ÜBER DIE SEE/ULTRAMARINS

Ein erstaunlich dichtes Debut, eine eindringliche Seefahrergeschichte, leider mit Schwächen nach hinten raus

Eine der schönsten Gattungen der Literatur sind Seefahrergeschichten. Sie künden aus Zeiten, da die Welt noch offenstand und erkundungswürdig schien, sie erzählen von Abenteuern und Entdeckungen; die besseren von ihnen – man denke nur an Joseph Conrad – erzählen die dunklen Seiten dessen, was diese Geschichten so interessant und aufregend macht, allerdings gleich mit. Dann werden auch immer Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus thematisiert und nicht, wie leider viel zu häufig, ignoriert oder, vielleicht noch schlimmer, bagatellisiert.

Dann gibt es natürlich die vielen, vielen Geschichten, die uns das Fürchten lehren: Rationale Begebenheiten wie Stürme und Flauten, Seeräuber- und Piratenüberfälle, aber mehr noch die irrationalen Geschichten von Geisterschiffen, Klabautermännern, unheimlichen Begebenheiten mitten auf dem Meer oder von Ungeheuern, die, aus den Tiefen der See aufsteigend, Schiffe zum Kentern bringen oder gleich untergehen lassen. Riesenkraken und weiße Wale. Hier und da greifen rationale und irrationale Erzählungen natürlich auch ineinander. Denn immer wieder hat es tatsächlich Ereignisse gegeben, die nicht erklärt werden können, die aber beurkundet und bewiesen sind. Im Bermudadreieck verschwanden nachweislich immer wieder Schiffe, man führte dies lange auf singuläre Wetterphänomene zurück; die Mary Celeste wurde tatsächlich auf hoher See entdeckt, das Essen auf den Tischen noch warm, rauchende Zigarren in den Aschenbechern – aber niemand an Bord; immer wieder verschwanden Expeditionen in den Weiten der Ozeane, des Eises, in den Untiefen einsamer Buchten und Meerengen.

Die französische Autorin Mariette Navarro hat dem schier unübersichtlichen Meer der Seefahrergeschichten (um im Bilde zu bleiben) mit ÜBER DIE SEE (ULTRAMARINS, Original erschienen 2021, Dt. 2022) einen spannenden, durchaus unheimlichen und die Kluft zwischen dem Rationalen und dem Übernatürlichen, jedenfalls dem Irrationalen, übertretenden Beitrag hinzugefügt. Navarro wurde zu ihrer Geschichte durch eine einwöchige Fahrt auf einem Frachtschiff 2012 animiert. Es gelang der Dramatikerin wohl nicht, ihre Erlebnisse adäquat in eine Bühnenfassung zu bringen, weshalb sie schließlich, auf dem Material für ihr Stück basierend, ihren ersten Roman schrieb, der hiermit vorliegt. Trotz der einen oder anderen Schwäche kann man nur hoffen, dass Navarro Geschmack an Prosa gefunden hat und weitere Werke folgen lässt. Denn ihre Sprache ist klar, schön, ausgreifend und voller Poesie dort, wo diese angebracht ist, aber auch nüchtern und beklemmend distanziert in ihrer realistischen Beschreibungsfähigkeit.

In ÜBER DIE SEE wird von einem einschneidenden Erlebnis auf einem Frachtschiff berichtet, welches von einer der wenigen Kapitäninnen der Handelsmarine befehligt wird. Mittlerweile gibt es immer mehr Frauen in diesem doch sehr männlich definierten Metier, das mag 2012 allerdings noch spürbar anders gewesen sein. Obwohl der – wie auch allen andern Protagonisten dieses Buchs – namenlosen Kapitänin schon im Moment ihrer Einwilligung klar ist, dass sie damit nicht nur Grenzen niederreißt, sondern auch die Regeln ihres Berufs missachtet, willigt sie ein, als die Bitte der zwanzigköpfigen Besatzung des von ihr befehligten Containerschiffs an sie herangetragen wird, das Schiff verlassen und im Ozean schwimmen gehen zu dürfen. Doch es stellt sich bei ihr auch sofort ein Gefühl ein, dass den Rest des schmalen, 160seitigen Bandes, prägen wird: Etwas verschiebt sich – in ihr, aber es verschiebt sich auch etwas in der Realität, ja, die Realität selbst verschiebt sich gar. So scheint ihr zumindest.

So bleibt sie allein auf dem Schiff zurück, während die Männer allesamt über eine Rettungsinsel im offenen Meer schwimmen gehen. Und sowohl sie – allein auf dem riesigen Schiff – als auch die Männer, jeder für sich der unendlichen Wassermasse ausgeliefert – machen einschneidende Erfahrungen. Im Falle der Besatzung ist es – hier spielt Navarro ein wenig mit dem Klischee, Matrosen könnten allesamt nicht schwimmen – die Erfahrung des Ausgeliefertseins, der Einsamkeit, die auf die anfängliche Euphorie folgt, die die scheinbare Schwerelosigkeit, das Losgelöst-Sein im Meer auslösen. Im Falle der Kapitänin ist es ebenfalls die Einsamkeit, allein auf dem Schiff zu sein, die Frage, ob sie den Koloss allein würde steuern können und somit sicher in einen Hafen bringen. Und schließlich die Möglichkeit, ihre Untergebenen, inklusive ihres Ersten Offiziers, den sie schon lange kennt, schon seit den Tagen der gemeinsamen Lehrgänge, auskundschaften zu können. Was sie im Ansatz tut, als sie sich in einige der Kabinen schleicht, wo die Männer schlafen.

Nachdem alle wieder an Bord sind, stellen sowohl einige Matrosen, als auch der Erste Offizier und schließlich auch die Kapitänin fest, dass ein Mann mehr aus dem Meer gekommen ist, als ursprünglich hineingesprungen waren. Und das bleibt nicht die einzige Dissonanz mit der Wirklichkeit: Der Kapitänin erscheint es, als könne sie das lebende Herz des Schiffes spüren und als dieses dann in eine nicht erklärbare Nebelwand eintaucht, scheint es, als habe der Ozean selbst ein Bewusstsein entwickelt.

Natürlich scheinen hier eine Menge bekannte Motive in Navarros Erzählung auf: Der blinde Passagier, dessen Anwesenheit mehrfach noch thematisiert, nie aber aufgeklärt wird; das Verschmelzen des Seemenschen mit dem Schiff, das Eins-Werden des Menschen mit dem Gegenstand, der Maschine, auf die er sich verlassen muss, die schließlich auch sein Leben schützt; im Motiv des Nebels werden uralte Ängste evoziert, die nicht nur Seefahrer umtreibt, denn nie können wir wissen, was sich in den undurchdringlichen Schwaden verbirgt (einer der schönsten Geisterfilme bedient sich dieses Motivs: THE FOG/1980 von John Carpenter, wo der Nebel und mit ihm der Schrecken tatsächlich auch von der See her landeinwärts drängt); schließlich der Ozean als ein Bewusstsein entwickelnder Organismus, älter als alles, was wir kennen und damit – vielleicht – allwissend, ein Motiv, das wiederum an Stanislaw Lems Geschichte des wissenden und reflektierenden Planeten SOLARIS (1961) gemahnt.

Navarro führt diese Motive mit den ganz persönlichen ihrer Hauptprotagonistin zusammen. Die nämlich ist die Tochter eines ebenfalls zur See fahrenden Vaters, der nach einem ebenfalls unerklärlichen (und im Roman nie näher erläuterten) Vorkommnis auf hoher See für lange Zeit verstummte und kurz vor der Fahrt, von der hier im Buch berichtet wird, verstarb. Immer wieder drängen Erinnerungen an ihn und ihre frühe Kindheit und die späten Tage des alten Kapitäns ins Bewusstsein der Kapitänin, bedrängen sie, irritieren und verstören sie. Sie paaren sich mit scheinbaren Absenzen, vielleicht Ohnmachtsanfällen der Kapitänin, von denen der Erste Offizier annimmt, sie seine auf eine Schwangerschaft zurück zu führen. Die Kapitänin beginnt, „ihr“ Schiff – von dem sie in einer frühen Sequenz im Roman berichtet, wie die Seefahrer*innen sich in den ersten Tagen einer neuen Fahrt immer erst wieder daran gewöhnen müssen, quasi „eins“ werden wollen mit dem Gefährt, die Haut sich mit einem Ölfilm überzieht und der einzelne so Teil des Ganzen wird – neu zu entdecken; diesmal aber ist die Verschmelzung, die zwischen ihr und dem Schiff stattfindet, eine andere, ist gleichsam ein organischer Vorgang, in dem das Schiff ein Lebewesen eigenen Rechts zu werden scheint. Ein Lebewesen, das sich aber in ihr und durch sie spiegelt und mitteilt.

Es scheint ein geprügeltes, ein missachtetes Wesen, welches in den wenigen Stunden, die dem Schwimmen im Meer folgen und die sich so außerordentlich seltsam ausnehmen, auf sich aufmerksam macht. Die Maschinen laufen scheinbar nach eigenem Gusto, mal langsam, mal schneller, kein Offizier, kein Maschinist vermag über sie zu bestimmen. In den Gängen unter Deck scheint sich etwas selbstständig gemacht zu haben, eine Entität, eine Präsenz? Der blinde Passagier taucht hier und da auf, nimmt sogar Kontakt zur Kapitänin auf, entzieht sich aber, sobald sie ihn zur Rede stellen will. Auch er womöglich eine Inkarnation des Willens eines Wesens, das weitaus eher mit jenem des Ozeans verbunden ist, als es mit der Welt des Menschen verbunden sein könnte? Oder aber der eigentliche, auktoriale Erzähler dieser ganzen Mär? Oder eine Projektion dieser Frau in einer Männergesellschaft, die sich doch bedrohter fühlt, als sie wahrhaben will? Ist vielleicht die ganze Erzählung nur eine Phantasmagorie, eine Einbildung, geboren aus der Trauer um den Verlust des Vaters, der sich schon längst entfremdet hatte? Von dem die Frau sich entfremdet hatte?

All diese Fragen lässt die Autorin offen. Womit natürlich der Interpretation Tür und Tor geöffnet sind. Haben die Leser*innen es hier tatsächlich mit einer psychischen Projektion der Autorin zu tun, gefiltert durch eine (fiktive) Kapitänin, die sie auf ihrer achttägigen Reise ja nicht gewesen sein kann, um ein für sie vielleicht nicht wirklich angenehmes Erlebnis zu kompensieren oder schlicht zu verarbeiten? Seefahrten sind nicht jedermanns oder jederfraus Sache und es gibt Menschen, die sich auf einem Schiff, Tausende Meter über dem Grund des Meeres, seinen Launen, seinem Willen (sic!) schier hilflos ausgeliefert, ausgesprochen unwohl fühlen. Doch wie dem auch sei – um zu einem Abschluss zu kommen, verfällt Navarro am Ende ihrer Erzählung dann in eine Art esoterisches Raunen, das alles und nichts bedeuten kann und schwächt ihre ungemein spannende, dichte und eindringliche Erzählung leider enorm ab.

Das ist bei vielen Erzählungen, die mit dem Übernatürlichen, dem Irrationalen, dem Unerklärlichen spielen, die sich bewusst surrealer Elemente bedienen und auf dem schmalen Grat zwischen konkreter Erzählung und subjektivem Empfinden der Protagonisten balancieren, oftmals der Fall: Sie kommen zu keinem guten Ende. Es kann nicht ein jeder ein Franz Kafka sein, es kann nicht mal ein jeder ein Stephen King sein, dem zumindest meistens recht gute Auflösungen seiner Geschichten einfallen. Hier schließlich ist es so, dass eine jede oder ein jeder in das Ende von Navarros Roman hineinlesen kann, was ihm beliebt. Trauerverarbeitung oder Trauma-Verarbeitung, feministische Selbstermächtigung oder einfach nur eine seltsame, beunruhigende Begebenheit auf hoher See, wie sie Joseph Conrads Alter Ego Marlow in einer tropischen Nacht aufmerksamen Zuhörern berichten könnte, während Whisky, Wein, Grog und Rum langsam zur Neige gehen. So oder so eine sehr gute Seefahrergeschichte.

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