedingten Ausdruck erfahren will, einer Befreiung des Geistes, die durchaus die Experimente mit allen möglichen Drogen der damals zurückliegenden fünfzehn Jahre spiegelte; das fürchterlich verwachsene Wesen, das schließlich in THE FLY aus dem letzten Teleporter plumpst und deutliche Spuren einer Symbiose mit der zweiten dieser Maschinen aufweist, kann auch als früher Kommentar auf die biomechanischen Technologien angesehen werden, die heute kurz vor der Verwirklichung scheinen; die Brut, die in THE BROOD (1979) Oliver Reed attackiert und welche Samantha Eggar gebiert – hier wird die Verbildlichung psychischer Vorgänge bei Cronenberg erstmals evident – sind schon in der Handlung des Films als materielle Ausgeburten der Wut einer Frau und Mutter auf ihre Umwelt definiert. Im „Body Horror“ hingegen tummelt sich so mancher, dessen Anliegen der reine Schauwert der Zerstörung ist.

Nichts von all den soeben geschilderten Grausamkeiten in SPIDER. Cronenberg verlässt sich auf die Atmosphäre, die ein graues, verwaschenes, scheinbar zeitloses London schafft, er verlässt sich auf die Bilder, die er und Kameramann Peter Suschitzky, mit dem der Regisseur seit DEAD RINGERS (1988) zusammenarbeitet, für ihre Geschichte finden und schließlich verlässt Cronenberg sich auf Ralph Fiennes, der hier ein superbes Spiel abliefert und diesen paranoiden Schizophreniker wie hermetisch abgeschlossen, als unerreichbar darstellt, intensiv, umgeben von einer Aura tiefster Melancholie, was ein hohes Maß der Wirkung des Films ausmacht. Der Autor der Vorlage Patrick McGrath zeichnete auch für das Drehbuch verantwortlich, doch gingen wesentliche Impulse von Cronenberg aus. So war er es, der die Erzählerstimme aus dem Script entfernte, was Dennis „Spider“ Cleg noch in sich gekehrter wirken lässt. Wir hören seine Stimme lediglich, wenn er, gefangen in einem Konglomerat aus Erinnerungen und Visionen, Ideen und Vorstellungen, seinem jüngeren Ich entweder die Worte in den Mund legt, oder aber nachspricht. Man achte sehr genau darauf, wann er was tut. „Spider“ ist also ein nahezu stimmloses Wesen, angesprochen wispert er unverständliche Silben und Halbwörter, manchmal kann man ein geflüstertes Wort ausmachen. Ebenso war es Cronenbergs Idee, ein nahezu entvölkertes London zu präsentieren, eine Stadt, eine urbane Landschaft, eine „urban landscape“, die einer „mind map“ entspricht. Es dauert, bis der Zuschauer die Besonderheiten des Erzählstils begreift, begreift, daß er es mit einer radikal subjektiven Sichtweise aus „Spiders“ Perspektive zu tun hat. Wirklich zu Bewußtsein kommt dies, wenn wir beim vermeintlichen Mord an Mrs. Cleg anwesend sind und verstehen, daß der junge Dennis dies nicht beobachtet, der erwachsene „Spider“ also auch keine Erinnerung an die Geschehnisse im nächtlichen Garten haben kann. Es ist dies der Moment, in welchem man anfängt an dem ganzen Konstrukt dieses Films zu zweifeln. Ein brillanter narrativer Zug.

Unterstützt wird dies durch Cronenbergs wie nebenher wirkende Inszenierung. Wenn wir dem erwachsenen „Spider“ in die Räume seiner Kindheit und somit in seine Erinnerungen, Träume und Visionen folgen, macht Cronenberg keinen Unterschied, nutzt keine technischen Mätzchen, unterlässt jedwede Abgrenzung von Erinnertem und Erinnerndem. So ist „Spider“ in all diesen imaginierten Situationen anwesend. Sein Vater schiebt sich an ihm vorbei, als sei er da, stünde in der Ecke, nähme Teil am Leben und sei doch unsichtbar, vergessen, transparent. Zugleich ist der junge Dennis, ebenfalls schon „Spider“ genannt, anwesend und der Erwachsene beobachtet sein jüngeres Ich, als wolle er anhand dieser Beobachtungen begreifen, verstehen, wie es kommen konnte, wie es jetzt ist und weshalb er all die vielen, vielen Jahre in der Psychiatrie verbracht hat. Und dann sind da die raren Momente der Erkenntnis, wenn „Spider“ wirklich begreift, den eigenen fürchterlichen Irrtum begreift – oder eben auch nicht, scheinen doch Vergangenheit und Gegenwart in Mrs. Wilkinsons Pensionat für psychisch Instabile ineinander zu fließen und das eine wie das andere nur durch drastische Maßnahmen zu schützen zu sein. Diese Momente stilisiert Fiennes, sprachlos, wimmernd, zu solchen fürchterlicher Verzweiflung. Es ist selten derartige Ausweglosigkeit im Film gezeigt worden. Aus diesem Labyrinth innerer Konflikte, Widersprüche, aus Schuldgefühlen, Ängsten und Hilflosigkeit gibt es schlicht kein Entrinnen mehr. Wenn der Anstaltsleiter „Spider“ schließlich wieder abholt, ist dies folgerichtig, dementsprechend unaufgeregt und undramatisch wird es geschildert.

David Cronenberg, der sich als Existenzialisten sieht und den Körper als Axiom, unabänderliche Bedingung unseres Daseins – eine Haltung, die sich durchaus in SPIDER widerspiegelt – war immer und vor allem an dem interessiert, was aus dem Menschen heraus kommt, sei es die Idee, sei es die Kreativität, sei es der Forschergeist. Doch mit all dem kommt eben auch Metastase (VIDEODROME/1983), Wut (SCANNERS; DEAD RINGERS), Obsession (CRASH/1996), PSYCHOSE (SPIDER) hervor. Der Geist gebiert die Ideen, aber auch die Monster (THE BROOD), die zwangsläufig auf der Kehrseite jedweder Idee hausen. SPIDER allerdings markiert, nach dem biotechnischen Ableger eXistenZ (1999), eine Abkehr von den deutlicher im Surrealen, im Horror, Gore und Splatter verorteten Werken, hin zu realistischeren, darin auch weniger drastischen, subtileren Stoffen. Ein Weg, der schließlich in dem kammerspielartigen Analytikerdrama A DANGEROUS METHOD (2011) gipfelt. Anders als dieser oder auch dessen Nachfolger COSMOPOLIS (2012), einer der wenigen wirklich unbefriedigenden Filme Cronenbergs, orientiert sich SPIDER inszenatorisch und auch in der Auswahl von Locations und Schauspielern allerdings durchaus noch an des Regisseurs frühere Vorlieben für eher runtergekommene, „gotisch“ anmutende Industrie- und Stadtlandschaften.

SPIDER funktioniert nicht (mehr) als Horrorfilm, weil er sich in seinem extrem langsamen Tempo, das sich den vorsichtig gesetzten Schritten des Hauptprotagonisten anzupassen scheint, weder Spannungsaufbau noch Dramatik gönnt, als Drama funktioniert er hingegen noch nicht, weil uns dafür zu wenig Identifikationsmöglichkeiten geboten werden. Spätestens wenn wir begreifen, daß wir uns unabänderlich im Kopf dieses uns so fremden Mannes bewegen und nahezu alles, was wir sehen, aus seiner Perspektive sehen, beginnen wir innerlich damit, uns abzugrenzen. Wir betrachten die gnadenlose, bebilderte Analyse eines schweren psychischen Defekts und werden nach und nach in die Schwere hineingezogen, die dies für Dennis „Spider“ Cleg bedeutet. Umso erleichternder ist dann der Schluß, der uns aus diesem Schicksal wieder entlässt und zudem suggeriert, daß es schon seine Richtigkeit hat mit dem, was diesem Mann weiterhin wohl widerfährt. Diese innere Distanz lässt den Zuschauer erstaunlich unemotional auf den Werdegang der Ereignisse blicken. Was verfängt und bleibt, ist die Einsamkeit dieses Mannes. Egal, ob seine Geschichte stimmt oder Hirngespinsten entspringt, egal, ob er seine leibliche Mutter getötet oder „nur“ gerächt hat, worüber uns der Film nie Auskunft gibt – in ihm drin, in den Labyrinthen seiner Welt, ist er vollkommen allein. Hier muß er die Zeichen lesen, wieder und wieder, jedes Zeichen – Risse im Asphalt, Schatten an der Wand, Haltungen der Menschen – und sie in seinem Notizbuch in einer selbstgefertigten Geheimschrift (die Fiennes wohl selbst erfunden hat) festhalten.

Genau davon berichtet uns Cronenberg, der natürlich – auch wenn er das weit von sich weisen würde – eben doch auch Humanist und sogar ein Moralist ist und somit tiefes Mitgefühl mit der Kreatur empfindet. Ob „Spider“ nun zurecht oder zu Unrecht zum Mörder wurde, ob er noch Verbindung mit einer der unsrigen vergleichbaren Wirklichkeit hat oder nicht – es ist ein menschliches Wesen, das leidet. Das bleibt im Kern. Und dies erfahrbar zu machen, leistet Cronenberg mit SPIDER einmal mehr.

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