THE HOUSE THAT JACK BUILT

Lars von Trier legt Rechenschaft an - über sein Schaffen, die Kunst und die Frage, was gelingen kannn und was nicht

Eine schwarze Leinwand. Zwei Stimmen. Die eine fordert die andere auf, ihr zu berichten. Aus dem Leben. Die andere Stimme erwidert, sie werde erzählen, aber ohne inneren Zusammenhang, willkürlich. Fünf Begebenheiten auf dem Weg dorthin, wo sich die Träger der Stimmen nun befinden.

Im Laufe der folgenden 153 Minuten Filmzeit wird dieser Dialog im Off immer weiter geführt. Es sind die Stimmen von Jack (Matt Dillon) und Verge (Bruno Ganz). Sie befinden sich auf dem Weg in die Hölle, hinab in die Höllenkreise, dorthin, wo Verge Jack abliefern soll.

Jack erzählt von fünf Ereignissen in seinem Leben als Serienmörder.

Er tötet wahllos, mal bei sich bietender Gelegenheit, mal geplant, mal impulsiv, mal akkurat. Seine Opfer sind meist Frauen – in den fünf geschilderten Episoden sieht man nur die Morde an Frauen – erklärt aber, auch Männer getötet zu haben. Man sieht verschiedene dieser Morde: An einer Frau, deren Wagen in der Einöde liegen geblieben ist; an einer alten Dame, deren Leiche Jack bis zur Unkenntlichkeit hinter seinem Wagen herschleift; an einer Joggerin, die bei Nacht am Straßenrand entlangläuft; an einer Familie – einer Mutter und ihrer beiden Söhne – die Jack Tieren gleich auf einer Waldlichtung jagt und erlegt usw.

Jack ist ein Ingenieur, der lieber ein Architekt geworden wäre, was sein Vater ihm jedoch verwehrt hat.

Durch eine Erbschaft ist Jack weitestgehend frei und unabhängig. Er baut ein Haus auf einem Grundstück, das er einst erworben hat. Das Haus wird nie fertig, auch, weil er sowohl an seinen Entwürfen, den Modellen, als auch  an seinen Baustoffen zweifelt. Mehrfach lässt er das bereits halbfertige Haus wieder einreißen.

Jack sieht sich vor allem als Künstler. Er vertritt starke Thesen zur Kunst, die sich seiner Meinung nach aus Vergänglichkeit speist. Er ist fasziniert von Verwesung, von Bauruinen, von der Endlichkeit des Lebens. Allen Lebens. Seine Thesen und Theorien unterstützt er mit in den Film eingespeisten Bildern, Filmeinsprengseln, Musik und Ikonen. Es ist eine Tour de Force durch die europäische, abendländische Kulturgeschichte. Dabei schreckt Jack nicht davor zurück, die Nazis, vor allem Albert Speer, als Künstler eines gewaltigen Gesamtkunstwerks zu betrachten.

Jeder Mord, so Jack, sei ein Kunstwerk. Aus all seinen Morden setze sich ebenfalls ein gewaltiges Gesamtkunstwerk zusammen.

Verge versucht, Jacks Selbstbewußtsein durch Einwände zu durchbrechen. Müsse nicht die Liebe immer Basis aller Kunst sein? Jack weist dies zurück. Auch die Liebe sei vergänglich.

Jack ist ein Neurotiker und Paranoiker. Er hat einen ausgeprägten Ordnungssinn, der ihn selbst dann noch Tatorte reinigen lässt, als die Polizei praktisch schon vor der Tür steht.

Jack ist wohl ein Psychopath, doch alle pathologischen Erklärungsversuche führt Jack ad absurdum.

Jack mißhandelte schon als Kind Tiere. Er schnitt Entenküken die Beine ab und betrachtete ihre verzweifelten Versuche, nicht zu ertrinken, nachdem er die Tiere wieder ins Wasser gesetzt hatte. Eine allgemeingültige Binsenwahrheit über Serienmörder: Frühkindlicher Sadismus.

Jacks glücklichste Erinnerung, ist die an die Männer seiner Heimat, die mit altertümlichen Sensen das Gras auf den Feldern mähten.

Die Leichen seiner Opfer deponiert Jack in einem angemieteten Kühlhaus,, das über eine Tür verfügt, die Jack nicht öffnen kann.

Jack nutzt die Leichen, um teils groteske Arrangements einzurichten, er fotografiert die steifen Körper in bizarren Posen, gelegentlich nimmt er sich die Leichen selber vor und bearbeitet sie so, daß puppenartige Figuren entstehen. Grinsende, verrenkte, entstellte Figuren.

Jack wird in seinen Morden immer maßloser, zugleich wirkt er auch zunehmend gelangweilt.

Jack hat eine Freundin, die er aber ebenfalls tötet, nachdem er ihr die Brüste abgeschnitten hat.

Aus einer der Brüste hat Jack sich eine Geldbörse genäht, einen Fetisch, den er nach eigener Aussage aber nur bei sich trägt, weil Serienkiller sowas eben tun. Sich selbst nennt er „Mr. Sophisticated“, was aber auch eher der Tradition herkömmlicher Serienmörder geschuldet ist. Gemeinhin werden solche Namen durch die Öffentlichkeit, die Presse vergeben. Jack will aber die Kontrolle behalten und übernimmt dies deshalb gleich selbst.

Jack entführt mehrere Männer, weil er ein Experiment nachstellen will, daß die Nationalsozialisten einst versuchten: Da der SS und den Einsatzgruppen am Ende des Krieges die Munnition ausging, probierten sie aus, ob es möglich sei, mit einer Patrone mehrere Gefangene zu töten.

Jacks letztes Entführungsopfer weist ihn darauf hin, daß er kein, wie er annimmt, Volmantelgeschoß hat, um die Köpfe seiner Gefangenen nacheinander zu durchschlagen, sondern ein herkömmliches.

Jack kehrt wutentbrannt zu seinem Waffenhändler zurück und verlangt die richtige Munition. Es regt ihn maßlos auf, daß die Verpackung der Patronen falsch beschriftet gewesen sei. Jacks Ordnungssinn ist nachhaltig erschüttert.

Nachdem er auch einen seiner wenigen Freunde getötet hat, da dieser ihn durchschaut, in Folge dessen aber auch einen Polizisten, wird Jack von der Polizei verfolgt. Während er schließlich die Versuchsanordnung durchspielen will, hat die Polizei bereits das Kühlhaus erreicht und beginnt, die schwere Tür aufzuschweißen. Jack kann das Experiment nicht durchführen. Er öffnet schließlich die Tür, die bisher fest verschlossen war, und trifft dahinter auf einen Mann – es ist Verge.

Verge hilft Jack, ein Haus aus den tiefgefrorenen Leichen in der Kühlkammer zu bauen. In dem Haus öffnet sich ein Schacht. Verge fordert Jack auf, dort hinein zu steigen.

So kann Jack zwar entkommen, betritt aber nun die Höllenkreise.

In einem Epilog wird der Zuschauer Zeuge des Höllenabstiegs des Serienmörders. Verge zeigt ihm die unterschiedlichen Kammern und Räume, die sich hier auftun. Auch ein letzter Blick auf jenen Ort, an den Jack niemals kommen wird, gewährt Verge seinem Gast: Es ist jenes Feld seiner Kindheit, wo die Männer das Gras mähen.

Jack, interessiert an jedweder Erfahrung, bittet Verge, ihn bis in die tiefsten Tiefen der Hölle zu führen. Dort angelangt, gelangen sie an einen Abgrund ohne Boden, einen gähnenden Schlund, in den ein ewiger Strom heißer Lava fällt. Hinter dem Abbgrund führt ein Gang nach oben. Verge erklärt, das sei ein Ausgang aus der Hölle. Jack will versuchen, an den Wänden der Höhle, in der sie sich befinden, entlang um den Abgrund herum zu klettern. Verge erklärt, dies sei nie jemandem gelungen. Jack versucht es dennoch. Auf halbem Wege verlassen ihn die Kräfte. Er stürzt.

Unendlich. Bis in alle Ewigkeit.

 

Was ist Kunst? Was darf Kunst? Was kann Kunst? Was kann oder soll Kunst erreichen? Fragen, so alt, daß sie mittlerweile wie Binsen wirken, Fragen, die letztlich nicht zu beantworten sind. Nicht in der Theorie, nicht im Diskurs und wenn überhaupt, dann wahrscheinlich nur von Künstlern. Und wie kann der Künstler diese Fragen beantworten? Vielleicht, indem er sich radikal, ehrlich, schmerzhaft ehrlich mit dem eigenen Werk auseinandersetzt, es hinterfragt, sich hinterfragt und vielleicht nur, indem er sich in den Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung setzt – wohl wissend, wie angreifbar er sich damit macht, wie verletzlich er sein muß.

Einer der radikalsten Film-Künstler der vergangenen 30 Jahre ist sicherlich Lars von Trier. Er ist ein (postmoderner) Ästhet, er ist provokativ, er ist intellektuell, er ist verspielt, er ist grausam, er ist voller Lust am Tabubruch. Er ist irritierend, indem er Moral rigoros anwendet und damit ebenso rigoros hinterfragt, er irritiert, wenn er zum Katholizismus konvertiert und (spätestens) seitdem Filme dreht, in denen das Religiöse eine explizite Rolle einnimmt – und darin vor allem katholische Moralvorstellungen in ihrer Historizität. Er hat sich mit seinen Filmen in gefährliche Kreuzfeuer begeben, er hat sich aber als Künstler auch immer mit und zu seinen Werken positioniert. Dabei hat er oft klug agiert, manchmal aber auch dumm – bspw., als er in Cannes zur Uraufführung seines Films MELANCHOLIA (2011) Sympathien für Adolf Hitler bekundete und zudem bekannte, er sei wahrscheinlich ein Nazi. Seine Erläuterungen zu diesen Aussagen wollte dann, verständlicherweise, schon niemand mehr hören – er war stigmatisiert, auf Jahre hinaus nicht mehr willkommen in Cannes und auch auf anderen Festivals. Dies muß erwähnt werden, weil auch in seinem Film THE HOUSE THAT JACK BUILT (2018) erneut Thesen zur Nazi-Problematik auftauchen, die extrem sind und Widerspruch herausfordern. Doch ist es diesmal nicht so einfach, den Künstler anzugreifen, diesmal versteckt er eine fürchterliche Aussage in einem Kunstwerk. In einem allerdings zutiefst bösen Kunstwerk.

Vielleicht muß man diesen Film als ein Meta-Werk bezeichnen, vielleicht ist er nur vor dem Hintergrund gerade der letzten Werke des Lars von Trier zu verstehen. Dafür spricht, daß er an einer entscheidenden Stelle des Films eine ganze Galerie von Szenen aus seinen Werken, vor allem aus ANTICHRIST (2009), in diesen, seinen neuen, vielleicht letzten Film einspeist. THE HOUSE THAT JACK BUILT erzählt zwar die fiktionale Geschichte eines ebenso fiktionalen Serienmörders, doch sollte man sich – auch, bevor man den Film als eine Art Horrorfilm zur Unterhaltung anschaut – vergegenwärtigen, daß man es im Grunde mit einem Film-Essay zu tun hat, der sich ein dramatisches Gewand umhängt. Schon in der ersten Szene wird man mit Blick auf eine schwarze Leinwand mit einem nicht näher definierten Dialog konfrontiert, der sich durch die gesamten 153 Minuten Laufzeit fortsetzt und sich schnell als Gespräch zwischen dem Protagonisten dieses Films – Jack, ein Mörder mit hohem ästhetischen Anspruch und klaren Theorien zur Kunst und zur abendländischen (Kunst-)Geschichte – und einem Gegenüber namens Verge entpuppt. Verge ist schnell als eine moderne Version von Dantes Vergil aus der GÖTTLICHEN KOMÖDIE zu identifizieren, dem Führer des Dichters durch die Höllenkreise und eine Art Deuter dessen, was dort zu sehen ist. Offenbar befindet sich Jack bereits auf dem Weg in den für jemanden wie ihn vorgesehenen Höllenkreis und unterhält sich unterwegs mit seinem Führer, der ihn befragt und zunehmend auch in Frage stellt.

Dieser Jack, der keinen Nachnamen trägt, berichtet von fünf willkürlich ausgewählten „Ereignissen“ (Incidents) seines Lebens als Mörder, die einen Zeitraum von zwölf Jahren umfassen. Daß diese zwölf Jahre 1970 beginnen und etwa 1982 enden, kann man dem Film, seiner Story selbst, nicht wirklich entnehmen, da diese, wie so häufig bei Lars von Trier, abseits sozialer und historischer Kontexte angesiedelt ist. Man kann es aber an den Dekors, der Kleidung der auftretenden Figuren und den Autos, die gefahren werden, ablesen. Diese fünf „Ereignisse“ strukturieren auch den Film, der dann mit einem/r „Epilog/Katabasis“ abgeschlossen wird. Entsprechend der von Jack selbst angekündigten Willkür der ausgewählten „Ereignisse“, wird der Täter psychologisch so gut wie nicht erklärt. Das ist die volle Absicht dahinter, da es hier, entgegen der Annahme vieler Kritiker, die den Film größtenteils ablehnten, nicht um Psychologie oder psychopathologische Erklärungsmuster eines Mörders geht. So willkürlich Jacks  Erzählung, so willkürlich sind seine Taten und so – scheinbar – willkürlich ist die Motivik. In einigen spärlichen Rückblicken auf seine Kindheit, die von Trier in der Ästhetik privater Super-8-Filme präsentiert, sehen wir einerseits Erinnerungen, die aber zugleich ein Kind zeigen, das schon früh damit beginnt, Tiere zu quälen. Da dies aber ein allgemeiner Topos hinsichtlich fast aller näher untersuchten Serienmörder ist – früher, an Tieren begangener Sadismus – , kann man dies kaum als Erklärung gelten lassen. Eher hat man es hier mit einem fast schon zynischen Hinweis darauf zu tun, daß dieser Jack – als Serienkiller – ein ganz „normaler“ Kerl ist, der sich eben in nichts besonders von anderen Typen dieser Art unterscheidet. An anderer Stelle erklärt Jack, er halte es nicht mit seinen Killer-Kollegen, die sich gern Trophäen ihrer Opfer aneignen. Dennoch habe er sich aus der abgeschnittenen Brust einer Freundin eine Brieftasche gebastelt. Wie der Film ein Meta-Film, ist Jack ein Meta-Killer, der das eigene Tun auf unterschiedlichen Ebenen reflektiert.

So kann das Augenmerk auf  Jacks spezifische Herangehensweise an seine Taten gerichtet werden. Einzig der Hinweis, daß Jack, der von Beruf ein Ingenieur ist, aber lieber Architekt geworden wäre, weist auf ein individuelles psychologisches Profil und vielleicht auf ein Motiv der Figur hin: Nicht gelebte Kreativität, ein Potential, das nicht ausagiert, nicht ausgeschöpft werden konnte. Jack, dank einer „beträchtlichen“ Erbschaft wohlhabend und unabhängig, beginnt auf einem von ihm gekauften Grundstück ein Haus zu bauen, das er selbst entwirft. Doch wie die Entwürfe, stören ihn auch die Materialien immer wieder, die er verwendet. So reißt er sein Haus mehrfach ein und auch seine Entwürfe, die mit viel Hingabe gebastelten Modelle des Hauses, zerstört er. Der Vater bestand auf dem angeblich einträglicheren Ingenieurs-Studium, was einen innerfamiliären Konflikt andeutet, doch wird auch dieses Motiv zwar angerissen, jedoch nie weiter verfolgt. Matt Dillon seinerseits, der Jack überzeugend spielt, lässt diesen Mann nie wie einen Maniac, einen Verrückten, wirken, was dessen Ausstrahlung natürlich durchaus unheimlich, in gewisser Weise aber auch normal, im Sinne einer bürgerlichen Existenz, macht. Wohl ist er ein Neurotiker mit einem ausgeprägten Ordnungsdrang und weist auch paranoide Züge auf, doch diese Krankheitsbilder teilt er mit weiten Teilen der Bevölkerung.

Jacks wahre Berufung ist das Töten. Doch auch hier herrscht in gewisser Weise Willkür. Der erste gezeigte Mord, der keineswegs der erste Mord dieses Mannes gewesen sein muß, scheint vor allem Folge einer Gereiztheit zu sein. Jack hält auf einer einsamen Landstraße an und hilft einer Frau, die mit ihrem Wagen liegen geblieben ist. Er fährt sie zu einer Werkstatt, er bringt sie zurück, versucht, ihren Reifen zu wechseln, was nicht gelingt, und lässt sich dann dazu nötigen, die Frau erneut zur Werkstatt zu bringen. Die gesamte Zeit über spricht die Frau provozierend auf ihn ein. Nennt ihn erst einen möglichen Serienmörder (sic!), schließlich einen Waschlappen, der eh niemals zu einem Mord fähig wäre. Zu diesem Zeitpunkt ist Jack spürbar genervt von der Rederei und schlägt schließlich zu. Lars von Trier weiß natürlich genau, wie er sein Publikum manipulieren kann, denn auch der Zuschauer ist zu diesem Zeitpunkt von der Dauerrederei entnervt und hofft, daß diese Person die Szenerie bald verlässt. Daß sie sie auf drastische Weise verlässt, ist zwar schockierend, im Kontext eines Films aber noch erträglich, weiß man zu diesem Zeitpunkt doch nicht, womit man es da zu tun hat – es könnte auch eine groteske Komödie sein. Die THE HOUSE THAT JACK BUILT in gewissem Sinne auch ist. Spätere Morde sind dann durchaus vorsätzliche, geplante Taten, manchmal aber auch nur sich bietende Gelegenheiten. Jack sammelt die Leichen in einem angemieteten Kühlraum, der eine Tür in einen unbekannten Nebenraum hat, die Jack nie öffnen kann. Hier entsteht nach und nach eine Sammlung von toten Körpern, die eine groteske Schau der Endlichkeit, des Todes und ausgesuchter Grausamkeit darstellt. Jack fotografiert seine Opfer in bizarren Posen und diese Momente inszeniert von Trier sogar gewollt als Groteske, man kommt nicht umhin, zu lachen.

Doch die Toten – oder besser die Taten – interessieren Jack als solche ebenfalls kaum. Sie sind kein Selbstzweck, auch wenn er sich an seinen Tötungen gelegentlich ergötzt. Sein wirkliches Interesse wecken die ästhetischen Aspekte des Todes, des Tötens, des Arrangements. An dieser Stelle kommen dann auch erneut die Nationalsozialisten und ihre Todesästhetik ins Spiel, die von Trier schon in der Vergangenheit solchen Ärger bereitet haben. Der Regisseur erspart dem Zuschauer nicht die Bilder von Leichenbergen, KZ-Gräueln und teils unbekannte, teils ikonographische Bilder und Filme von Massenerschießungen. Aber auch Aufmärsche und vor allem die Architektur, die Albert Speer vorschwebte und die einst erhabene Ruinen hervorbringen sollte, werden gezeigt und finden in Jacks Theorie einer Ästhetik des Vergehens, des Verwesens, des Zeitlichen Aufmerksamkeit. In diesen Momenten muß man an Werke von Peter Greenaway denken, vor allem an jenen Greenaway, der in A ZED & TWO NOUGHTS (1985) allerhand Getier in Zeitraffer vor der Kamera verwesen ließ und damit durchaus wesentliche – auch ästhetische – Fragen zu Zeitlichkeit und dem Vergehen allen organischen Seins aufwarf.

Diese Ideen werden hier scheinbar mühelos mit Aufnahmen und Ideen kurzgeschlossen, die auch aus Filmen der NS-Regisseurin Leni Riefenstahl stammen könnten. Jack stellt Verge, sich und damit uns Fragen: Wenn die Welt nur materiell erfahrbar ist, wenn das Materielle selbst ihr inneres Wesen darstellt, wie kann man dann das Vergehen als Teil dieses materiellen Wesens ästhetisch, moralisch oder – und da kommt man zu einem entscheidenden Punkt des Films – religiös in Frage stellen, gar verurteilen? Mehr noch: Ist das Zeitliche, das Vergehen der Zeit nicht selbst elementares und geradezu folgerichtiges Material künstlerischer Auseinandersetzung? Und wie sollte damit gearbeitet werden, ohne daß darin zentral der Tod eine Rolle spielt, zum Ausdruck kommt und sich manifestiert?

Jack, so sagt er es selbst, ist nicht gläubig, weist aber auf das Paradox hin, welches diese Aussage in Anbetracht seiner Situation bedeutet. Verge, den der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt längst als Wiedergänger des Dante´schen Dichters ausgemacht hat, lässt sich auf die Theorien seines Begleiters ein. Er fragt nach, er insistiert, er hinterfragt – und beharrt dabei auf der Liebe als Grundmovens auch aller Kunst. Dem widerspricht Jack vehement. Und mit ihm Lars von Trier. Verge seinerseits verweist immer wieder darauf, daß Jacks Tun ihn nicht schockieren könne. Keine seiner Erzählungen, nichts, was er gestehe, habe wirklich Neuigkeitswert für ihn, den Führer durch die Hölle, der diese Hölle nie zu fürchten braucht. Für ihn, den Vergil des Lars von Trier, stellt sich die Frage des Zeitlichen nicht. Er existiert überzeitlich und außerweltlich. Einst, während der römischen Bürgerkriege, als reale Person, als Autor, dessen Werk alle Zeiten überdauert, dann als Symbolfigur, die das Christentum ankündigte, schließlich als literarische Figur in der GÖTTLICHEN KOMÖDIE (ca. 1321). Aber auch in späteren Arbeiten, wie bspw. Hermann Brochs DER TOD DES VERGIL (1945), als ein Bezugspunkt der Weimarer Klassik und nicht zuletzt als Figur in einem Film von Lars von Trier. So wird die Figur des Verge/Vergil selbst zur Antithese zu Jacks Thesen.

Unterstrichen werden diese Thesen und Verges Antithesen mit einer ganzen Galerie der abendländischen Kunstgeschichte. Vor allem Werke der Malerei, aber auch allerhand sakrale Bauten, werden wieder und wieder eingeblendet und belegen sowohl die Abwesenheit aller Emotion in der Kunst, wie auch das genaue Gegenteil. Untermalt mit klassischer Musik wie auch allerhand Popsongs, spielt von Trier ein böses Spiel mit dem Zuschauer und schafft damit auch ein böses Werk. Denn immerhin sind wir bereit, diesem Menschen, Jack, über zweieinhalb Stunden auf seinem Rechtfertigungstrip zu folgen. Wir mögen ihn nicht, als Figur bleibt er zu farblos, um uns wirklich zu berühren, doch als Alter Ego des Regisseurs – oder als Stand-In eines jeden Künstlers – funktioniert er perfekt. Und als dieses Alter Ego setzt von Trier ihn ein. Sein ganzer Film ist letztlich eine Reflektion über die Rolle des Künstlers, besser: seine Rolle als Künstler in ihrer Unbedingtheit, ihrer Radikalität, ihrer unbedingten Amoralität, die einer Beschäftigung mit einer Hyper-Moral entwächst. Sich dabei mit einem Serienmörder gleich zu setzen, ist natürlich geschmacklos – aber bei von Triers Geschichte nahezu folgerichtig. Er, von Trier, ist ein enfant terrible in der Kunst, er ist die Antithese zu aller Bildungsbürgerlichkeit, zur hohen Kunst – und der Serienmörder ist das enfant terrible der Menschheit schlechthin. Ebenso ist der Serienmörder aber auch das enfant terrible des Kinos. Immer schon wurde er mit Kreativität ausgestattet, wurde ihm das dem Wahnsinn verwandte Genie attestiert, nirgendwo so sehr, wie in der Figur des Hannibal Lecter in den Büchern von Thomas Harris und den daraus entstandenen Filmen, allen voran THE SILENCE OF THE LAMBS (1990). Aber auch ein Film wie SEVEN (1995) führte einen hoch intellektuellen, an der Welt und ihrer Verkommenheit leidenden Serienmörder vor, dessen Morde (und Mordversuche) ebenfalls schon als Kunstwerke und Happenings arrangiert waren.

Von Trier macht sich diese Vorgaben zunutze, um ein Statement über die Unbedingtheit und Einzigartigkeit künstlerischen Schaffens abzugeben. Kunst, so scheint uns dieser Film entgegen zu brüllen, darf alles und sie muß sogar alles – nur eins darf sie nie: Sich durch irgendeine Art von Beschränkung, sei sie moralischer, konventioneller oder sonstiger Natur, aufhalten lassen in ihrer Erforschung, Betrachtung und Durchdringung der Welt. Kunst, und gerade diese These hat von Trier immer für sich in Anspruch genommen, darf, ja muß vielleicht sogar immer hinterfragen, ob das Gültige nicht falsch ist, das vermeintlich Falsche in Wirklichkeit nicht Gültigkeit besitzt? Kunst darf und muß also möglicherweise in Bereiche vordringen, die gemeinhin als „böse“ bezeichnet werden. Vielleicht kann sie erst dort ihre eigene und eigentliche Bestimmung finden? Zumindest weite Sparten europäischer Kunst- und Literaturgeschichte künden genau davon, bedenkt man bspw. die Ecole du Mal, die schwarze Romantik etc.

Und der Serienmörder ist eben auch ein Synonym für das absolut Böse, das unerklärlich Böse, das sich psychologischen und soziologischen Erklärungsversuchen zwar nicht entzieht, zumindest aber widersetzt. Aber kann der aufgeklärte Mensch denn überhaupt mit dem Begriff des Bösen operieren? Wer sich in seiner Kunst – so möglicherweise die Überlegung des Neo-Katholiken Lars von Trier – derart ins Abseits stellt, wer die eigenen Neurosen, die eigenen Depressionen und die eigenen Unzulänglichkeiten derart offensiv zu einem Teil seines Werkes werden lässt, wie er es immer wieder getan hat, wer sich als Künstler so radikal und kompromißlos positioniert, für den mag ein solches Synonym dann eben zutreffend sein. Solange er bereit ist – eine weitere mögliche Überlegung des Neo-Katholiken – , die daraus folgenden Konsequenzen anzunehmen, sie zu er-tragen. Oder sie gar als neue, weitere künstlerische Herausforderung zu begreifen und als solche gerade zu begrüßen. Die Verdammung, die Höllenkreise, der Acheron als letzte, absolute Grenze zwischen der Gemeinschaft der Glückseligen und den Verdammten – dies sind die Metaphern, die von Trier wählt, um (s)eine Position zu bestimmen. Er folgt seinem Protagonisten willentlich und willens in den Abgrund der Hölle, in die Erfahrung der Verdammnis.

Aber von Trier wäre nicht von Trier, wenn er diese Position nicht sehr genau bestimmen und zugleich in Frage stellen würde. Denn das Böse, zumindest in der Neuzeit, beinhaltet auch eine weitere Denkfigur, die unbedingt und kompromißlos zu verteidigen ist: Die des freien Willens. Zumindest in der Kunst, in der Literatur, selbst im gemeinschaftlichen Miteinander, vielleicht nicht so sehr in der Psychopathologie, ist das Böse auch unsere höchst eigene Entscheidung. Daß sein Jack auf Verge – Vergil – stößt, daß es die Dante´sche Version der Hölle ist, ist ja auch ein Bekenntnis zum freien Willen. In Dantes großem Gesang beginnt die Neuzeit sich kulturell zu manifestieren. DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE steht am Beginn neuzeitlichen Denkens, sie markiert – von unserer geschichtlichen Position aus gesehen –einen Übergang, einen Neubeginn, die Subjektwerdung des einzelnen. Jack nimmt den Höllenabstieg hin und er geht bis in die tiefsten Tiefen – auf eigenen Wunsch. Es ist die Position des Künstlers, ein Paradox. Er entscheidet sich freiwillig, zugleich kann er aber auch nicht anders, als sich so und nur so zu entscheiden. Er will alles sehen, was es zu sehen gibt, will es erfahren. Es ist die Position des Lars von Trier, der mit dieser Haltung in diesem Film eine Meta-Aussage über sein eigenes Werk trifft, das immer umstritten war, schon in den frühen Jahren. Deshalb ist der Rekurs auf das eigene Werk auch nicht, wie es gelegentlich zu lesen war, eine Anmaßung, weil von Trier sich hier größenwahnsinnig in die abendländische Kunst- und Kulturgeschichte gleich neben den Allergrößten einordne, sondern folgerichtig im Kontext dieses Filmes, der die Positionsbestimmung eines Künstlers in seinem Werdegang ist[1]. Vielleicht – wer weiß das schon? – ist es auch das letzte, abschließende Werk eines umstrittenen Gesamtoeuvres, eine Art Schlußstein? Der Gedanke drängt sich zumindest in einigen Momenten dieses Films auf.

All dem Zwanghaften, das seine Person ausmacht, begegnet von Trier in jenen Momenten seines Films, in denen er sich über Erklärungsmuster lustig macht. Jack ist ein zwanghafter Ordnungsfanatiker, doch alles Fachliche dazu wird in körnigen Bildern abgehandelt, in denen Jack, an seinem Wagen lehnend, Karten hochhält und wegwirft, die Fachbegriffe enthalten – eine direkte Anspielung auf Bob Dylans berühmten kleinen Film zum SUBTERRENEAN HOMSICK BLUES. Auch dies eine böse Anspielung. Gesellschaftliche Bedingungen? Soziale Lage? Wissenschaftliche Erklärungen? Die alle mag es geben, die mögen da draußen in der Welt eine Rolle spielen. Im Kosmos des Künstlers, in der Kunst selbst, sind sie nichts weiter als Material in einer materialistisch, materiell geschaffenen Welt. Transzendenz? Mag sein, daß sie das Ziel ausmacht, den Künstler, scheint von Trier zu sagen, interessiert der Weg dorthin, weniger das Ereignis selbst. Und auf diesem Weg mag der Neo-Katholik Lars von Trier sich nicht scheuen, auf den Reformer schlechthin zurück- und Luthers Wort aufzugreifen: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Verdammt mich dafür, schickt mich in die (kulturelle) Hölle, die der klassische Vergil einst als einen Ort absoluter Abgeschiedenheit definiert hat. Aber seid nicht erstaunt, daß  ich auch diese Verdammnis, diesen Ort, mit staunenden Augen wahrnehmen werde; wahrnehmen werde als weitere Möglichkeit des Künstlers, die Welt zu ergründen. Und sei es die nicht-materielle, die transzendentale Welt. Die endgültige, letztgültige Welt?

Jacks Höllenabstieg ist also ein freiwilliger. Er arbeitet an dem Experiment, ob es gelingt, mit einem einzigen stahlummantelten Geschoß die Köpfe gleich sechs verschiedener Personen hintereinander zu durchschlagen. Ein Experiment, das auf „Versuche“ der Wehrmacht und der SS zurückgeht, die solche Überlegungen bei Massenexekutionen aus Mangel an Munition anstellten. Unterbrochen wird er in diesem Moment von der Polizei. Und so betritt er jenen Raum, der an seine Kühlkammer anschließt, jenen Raum, dessen Tür er bisher nie öffnen konnte, nun aber mit Leichtigkeit betreten kann. Und hier erwartet ihn Verge. Der hilft Jack, aus den Körpern der Toten, die sich im Laufe seiner Karriere als Killer angesammelt haben – sechzig Opfer sollen es sein, so erklärt er es einmal jener Freundin, bevor er ihr die Brüste bei lebendigem Leibe abschneidet und daraus ein Portemonnaie bastelt – ein Haus zu bauen: The House That Jack Built. Wie das gleichnamige Kinderlied, das immer auf anderes verweist und scheinbar nie zu sich selbst gelangt, weisen auch all die Fragmente in THE HOUSE THAT JACK BUILT auf alles mögliche, nur nie auf den Protagonisten selbst und die Bedingungen seiner sozialen Welt. Es entsteht ein bizarres Körperhaus und in dessen Mitte tut sich ein Loch auf, der Einstieg in die Hölle. Hier beginnt die Katabasis, das Hinabsteigen, untermalt von der entsprechenden musikalischen Figur. Jack staunt und lässt sich von Verge immer tiefer hinab führen, lässt sich, Dante bei seinem Abstieg in die Höllenkreise gleich, erklären, womit er es hier zu tun hat, staunend sich umblickend, bis an einen Abgrund ohne Boden, in den ein ewiger Feuer- und Lavastrom hinabstürzt. Auf der anderen Seite dieses Abgrunds gibt es einen Tunnel, der laut Verge wieder hinauf, hinaus aus der Hölle, führt. Jack will probieren, am Fels entlang um den Abgrund herum zu klettern, obwohl, so Verge, dies schon viele versucht, es aber nie jemand geschafft hat. Und auch Jack wird es nicht schaffen. Also stürzt er – ins Bodenlose. Wie ein von Depressionen, bipolaren Störungen und einer daraus resultierenden exzessiven Drogen- und Alkoholsucht heimgesuchter Lars von Trier in seine ganz persönliche Hölle gestürzt sein mag. Welches Bild böte sich einem sich katholisch definierenden Künstler besser als Metapher dafür an, als Dantes Welt-Werk?

Das Bodenlose ist die Gefahr, die Gefährdung des Künstlers. Zwischen ihm und dem Wahnsinn steht nichts. Der „wahre“ Künstler muß also bereit sein, in seinem Werk, wie in seiner Seele, in die hintersten, die dunkelsten, die abgründigsten und abgeschiedensten Ecken, Tiefen und Winkel vorzudringen, auch auf die Gefahr hin, sich dabei zu verlieren, ja, dabei umzukommen. Auf die eine oder andere Art. Alles wird diesem Nicht-Ziel, dieser Suche, dieser Ergründung ohne Rahmen untergeordnet. Beziehungen? Familie? Freunde? Jack hat dies – zumindest Freunde und mindestens eine Beziehung zu einer Frau – aber sie alle werden genau in dem Moment geopfert, in dem sie ihm zu nah kommen, ihr Tod ihm mehr verspricht, als ihr Leben, oder er sie benutzen muß, um seinen Häschern zu entkommen. Seine Häscher sind meist gesichts- und immer namenlose Polizisten. Jene Institution also, die die Gesellschaft repräsentiert. Ihren Normen, Konventionen, Regeln und, ja, Gesetzen, kann sich ein Mensch wie Jack nicht unterordnen, es hat keinen Zweck und macht keinen Sinn. Seine Bestimmung ist schlicht eine andere, auch wenn er nie zugeben würde, an eine „Bestimmung“ zu glauben.

Selten hat es ein radikaleres Manifest, eine radikalere Verteidigung und ein radikaleres Bekenntnis zur Freiheit der Kunst, zur Freiheit des Willens gegeben, als diesen Film. Daß Lars von Trier sich mit diesem Film keinen Gefallen getan hat, wen wundert´s? Daß er damit anecken würde, daß die meisten Kritiker sich lieber mit seiner psychischen Disposition beschäftigten, die der Filmemacher ja auch viel und explizit thematisiert hat, daß hingegen nur wenige bereit waren, sich wirklich auf diesen Film einzulassen, wen wundert´s? Man muß das aushalten, man muß es ertragen, dabei mit bösen Ideen, bösen Thesen und bösen Gedanken infiziert zu werden, die scheinbar so leichtfertig daherkommen, die einzuleuchten scheinen und sich mit diesem Film ausbreiten.

Hält der Zuschauer das aus? Schwerlich. Sollte er? Unbedingt.

 

[1] In einem Interview erklärte von Trier das Verwenden eigener Filme damit, daß es seiner Produktionsfirma Zentropa an den finanziellen Mitteln gefehlt habe, die Rechte an anderen maßgeblichen Werken der Filmgeschichte zu erstehen, weshalb man auf die zurückgegriffen habe, deren Rechte man sowieso hielt – was eben seine eigenen Filme sind. Sicherlich eine mögliche Erklärung, in Kontext dieser Analyse jedoch nicht von Relevanz.

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