WIR SIND NICHT WIR/WE ARE NOT OURSELVES

Matthew Thomas erzählt nüchtern vom ganz normalen Alltag

Irgendwann während der Lektüre dieses grandiosen Romans fragt man sich– vielleicht nach 400, vielleicht nach 600 Seiten – ob es das wirklich sein kann: Das ganze Leben zwischen zwei Buchdeckeln, all die Hochs und Tiefs, die Aufs und Abs, all die Freude, der Schmerz und das Vergehen, und dann sind es doch immer noch zu viele Seiten. Und augenblicklich schämt man sich für diesen Gedanken. Denn dem Debutanten Matthew Thomas ist da etwas gelungen, an dem sich viele versuchen und woran die meisten scheitern: Das Leben, EIN Leben, so kompakt und dennoch ausgreifend einzufangen, so zu umfassen, daß der Leser wirklich den Eindruck gewinnt teilzunehmen, diese Menschen zu begleiten von der Wiege bis ans Grab. Und das Leben ist einfach nicht so aufregend, daß auf nahezu 900 Seiten immer etwas passieren könnte und dennoch braucht es mindestens 900 Seiten, das Leben einzufangen. Also muß man sich als Leser darauf einlassen, auch die Mühen der Ebene zu durchwandern. Lesen ist manchmal anstrengend.

Eileen Leary, Tochter irisch-stämmiger Amerikaner, versucht, der alkoholkranken Mutter und einem unzuverlässigen Vater, der häuslichen Enge, dem kleinbürgerlichen Queens zu entkommen. Sie wird Krankenschwester, lernt Ed, einen angehenden Forscher, kennen, sie heiratet ihn, sie bekommt nach anfänglichen Schwierigkeiten das sehnlichst erwartete Kind – ein Junge, was für Ed wichtig scheint – und muß schließlich, neben all den alltäglichen Entscheidungen, die ein alltägliches Leben mit sich bringt – Wohnungs- bzw. Haussuche, Einrichtung, Geldsorgen, Freundschaften, Verwandten und Bekannten, bescheidener Karriere und Weiterbildungen, die Erziehung des Kindes – die Alzheimererkrankung ihres Ehemannes er-tragen.

So könnte man die Handlung durchaus zusammenfassen. Dabei stellt man fest: eine Handlung im engeren Sinne gibt es in diesem Mammutwerk nicht. Wie in unser aller Leben, die nun einmal sind, wie sie sind zwischen Altersvorsorge, Jahresurlaub und Kreditraten, herrscht auch in den beschriebenen manchmal gleichmütige Langeweile und Thomas scheut sich nicht, diese zu beschreiben. Er ergeht sich zwischenzeitlich in seitenlangen Beschreibungen neuer Kücheneinrichtungen, läßt uns intensiv an Eileens Gedanken und Sorgen hinsichtlich des Hauskaufs in einem „besseren“ Viertel, an der Suche und dem Umzug teilnehmen und sollte ein Leser an dieser Stelle der Rezension denken: Nein, danke, das kenne ich ja alles schon aus meinem eigenen Leben, dann sei ihm versichert: Ja, so ist es. Also Finger weg, wer an Spannung, Handlungsaufbau und Dramatik, wer an außergewöhnlichen Charakteren und exotischen Schauplätzen interessiert ist. Hier beschreibt einer wirklich das „ganz normale Leben“ zwischen den Nachkriegsjahren bis hinein ins neue Jahrtausend.

Präsentiert wird uns das alles zunächst aus der Perspektive Eileens, irgendwann dann weicht  Thomas auf den Sohn Connell aus, um die beginnende Krankheit des Vaters aus verschiedenen Blickwinkeln beschreiben zu können. Es teilen sich im letzten Drittel des Buches Mutter und Sohn in nicht ganz austarierten Anteilen die Erzählperspektiven. Das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch, stellt allerdings einen spürbaren Bruch in der Erzählung dar. Zehn Jahre soll der Autor an seinem Werk gearbeitet haben – und wie vielen Werken, denen ein ähnlicher Ruf vorauseilt, merkt man auch diesem an, daß solch lange Entstehungszeiten sich irgendwie im Verlauf der Lektüre bemerkbar machen. Wobei Thomas einen hohen Grad an Kohärenz erreicht. Wir sind also schließlich Seelenbegleiter von Mutter und Sohn, nur Vater Ed, der bereits in seinen frühen 50ern erste Anzeichen der Demenzerkrankung zeigt, bleibt dem Leser seltsam fern, was sich schließlich aus der Entwicklung des Buches erklärt.

Matthew Thomas gelingt nicht nur die Bewältigung dieser so unterschiedlichen Seelenleben, sondern vor allem bewältigt er die gewaltige Zeitspanne, die seine Erzählung umfasst. Vergleicht man seinen Roman mit bspw. Meg Wolitzers DIE INTERESSANTEN, fällt genau dieser qualitative Unterschied auf: Auch sie verfolgt einige Menschen – eine Freundesgruppe – über nahezu 40 Jahre, doch erlebt der Leser immer eine seltsam hermetische Atmosphäre, als verginge zwar die Zeit, nicht aber in ihr die Leben der Beschriebenen; ähnlich ergeht es dem Publikum bei der Lektüre von Donna Tartts DER DISTELFINK. Es ist die Begrenzung der Figuren, es ist die Kohärenz der Geschichte, die dem Erlebnis des eigenen Lebens entgegensteht und einen bei der Lektüre der genannten Werke immer darüber bewußt sein läßt, es mit einem Roman, einer Fiktion zu tun zu haben. Thomas gelingt es – auch, indem er das Wagnis eingeht, den Leser gelegentlich vor den Kopf zu stoßen und in zunächst unklare Situationen zu führen – die geschilderten Leben offen zu halten. So werden beispielsweise Connells Freundinnen erwähnt, Schulfreunde ebenso, doch Thomas scheut sich nicht, eingeführte Personen einfach fallen zu lassen und gelegentlich Dutzende Seiten später aufzuklären, wie gewisse Zwischenfälle oder Beziehungen geendet sind oder weiter Bestand hatten. Es ist genau diese Art, dieser Stil, der den Eindruck erweckt, wirklichen Lebensläufen zu folgen. Auch bei unseren besten Freunden wissen wir manchmal Jahre nicht, was sie umtreibt, wie es mit ihrer letzten Affäre weitergegangen ist, erfahren manchmal erst Monate später von der lang erwarteten Beförderung oder daß eine große Anschaffung getätigt wurde. Menschen verschwinden aus unserem Leben, manche für immer, andere tauchen nach einer Weile unvermittelt wieder auf. Thomas gelingt es, genau diese Entwicklungen, Lebensbahnen und Verläufe spürbar und nachvollziehbar zu machen. Ganz besonders gelingt ihm all das, weil er uns Menschen präsentiert, keine Abziehbilder. Eileen wird von einem etwas vorlauten, gewitzten Kind zu einer manchmal verbitterten, im Herzen konservativen Frau, die ihre Lebensweisheiten, Ansichten und Ressentiments (auch gegen Schwarze oder Mexikaner) zwar nicht vor sich her trägt, sie uns aber auch keineswegs verschweigt; sie ist eine Frau, die sich durchaus anmaßt, das Leben ihres bereits volljährigen Sohnes in die Hand zu nehmen; eine Frau, deren konservative, manchmal sehr amerikanischen Werte ihr Leitbild sind und die in ihrer Rigorosität nicht immer sympathisch wirkt; eine Frau, deren Leben so ganz anders verlief, als geplant und die bereit ist, genau diese Lektion zu lernen: Es ist ein krummes Holz, dies´ Leben. Der noch gesunde Ed wird uns als ein Mensch beschrieben, der das Image eines verschrobenen Professors auch nutzt, mangelnde Ambitionen zu verstecken, als liebevoller Vater, als ein begeisterter Baseballfan und schließlich als zerrütteter Geist, der in der  Abwesenheit als die Person, die er war, vollkommen im Mittelpunkt der späteren Erzählung steht, dreht sich doch alles um seine Erkrankung. Connell schließlich ist ein Heranwachsender, der gern seiner Mutter behilflich wäre und merkt, daß er dazu nicht wirklich bereit oder in der Lage ist, er läßt sie mehr als einmal im Stich mit dem Vater, muß zugleich aber eine Jugend durchleben mit all ihren Nöten und Ängsten, ohne daß seine Eltern ihm unbedingt zur Seite stehen. Die gemeinsamen Bekannten und Freunde werden als Wesen mit Ecken und Kanten und Widersprüchen gezeigt. Das wird evident, sobald Ed ernsthaft erkrankt.

Spätestens in der Beschreibung der fortschreitenden Demenz erreicht Thomas wirklich  einsame Höhen literarischen Könnens. Der Roman beruht nach Verlagsauskünften teils auf autobiographischen Erfahrungen. Wer selber mit demenzkranken Verwandten zu tun hat, wird schnell merken, daß dem wohl so sein wird, denn hier werden offen schmerzliche Seiten der Erkrankung beschrieben, die Betroffene sofort erkennen – und zwar in ihrer Spezifik erkennen. Thomas geraten atemberaubende Beschreibungen der Krankheit, ihres Verlaufs, ihrer Erscheinungsformen, davon, wie sie Menschen die Würde nimmt, davon, wie sehr sie die betroffenen Familien bestimmt. Er scheut sich nicht, die ekelerregenden Aspekte zu benennen, er zeigt die durchaus komischen, wenn auch meist bitteren Momente und die totale Hilflosigkeit, wenn man einen Menschen zu begleiten versucht, der an der Beschaffenheit einer ihm nicht mehr verständlichen Welt zu Grunde geht. Ed war Hirnforscher, natürlich entbehrt sein Schicksal schon in sich nicht einer gewissen Ironie, doch tragisch wird es in Momenten, in denen er versucht, gegenüber seinem Sohn noch einmal die alte Autorität des allwissenden Vaters zu verkörpern und dabei nahezu lächerlich wirkt. Wohl gemerkt: Thomas gibt die Figur niemals der Lächerlichkeit Preis, nicht einen Moment. Aber er macht das Gefühl der Scham spürbar, das empfindet, wer nahe Verwandten schon in solchen Situationen erleben musste. Es ist eben auch diese Ehrlichkeit, die das ganze Unterfangen dieses wuchtigen Werkes so glaubwürdig macht.

Hier liegt ein großer Roman vor, ein Werk, vergleichbar mit denen eines Wallace Stegner – auch einer der großen Erzähler des amerikanischen Alltags – das sich nicht scheut, seine Leser anzustrengen und das sicher nicht nur Zuspruch erfahren wird als Roman – als Zeugnis wird sich ihm niemand verweigern können. Ob Thomas die Virtuosität eines Jonathan Franzen erreicht, wie gern in den Feuilletons diskutiert wird, ob er die Kraft hat, das ungeheure Material über die volle Länge seines Werks zu bewältigen, ob ihm wirklich gleichbleibend ein hohes Niveau gelingt oder ob man das Ganze um einige Seiten hätte kürzen sollen – all diese Fragen sollten nicht davon abhalten, sich auf die Geschichte von Eileen Leary und ihrer Familie einzulassen. Man wird mit einem Lesesog belohnt, den nur wenige Werke auf diesem Niveau jenseits reiner Belletristik entfachen.

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