VERFAHREN EINGESTELLT/NON LUOGO A PROCEDERE

Claudio Magris´ brillante Studie der Gewalt und ihrer Verdrängung

Den Krieg spielen, um ihn nicht führen zu müssen – das ist der Leitfaden der namenlosen Hauptperson in Claudio Magris Roman VERFAHREN EINGESTELLT . Der zu Beginn der zersplitternden und sich auffächernden Erzählung bereits tote Sammler von Kriegsgerät aller Art – von der Axt eines Stammeskriegers am Amazonas bis zu Panzern und Raketen, die er bereits seit dem Ende des 2. Weltkrieges zusammensuchte – wollte ein umfassendes Museum des Krieges erstellen, eine Komplettsammlung sämtlicher Waffen und gewaltsamen Todesarten, die der Mensch sich so ausgedacht hat im Laufe der Geschichte, um die Gewalt, die sie ausüben, zu bannen. Nun ist der Sammler tot, verbrannt inmitten seiner Artefakte und die junge Luisa Brooks soll die übriggebliebenen Stücke sortieren und für ein neues Museum zusammenstellen. Und während sie sortiert, sammelt, klassifiziert und katalogisiert, wird sie für uns, die Leser, zu einem Katalysator all der Geschichten, die ein jedes dieser Stücke anhaften. Sei es der Bericht eines Amazonaskriegers, der nach Europa entführt und hier als eine Art lebende Wanderausstellung herumgereicht wird; sei es der Bericht über die verheerenden Sklavenjagden in Afrika; seien es Erzählungen aus dem Krieg, dem letzten, Erzählungen über Märtyrer und die, die sie machen – Magris lässt durch Luisa ein ganzes Panoptikum von Anekdoten, Geschichten und Erzählungen fließen und fächert uns ein Panorama des Schreckens auf.

Zugleich wird uns Luisas Geschichte berichtet, und die hat es in sich. Sie ist die Tochter einer Jüdin, die durch Glück und den Mut von Menschen, die sie versteckt haben, überleben konnte, und eines schwarzen amerikanischen Besatzungssoldaten, der recht früh in ihrem Leben bei einem Unfall starb. Durch ihre Mutter unmittelbar mit den Schrecken der Shoah verbunden, durch den Vater, der ihr die Geschichte seiner Familie und seines Volkes erzählt hat, mit einem anderen Menschheitsverbrechen – der Sklaverei – laufen in Luisa lange Linien historischen Schmerzes und historischer Verantwortung zusammen. Es gelingt Magris mit dieser Konstruktion, die Struktur der Gewalt, die daraus resultierende Schuld und beider Nachwirkung zu verdeutlichen – Verläufe, die oftmals unter der Schicht der tagespolitischen Aktualität verborgen bleiben. Indem er Luisas jüdische Großmutter zu einer später selbst in den Krematorien der Nazis verbrannten Kollaborateurin macht, die aus Furcht um die eigene Familie denunziert hat, kann er die ganze Perfidie zeigen, die in den Handlungen der Nazis und ihrer Helfershelfer lagen, wie es ihnen gelang, selbst ihre Opfer noch so zu diskreditieren, daß diese selber Schuld auf sich luden. Zugleich kann man in den Einschüben, die „Luisas Geschichte“ erzählen, sehr gut nachlesen, wie sich die Ereignisse wie ein schleichendes Gift in die Leben der Überlebenden hineinfressen und sie zu zersetzen beginnen. Es ist diese Engführung aus Geschichte, Geschichten und Gegenwartsbewältigung, die VERFAHREN EINGESTELLT zu dem brillanten Buch macht, das es ist.

Magris stellte in einem Interview klar, daß die Risiera, eine alte Reismühle in Triest, der Stadt aus der der Autor stammt und wo er große Teile seines beruflichen Lebens als Professor für deutsche Literatur verbracht hat, das einzige Konzentrationslager auf italienischem Boden gewesen sei, dieser Tatsche aber weder von Historikern, noch in der einschlägigen Literatur genügend Aufmerksamkeit gewidmet werde. So ganz richtig ist das nicht, denn zumindest Thomas Harlan arbeitet sich in seiner Romanzumutung HELDENFRIEDHOF massiv daran ab, nennt Namen, Ross und Reiter und stellt San Saba, das Viertel, wo die „Knochenmühle“ inklusive einer rudimentären Gaskammer und eines kleine Krematoriums einst stand, deutlich aus. Auch in Daša Drndic´ ebenso brillanten wie unerträglichen Werk SONNENSCHEIN (2015) und in Ursula Ackrills ZEIDEN, IM JANUAR (2015) findet die Risiera Erwähnung. Dennoch ist es Magris´ Verdienst, erneut diesen Ort des Schreckens zumindest literarisch ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu haben. Sein namenloser, toter Protagonist, so raunt uns der Text zu, könnte auch deshalb gestorben sein, weil er unmittelbar nach dem Krieg angefangen hatte, die Inschriften und Kritzeleien in den ehemaligen Zellen abzuschreiben und dabei wahrscheinlich etliche Namen von Folterknechten, von Tätern und Denunzianten, Mitläufern und Günstlingen gesammelt hatte. Das betreffende Notizbuch ist nämlich nicht mehr aufzufinden. Könnte es also sein, daß hier anonyme, undurchsichtige Mächte ein Interesse daran hatten, diese Namen niemals ans Licht der Öffentlichkeit geraten zu lassen? So schreibt Magris seinem Text zu guter Letzt auch die Rezeptionsgeschichte dessen ein, was als Menschheitsverbrechen apostrophiert die europäische Geschichte so nachhaltig geprägt hat und, betrachtet man die momentanen Verwerfungslinien in den politischen Lagern, immer noch zu extremen Auseinandersetzungen und Anfeindungen führt.

Es ist kein einfacher Text, der sich da vor unseren Augen entfaltet. Zersplittert, fragmentiert und oft raunend, mutet er dem Leser eine Tour de Force durch die Abgründe der Menschheitsgeschichte zu, scheut sich dabei nicht vor Sprüngen und Umwegen, die vom Leser maximale Aufmerksamkeit verlangen, zumal der Text keineswegs rein deskriptiv ist, sondern durchsetzt mit Reflexionen auf den Krieg, die Gewalt, den Tod und seine Unmöglichkeit. Er wechselt die zeitlichen und räumlichen Ebenen und springt von einer eher analytischen Betrachtung in den Mythos und zurück. Und beweist damit die grundlegende Verwobenheit des Menschen in Gewalt und gewalttätige Konfliktlösungen ebenso, wie er nahelegt, daß die Gewalt schon vorgeschichtlichen Ursprungs, eben im Mythos selbst verwurzelt ist. Die Geschichte der „anderen Luisa“, einer freien Schwarzen, die Jahre Gefangene bei einem kreolischen Eingeborenenstamm war, verweist auf genau diese Verwobenheit. Doch versteht es Magris auf nahezu geniale Art und Weise, die maximale Distanz zu markieren, die die mythologische Gewalt zur reellen Gewalt des Krieges, zur Serialität und der Industrialisierung der Gewalt und des Tötens unter den Nazis einnimmt. Damit verweigert Magris der jüngeren europäischen Geschichte den Eintritt in den Mythos, macht sie greifbar und verortet sie.

In Zeiten, in denen der Ruf nach Schlußstrichen und „Ende des Schuldkults“ wieder laut werden, kann man ein Werk wie dieses gar nicht genug hervorheben. In einem Nachwort merkt der Autor an, daß sich die äußeren Begebenheiten auf wahre Tatsachen stützen, daß wir es aber mit einem Werk der reinen Fiktion zu tun haben. Er verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, daß in der Fiktion, die sich ja immer auf die „Wahrheit“ stützt, eine höhere, reinere Wahrheit zum Vorschein kommt. Es ist dies vielleicht die nobelste und höchste Aufgabe, die Literatur für sich beanspruchen kann.

Man wünscht einem Buch wie VERFAHREN EINGESTELLT unbedingt sehr, sehr viele Leser.

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