BESESSEN/DERANGED

Zwischen Wes Craven und Tobe Hooper versteckt sich dieses Kleinod des frühen Terrorfilms

Ezra Cobb (Roberts Blossom) lebt zurückgezogen mit seiner Mutter auf einer Farm im ländlichen Raum. Da die Mutter bald zu sterben droht, ermahnt sie ihn nochmal eindringlich, sich ihrer Lehren zu erinnern: Frauen sind unrein und dreckig, er soll sich von ihnen fernhalten. Was Gott mit denen, die Unzucht treiben oder auch nur unzüchtige Gedanken hegen, mache, könne man ja im Alten Testament anhand der Geschichte der Sintflut nachlesen. Als sie stirbt, lebt Cobb weiter vor sich hin, lediglich im Kontakt mit einigen Nachbarn. Nach etwa einem Jahr der Trauer beschließt der zusehends verwirrtere Ezra, seine Mutter wieder aus dem grab „heim“ zu holen. Da die Leiche naturgemäß nicht mehr im allerbesten Zustand ist, will er sie unter Zuhilfenahme von Teilen anderer Leichen „ausbessern“. Schließlich wechseln Cobbs Zustände zwischen klaren Momenten, in denen er sogar durchaus anderen mitteilt, daß er die geschändeten Gräber geöffnet habe und Momenten delirierender Abwesenheit, in denen er lediglich die Anweisungen seiner Mutter wahrzunehmen scheint. Schließlich erliegt er dem Drang, selber zu töten. Zunächst entführt er eine junge Barangestellte, der er allerhand Grausiges in seinem Hause zeigt, bevor er sie schließlich erschießt, später ist es die junge Bekannte des Sohnes seiner Nachbarn, die er wie ein Wild durch den Wald jagt und schließlich auch fachgerecht ausnimmt. Sein Nachbar, dessen Sohn und der Sheriff finden den vollkommen verwirrten Ezra Cobb schließlich blutüberströmt in seiner Küche.

1974 bleibt für Anhänger des härteren Horror/Terrorfilms wohl auf ewig verbunden mit dem Namen THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE  – jenem Film, der bahnbrechend den Weg in das moderne, harte Horrorkino aufzeigte. Die darin vorgestellten FIguren – allen voran ‚Leatherface‘, ein Koloß hinter einer aus Menschenhaut gefertigten Maske, der eine Kettensäge schwingend dafür sorgte, daß Papas Hamburgerbude weiterhin mit Frischfleisch versorgt wurde – fanden Eingang zumindest in die Popkultur, im Grunde jedoch in die moderne Ikonographie des Hässlichen, Brutalen und Gemeinen. Im gleichen Jahr wie Tobe Hoopers brachialhumoristischer Kracher, erschien ein Film, der auf der gleichen realen Vorlage beruhte, dieser jedoch exakter entsprach und sich weitaus enger der wahren Begebenheiten bediente: DERANGED.

Vorlage für beide Filme war der Fall Ed Gein. Ein kleiner, unauffälliger, leicht zurückgebliebener Mann, der im ländlichen Wisconsin lebte und 1957 ein paar Wochen lang das saubere und konservative Amerika in Atem hielt, als entdeckt wurde, daß er mindestens 2 Frauen getötet, etliche Leichen geschändet und aus Teilen dieser grauenerregende Gegenstände, Masken und Schmuckstücke gebastelt hatte. Hinzu kamen deutliche Anzeichen für Kannibalismus. Der erste, der sich durch dieses dem „unschuldigen“ Amerika der 50er Jahre so derbe die Schattenseiten des Lebens aufzeigende Verbrechen zu künstlerischer Höchstleistung inspirieren ließ, war der Schrifststeller Robert Bloch, der auf der Vorlage des „Falles Ed Gein“ den Motelbesitzer Norman Bates erschuf. Das Werk, dessen Hauptfigur der ödipale junge Mann darstellte, nannte er PSYCHO und es wurde umgehend vom Großmeister des gepflegten Schreckens – Alfred Hitchcock – dazu verwendet, einen Meilenstein des modernen (Horror)Films zu erschaffen. Doch so eindringlich und schockierend sowohl der Fall als auch die Verarbeitung waren, es blieb den schmuddeligen Midnight-Movies der 70er Jahre vorbehalten, die delikateren Aspekte des Falles aufzugreifen und der staunenden Nachwelt vorzuführen.

Es fällt von heute aus schwer, Filme wie Wes Cravens THE LAST HOUSE ON THE LEFT (1972) oder auch den hier vorliegenden Film klar dem Horrorgenre zuzurechnen. Wo Romero mit seinen Zombies Furore machte und uns wirklich noch einmal das Fürchten lehrte, Hoopers seltsame Schlachterfamilie zumindest äußerlich an die „großen“ Figuren des klassischen Horrorfilms gemahnte, sind die „Monster“ in Cravens und in diesem Film schlicht zu menschlich geraten, ebenso die Verbrechen. Vielleicht hat man es so gesehen wirklich eher mit Thrillern/Kriminalfilmen zu tun, die – ähnlich dem zeitgleich seine Hochphase erlebenden italienischen Giallo – eine im Grunde „alltägliche“ Kriminalgeschichte beschreiben und dabei streckenweise zu drastischen Mitteln greifen?

Im Grunde genommen ist es ja gleich, doch muß man schon sehen, daß sich Alan Ormsby, der das Drehbuch schrieb und auch Teile der Regie übernahm, große Mühe gegeben hat, die Entwicklung seiner Figur nachzuzeichnen und verständlich zu machen. Ezra Cobb sollte Tiefe erhalten und nicht einfach ein unerklärlicher vor sich hinsabbernder Frauenmörder und Lüstling sein. Er sollte erklärt werden. Sowohl innerlich als auch äußerlich. Beides gelingt. Das Äußerliche wird vor allem anhand von Ezras einzigen „Freunden“, seinen Nachbarn, erklärt, denen er bereitwillig erzählt, daß er die Leichen ausgegraben, später auch, daß er die verschwundenen Mädchen bei sich „im Haus habe“. Es glaubt ihm nur niemand. Dieser Fakt stimmt mit den Tatsachen im „wahren Fall Gein“ überein. Auch dieser ließ seine Umwelt durchaus wissen, wer und was er war, auch ihm hörte man schlicht nicht zu oder nahm ihn nicht ernst. Es gibt nur wenige Szenen im Film, die Cobb in Interaktion mit seiner Umwelt zeigen, doch sowohl wie diese Umwelt eingefangen wird – distanzierte Weitwinkelaufnahmen winterlich leerer Farmgelände, tropfend schmelzende Eiszapfen im Bildvordergrund, die matschigen Wiesen und Wälder rahmen und den Zuschauer stets wissen lassen, daß wir uns in einer kargen und unwirtlichen Gegend befinden, als auch, wie die Umwelt dargestellt wird – distanziert, desinteressiert, den eigenen Belangen nachhängend – verdeutlicht, in welch einer Gesellschaft man sich hier befindet: im Heartland, im ländlichen, konservativen, gottesfürchtigen Amerika ebenso kleiner wie stolzer Menschen, die es zum Wert an sich erhoben haben, sich nicht in die Belange des Nachbarn einzumischen. Schließlich kennt man sich ja… Wir betrachten Cobb mehrmals, wie er mit dem Nachbarn ein Bier trinkt, die Zündkerzen am Truck auswechselt, die Flinten für die in diesen Gegenden Amerikas allgegenwärtige Jagd säubert – nie hat man den Eindruck, daß diese Menschen wirklich wahrnehmen, was gerade unmittelbar um sie herum geschieht.

So werden die zugegeben schon für damalige Zeiten drastischen Momente – v.a. jene immer geschnittene und nun wieder eingefügte Szene, in der Cobb den Kopf seiner alten Lehrerin präperiert, indem er ihr erst die Augäpfel entfernt, dann die Schädeldecke aufsägt und das Hirn entnimmt – , die der später für die grässlichsten Momente in Romeros DAWN OF THE DEAD (1978) zuständige Tom Savini auch hier lieferte, durchaus auch zu Allegorien auf Ezra Cobbs Innenleben. Es gelingt dessen Darsteller Roberts Blossom (der schreibt sich wirklich so) nämlich durchaus grandios, diese Figur facettenreich zum Leben zu erwecken. Man sollte sich der englischen Tonspur bedienen, denn die deutsche Synchronstimme läßt Cobb manchmal klingen wie eine Karikatur aus einem Monty-Python-Scherz. Blossom gelingt es aber, diesem Ezra Cobb nicht nur Glaubwürdigkeit zu verleihen, sondern auch, ihn in seinen Handlungen als folgerichtig erscheinen zu lassen. Daß wir es hier mit einem tief in ödipalen Konflikten steckenden, leicht Zurückgebliebenem zu tun haben, gibt die Geschichte des Ed Gein eben schon vor, da mag man die Erklärung des „Muttermonsters“ für noch so abgeschmackt halten, in diesem Falle findet sie ausnahmsweise berechtigte Anwendung. Und so wird aus dem anfänglichen inneren Chaos dieses Mannes, das sich in den widerlichen Hautfetzen, die er dem zusehends verwesenden Leichnam seiner Mutter anpappt, spiegelt, ein immer klareres und reineres Bild – Ezra wird zu einer Art Künstler, der nicht nur Trommeln mit Bauchhaut bezieht, sondern der aus Hürftknochen Schlegel zu machen, der das Haus mit allerhand ebenso ungewöhnlichen wie hübschen Verzierungen zu bereichern und sich selbst zwecks menschlicher Haut auch ein neues Äußeres zu verpassen versteht. Äußeres und Inneres werden zusehends deckungsgleicher. Und wenn er sein letztes Opfer, die junge Sally (Pat Orr), weidmännisch aufhängt, ausweidet und ausbluten läßt, ist er nicht nur äußerlich in der „Reinheit“ der Jagd angekommen[1], sondern auch innerlich vollkommen in der „Reinheit“ seiner Bestimmung gegenüber Frauen, die laut seiner Mutter alle „dreckig“ und also frei zum „Abschuß“ (in der doppelten Bedeutung des Wortes) sind[2].

DERANGED ist ein ruhiger Film, der seinen „Horror“ eher aus der Atmosphäre, der Kälte der Umwelt wie der der Cobb Umgebenden bezieht, als daß er auf die Wucht seiner Schocks setzte. Die Darstellung Roberts Blossoms ist wesentlicher, als es die Spezialeffekte von Savini sind. Und erstaunlicherweise vermitteln diese zwar momentweise Ekel, doch anders als im Gros der meisten Horror/Terrorfilme, hat man eigentlich nie den Eindruck, daß sie um ihrer selbst willen eingefügt wurden. Was man zu sehen bekommt, macht schon Sinn, wenn man die gnadenlos durchgehaltene Perspektive Ezras bedenkt, die der Film einnimmt. Und dennoch – gerade in jener Szene, in der Cobb seinem ersten eigenen Opfer das Interieur seines Hauses zeigt – inklusive der präperierten Leichen, eines Knochenthrons und der eigenen Maske aus Menschenhaut – und die somit am nächsten an THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE erinnert, in der ebenfalls eine Sally an einen Knochenstuhl gebunden erwacht, kann man die Unterschiedlichkeit der Herangehensweisen gut erkennen und begutachten. Was in THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE zu einer der hysterischsten und wirklich furchterregendsten Szenen der jüngeren Filmgeschichte gerät, wird in DERANGED zu einer zwar durchaus beklemmenden, doch im Grunde eher erklärenden Szene. Wo der Film eigentlich sein Horror- und Ekelpotential voll hätte ausspielen können, verzichtet er lieber zugunsten einer auch hier ebenso ruhigen wie suggestiv bedrohlichen Szene.

Die Haltung des Films wird dadurch zusätzlich unterstrichen, indem wir immer wieder aus einzelnen Szenen per Kameraschwenk herausgerissen werden und ein Offsprecher plötzlich im Bild erscheint und uns erklärt, wie es mit Cobb weitergeht, wodurch es dem Film gelingt, problemlos recht große Zeitsprünge zu bewältigen. Das Dokumentarische wird dadurch unterstrichen, das Geschehen distanziert und in gewisser Weise auch abstrahiert. DERANGED gibt sich den Anstrich der Bebilderung eines allgemein bekannten Geschehens. Deshalb bleibt der oberflächliche Spannungsbogen auch recht flach, es gibt keine Kniffe, keine Umwege. Wenn Cobb ein Mädchen sieht, geht er hin und entführt es. Punkt. Wenn er es töten will, nimmt er die Flinte und erschießt es. Punkt. Seine Spannung bezieht der FIlm weitaus mehr aus den Blicken, die Ezra seinen Mitmenschen zuwirft, daraus, wie sich sein Gesicht verändert, wie aus einem Schmunzeln ein wissendes Lächeln, manchmal auch ein Blick reinen Hasses wird, manchmal auch das reine Unverständnis seiner Umwelt gegenüber aufblitzt und wir verstehen, daß in diesem alternden Körper ein kindliches Gemüt haust. Es sind die Blicke, die die Kamera uns zumutet, auch die der realistischen Trostlosigkeit, die er präsentiert, die uns bannen und folgen lassen.

Daß es eine gute Portion Humor gibt, der das Geschehen auflockert, teils allerdings auch noch grässlicher werden läßt, als sie ohnehin schon ist, ist ein Punkt, den dieser Film mit seinem ungemein berühmteren Cousin gemein hat. Doch wo THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE auf einen schrillen, hysterischen Humor setzt, ist es in DERANGED eher ein hintergründiger und sardonischer Humor, der uns nach und nach wie die Kälte eines frostigen Februarmorgens unter die Kleider kriecht, sich festsetzt und uns den ganzen Tag frösteln läßt.

Für jene, die sich einerseits für die Genese des modernene Horror/Terrorfilms interessieren, andererseits Interesse am amerikanischen Kino der 70er Jahre haben, ist DERANGED ein Muss. Jene Jahre, die man filmisch mit „New Hollywood“ umschreibt, weil sich eine Garde junger Filmemacher daran machte, das amerikanische Kino neu zu erfinden, sowohl künstlerisch als auch kommerziell, gaben eben auch einer Reihe junger, unabhängiger Regiesseure und Autoren die Möglichkeit, eher ungewöhnliche Projekte zu realisieren. Sei es George A. Romero mit seinen Zombiefilmen, sei es ein junger Gagschreiber namens Woody Allen, sei es Tobe Hooper mit THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE , seien es die ein einziges Mal wirklich artistischen Versuche im pornographischen Film oder auch nur die schweren Dramen eines John Cassavetes – sie alle probierten in ihren Metiers neue, manchmal schwierige Wege und Dinge aus, sie gingen Risiken ein und hatten den Mut, auch einmal auf ganzer Linie zu scheitern. Man darf DERANGED mit seiner unabhängigen Entstehungsgeschichte gern zu dieser Reihe zählen. Doch ist und bleibt es auch einfach ein untergründiger Film über ein Thema, daß uns immer wieder fasziniert, ob wir wollen oder nicht…

 

[1]Die Jagd und die „Reinheit der Jagd“ spielten in manchen Filmen des New Hollywood eine große Rolle, am deutlichsten in Michael Ciminos THE DEER HUNTER (1978); die Jagd, die in den USA eine große Rolle spielt, eine Art Volkssport darstellt und symbolisch auch bedeutet, daß Jungs in Männerzirkel aufgenommen werden, hat auch immer die Symbolik eines „reinen“ Austauschs zwischen Jäger und Wild: der eine hat das andere zu respektieren. In diesem Punkt hat der Fim sogar eine entfernte Verwandtschaft mit dem Klassiker THE MOST DANGEROUS GAME (1932) von Ernest B. Schoedsack. Dort wird die Frage nach Jäger und Wild sogar existenziell gestellt.

[2]Ganz nebenbei nimmt DERANGED in den Bildern der kopfüber ausblutenden Sally Dario Argentos Bild der in Blut Badenden aus SUSPIRIA (1977) vorweg. Argento seinerseits gehörte 1974 bereits zu den Großmeistern des Giallo, man darf also davon ausgehen, daß er DERANGED kannte.

 

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