ANATOMIE EINES MORDES/ANATOMY OF A MURDER

Otto Premingers Skandalfilm kann - wenn auch aus anderen Gründen als seinerzeit - immer noch überzeugen

Der ehemalige Bezirksstaatsanwalt Paul Biegler (James Stewart) hat seinen Posten gegen seinen Kontrahenten Mitch Lodwick (Brooks West) verloren und verdingt sich nun als Anwalt für Bagatelldelikte in einer Kleinstadt in Michigan. Ihn persönlich ficht die Situation nicht sonderlich an, da er viel Zeit auf seine Hobbies – Angeln, das Pianospiel und juristische Fachsimpelei mit seinem Freund Parnell Emmett McCarthy (Arthur O´Connell) – verwenden kann, doch läuft seine Kanzlei schlecht und nur dem guten Willen seiner Sekretärin Maida Rutledge (Eve Arden) ist es zu verdanken, daß Biegler überhaupt noch eine Sekretärin hat. Ihr Gehalt fließt nämlich nur sehr unregelmäßig.

Eines Tages geht ein Anruf im Büro ein und Biegler wird ein etwas heikler Fall angetragen: Ein Soldat – Lieutenant Frederick Manion (Ben Gazzara) – hat den Barbesitzer Quill erschossen, nachdem dieser Manions Frau Laura vergewaltigt habe. Laura selbst ist es, die Biegler dies alles erzählt und ihn bittet, ihren Mann vor Gericht zu vertreten.

Biegler zeigt sich interessiert, vor allem, weil die Kanzlei Geld braucht. So kommt Laura in sein Büro, wo Biegler einen ersten Eindruck von der koketten, offenbar sehr lebensfrohen jungen Frau erhält, die sich nicht scheut, schnell und direkt mit ihm zu flirten. An ihrer Seite immer einen kleinen Hund, versteht Mrs. Manion es durchaus, Aufmerksamkeit zu erregen und dem einen oder anderen Mann den Kopf zu verdrehen. Biegler versucht vorsichtig, sie darauf hinzuweisen, daß ihr Auftreten möglicherweise falsch verstanden werden könnte. Davon will Laura Manion aber nichts hören. Ihre Fröhlichkeit und Lebensfreude können weder die Tatsache einer kürzlichen Vergewaltigung, noch das blaue Auge einschränken, das sie nach eigener Aussage bei Quills Angriff davongetragen hat.

Biegler übernimmt den Fall. Er bittet McCarthy, ihm zu attestieren. McCarthy ist selbst ein brillanter Jurist, aufgrund seiner Alkoholprobleme hat er aber nie die Stellung bekommen, die er verdient gehabt hätte. Biegler stellt deshalb auch die Bedingung, daß McCarthy während des Falles nicht trinkt. Das verspricht dieser seinem Freund und hält dieses Versprechen auch ein.

Die beiden stürzen sich mit Unterstützung von Mrs. Rutledge in den Fall. Biegler besucht Lt. Manion im Gefängnis und lernt einen von sich selbst überzeugten jungen Mann kennen, der der Meinung ist, im Recht zu sein, sei es doch ein ungeschriebenes Gesetz, daß es ihm straffrei erlaube, im Affekt den Angreifer seiner Frau zu töten. Biegler macht ihn darauf aufmerksam, daß, wer sich auf ungeschriebene Gesetze berufe, wahrscheinlich eine lange Zeit im Gefängnis verbringen könnte.

Biegler und McCarthy wollen auf einen „emotionalen Ausnahmezustand“ plädieren, der ihren Mandanten vorübergehend unzurechnungsfähig gemacht habe. Dagegen spricht leider der zeitliche Ablauf zwischen dem Moment, in dem Frederick Manion seine Frau traf und jenem, als er seinen Kontrahenten erschoß. Hingegen passt es zur Strategie, daß Manion behauptet, sich an die Tat selbst nicht mehr erinnern zu können.

Er erinnere sich an die aufgelöste Laura und wie er die Pistole genommen habe, auch wie er in Quills Bar eingetreten sei und diesen zur Rede gestellt habe. Doch dann reiße seine Erinnerung ab, er wisse nur, daß er danach wieder zu sich gekommen sei und die Waffe in der Hand gehalten habe.

Es gelingt Biegler nicht nur, Manion einen Lügendetektortest zu beschaffen, der vor Gericht aber nicht aussagekräftig ist, sondern, wichtiger, auch eine psychiatrische Untersuchung in einem angesehenen Institut. Dadurch bekommt Manion ein Gutachten, daß Bieglers Strategie unterstützt.

Der Prozeß beginnt unter dem freundlichen Vorsitzenden Richter Weaver (Joseph N. Welch). Natürlich ist es ausgerechnet der Bezirksstaatsanwalt Lodwick, Bieglers alter Widersacher um den Posten, der die Gegenseite vertritt. Zudem hat Lodwick sich Unterstützung geholt. Der Ankläger Claude Dancer (George C. Scott), ein erfahrener Ankläger aus Chicago, sitzt am Tisch der Staatsanwaltschaft. Er hat das Recht, selbst in die Zeugenbefragungen einzugreifen.

Während die Geschworenen ausgesucht werden und der Richter beide Seiten bittet, fair und zügig zu verhandeln, suchen Biegler und McCarthy weiterhin nach Zeugen und Beweisen, die ihre Strategie unterstützen. Dazu besuchen sie Alphonse Paquette (Murray Hamilton), der für Quill gearbeitet hat und nichts auf seinen Chef kommen lässt, ganz im Gegenteil Manion sogar einen kaltblütigen Mord unterstellt. Zudem behauptet er, Lauras Vorwurf der Vergewaltigung sei erfunden.

Dancer und Lodwick verfolgen die Strategie, das Gutachten, das Dr. Smith (Orson Bean) für Biegler erstellt hat, anzugreifen und Manion schlicht als Mörder hinzustellen, der einen Mann kaltblütig erschossen hat. Allerdings bringt Biegler geschickt das Motiv, die Vergewaltigung, ins Spiel, das die Anwälte eigentlich komplett aus dem Fall heraushalten wollten.

So schwenken sie um und erklären nun, daß Manion ein eifersüchtiger Ehemann gewesen sei, was die Sache in ihren Augen noch eindeutiger macht. Denn, so ihre Erklärung, Laura sei oftmals auffällig aufreizend gewesen, habe mit fremden Männern getanzt, sei allein ausgegangen und habe ihrem Gatten jeden Grund zur Eifersucht gegeben. Diese Sicht lehnen aber sowohl Laura, als auch Frederick Manion selbst ab. Beide behaupten, dafür habe überhaupt kein Grund bestanden.

Dancer geht immer weiter und unterstellt Laura indirekt, ihren Mann betrogen zu haben und dafür auch in der Vergangenheit von ihm gezüchtigt worden zu sein. Auch das – wie auch den Vorwurf, Laura könne eine heimliche Affäre mit Quill gehabt haben – streiten Laura und Frederick ab.

Derweil unterhalten sich McCarthy und Maida Rutledge mit diversen Zeugen der Tat, unter anderem mit Mary Pilant (Kathryn Grant), die für Quill gearbeitet, die Bar mehr der weniger gemanagt hat und der gelegentlich ebenfalls ein Verhältnis mit Quill unterstellt wird. Biegler will von ihr wissen, ob sie irgendwo in Quills Sachen ein Höschen gefunden habe. Das nämlich wäre der einzige greifbare Beweis, daß Quill sich wirklich an Laura vergriffen habe. Die nämlich hatte sich am betreffenden Abend von Quill im Auto mitnehmen lassen und als sie im Wald am Trailerpark angekommen seien, wo die Manions in einem Wohnwagen leben, sei er über sie hergefallen und habe später ihr Höschen behalten.

Mary weist alles zurück und als Biegler sie fragt, ob sie Quill schütze, weil sie eine Affäre mit ihm gehabt habe und deshalb befangen sei, platzt es aus der jungen Frau heraus: Sie sei Quills Tochter, nicht seine Geliebte. Sie habe aber nicht gewollt, daß man das wisse, da sie ihn verabscheut habe für seine Grobheiten. Mit dem Prozeß will sie nichts zu tun haben.

Derweil bringt die Staatsanwaltschaft nicht nur Piquette in den Zeugenstand, sondern auch einen Mithäftling von Manion, der erzählt, wie dieser ihn wegen einer Lässlichkeit direkt brutal angegangen sei und ihn körperlich und verbal bedroht habe. Das Bild des unbescholtenen Soldaten, das Frederick Manion unbedingt aufrechterhalten will, kommt ins Wanken.

Der Ton zwischen Biegler und Dancer wird immer rauer, je mehr der Ankläger sich bemüht, Laura Manion in die Ecke zu drängen. Zwar gelingt es Biegler immer wieder, mit geschickten Kreuzverhören die Zeugenaussagen so zu erweitern, daß deutlich wird, daß Quill durchaus rauflustig war und vor allem ein guter Schütze, zudem geheime Fächer unter der Theke hatte, in denen Waffen versteckt waren. Frederick, der das wusste, habe also annehmen müssen, daß sein Gegner bewaffnet sein könnte, wenn er ihn zur Rede stellt, weshalb er selber eine Waffe mitführte. Doch gelingt es Dancer dennoch, Laura in ein schlechtes Licht zu rücken und Frederick Manion zu provozieren.

Doch schließlich tritt Mary Pilant doch vor Gericht auf, wo Dancer nun versucht, sie anzugreifen und als leichtes Mädchen hinzustellen. Schließlich erklärt sie, in welchem Verhältnis sie zu Quill stand – doch vor allem kann sie das Höschen vorweisen, das Quill von Laura behalten hatte und welches der Beweis ist, daß deren Geschichte wohl stimmt.

Die Geschworenen sprechen Frederick Manion schließlich frei, weil sie Biegler folgen und Manion den „emotionalen Ausnahmezustand“ zugestehen.

Biegler und McCarthy fahren einige Tage später zum Wohnwagenplatz, um das Honorar abzuholen. Doch Laura und Frederick Manion sind weg. Offenbar haben sie sich mit ihrem Wohnwagen aus dem Staub gemacht. Maida Rutledge wird einmal mehr auf ihren Gehaltsscheck warten müssen.

Manche Filme überdauern die Zeit scheinbar problemlos. Sie überzeugen auch Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung anhand der Inszenierung, der Schauspielleistungen oder eines engagierten und hintergründigen Drehbuchs. Bei manchen, die in ihrer Zeit von großer Bedeutung waren, ist Dekaden später kaum mehr nachvollziehbar, weshalb sie einst relevant gewesen sind. Und manche ändern im Laufe der Zeit die Bedeutungsebenen und können aus vielleicht ganz anderen Gründen überzeugen, denn einst.

Otto Premingers ANATOMY OF A MURDER (1959) kann zur letzten Kategorie gezählt werden. Wie viele der Filme des Regisseurs – erst recht, nachdem er sich 1953 durch die Gründung einer eigenen Produktionsfirma weitestgehend unabhängig von der restriktiven Selbstzensur in Hollywood gemacht hatte – war auch dieses Werk ein Skandalfilm, der wenig Rücksicht auf moralische Konventionen nahm. Im Gegenteil, ANATOMY OF A MURDER nahm gerade gesellschaftliche Konventionen und moralische Verhaltenskodexe sowie etliche Tabus aufs Korn und entlarvte, wenn auch nicht mit der Eindringlichkeit wie THE MAN WITH THE GOLDEN ARM (1955), der für damalige Verhältnisse recht schonungslos vom Schicksal eines Drogenabhängigen berichtete, eine bigotte Gesellschaft. Allerdings tat er dies hintergründig und in einem doppeltem Sinne.

Der Mörder steht von Beginn des Films an fest. Ein Soldat erschießt den mutmaßlichen Vergewaltiger seiner Frau und stellt sich. Die Dame sucht den von James Stewart einmal mehr mit großer Präzision und all seiner schlaksigen Wurschtigkeit gespielten Anwalt Paul Biegler auf, der eigentlich nicht mehr an Kapitalverbrechen interessiert ist, hat er es sich doch längst mit kleinen Bagatelldelikten gemütlich eingerichtet, wodurch er seiner Leidenschaft – dem Angeln – ungestört frönen kann. Interessant an dem Fall ist das vermutliche Opfer der Vergewaltigung, die von Lee Remick gespielte Laura Manion, die ein recht freies und durchaus frivoles Leben führt, gern ausgeht, dadurch allerdings auch einen gewissen Ruf riskiert. Ende der 50er Jahre ein skandalträchtiges Verhalten für eine verheiratete Frau. Auch gegenüber Biegler kann sie auf ihre Spielchen und Animierversuche nur schwer verzichten, gibt sich kokett bis anzüglich. Und ihr Gatte, Lieutenant Frederick Manion, ist ebenfalls nicht das unbescholtene Blatt und bei Weitem nicht so arglos, wie er sich gern gibt. Aufbrausend und gewaltbereit ist ihm durchaus auch schon die Hand gegenüber seiner doch etwas sehr freigiebigen Frau ausgerutscht. So versucht Biegler mit Hilfe seines Freundes und juristischen Beraters Parnell Emmett McCarthy darauf zu plädieren, daß sein Mandant zum Zeitpunkt des Schusses auf sein Opfer in einem emotionalen Ausnahmezustand gewesen sei.

Preminger inszeniert vor allem eines der in Hollywood so beliebten Gerichtsdramen, wobei er das gesamte Verfahren in den Blick nimmt. Er zeigt die anwaltlichen Ermittlungen, die Besuche im Gefängnis, die Vernehmung der Beteiligten durch den Anwalt, die Suche nach Präzedenzfällen und die Vorbereitung auf den Prozeß. Allein die Plädoyers der Staatsanwälte und des Verteidigers lässt er entfallen, kann er sich doch darauf verlassen, daß der Zuschauer diese kaum mehr zu hören braucht, da er beider Haltungen zu diesem Zeitpunkt des Films ausreichend kennt. Bieglers Gegenspieler, der Bezirksstaatsanwalt Lodwick, gegen den der Anwalt zuletzt die Wahl um das Amt verloren hatte, holt sich seinerseits Hilfe durch den Staatsanwalt und Ankläger Claude Dancer, der weitaus versierter bei Kapitalverbrechen ist. Dieser vom George C. Scott mit aller ihm zur Verfügung stehenden Schneidigkeit – und davon hatte der junge Scott nicht weniger als der ältere, der als General George S. Patton im gleichnamigen Film (PATTON/1970) reüssieren und einen Oscar gewinnen sollte – gespielte Ankläger bringt dann auch urbane Nonchalance, aber auch die für die Anklage nötige Schärfe in den Gerichtssaal, um dem wortgewandten Biegler ein gleichwertiger Antipode zu sein. So schneidend und lässig, ja elegant dieser Claude Dancer auftritt, so kalt und präzise, nötigenfalls aggressiv, kann sich der vermeintliche Kleinstadtanwalt Biegler geben.

Es ist dann auch das Duell dieser beiden Widersacher – zugleich zweier großartiger Schauspieler mit unterschiedlichem Ansatz in ihrer Profession und damit auch ein Generationenduell – das den Film auch heute noch sehenswert macht. Dies und der Humor, mit dem Preminger an den Film generell herangeht. Es ist auffällig, wie der aalglatte Herr Staatsanwalt, der ja eigentlich einer jüngeren Generation angehört, jedes noch so althergebrachte moralische Prinzip aufruft, um Mrs. Manion zu diskreditieren. Und ebenso auffällig ist Bieglers nie bösartiger aber immer wieder treffender Witz, der die Selbstgerechtigkeit entlarvt, die sich hinter der Fassade der Gutbürgerlichkeit der Staatsanwälte versteckt. Allerdings kann Biegler eben auch anders und es gibt einige Situationen vor Gericht, in denen Stewart zeigen darf, daß auch er ganz anders kann – aus der Haut fahren bspw., ehrlich empört sein über die Bigotterie, mit der seine Gegner  vorgehen, und schließlich wirklich wütend werden, wenn Dancer versucht, Mrs. Manion als Flittchen darzustellen, deren Gatte durchaus berechtigten Grund gehabt habe, eifersüchtig zu sein. Es gehört allerdings zu Premingers filmischer Strategie, genau diese Zweifel auch beim Zuschauer zu säen, um diesen damit aufs Glatteis zu führen, indem er ihn die eigene Doppelmoral spüren lässt.

Der Witz des Films funktioniert aber auch außerhalb des Gerichtssaals. Mit der Sekretärin Maida Rutledge, die aus unerfindlichen Gründen auch weiter für Biegler arbeitet, obwohl sie ihr Gehalt offensichtlich nur sehr unregelmäßig erhält, hat der Anwalt auch im Berufs- und Privatleben einen angemessenen Gegenpart. Die Dialoge der beiden sind manchmal herrlich komisch. Kommt dann noch McCarthy hinzu, macht es einfach Spaß, Wendell Mayes Script zu lauschen. Nach einem launigen, von Saul Bass kreierten Vorspann, unterstützt durch einen schmissigen, sehr swingenden Soundtrack von Duke Ellington, der im Film auch selbst auftritt und in einer Bar-Szene ein Duett mit Stewart spielt, nimmt Preminger sich viel Zeit, um die Figuren einzuführen. Wenn Lee Remick erstmals in Erscheinung tritt, haben wir bereits ausführlich Kenntnis davon bekommen, daß Biegler gern angelt – auch wenn er seine Fänge selten zu verzehren scheint, ist sein Kühlschrank doch voller Fische – , dafür aber wenig verdient; wir wissen, daß ihn der Verlust seines Amtes als Bezirksstaatsanwalt eher wenig tangiert, auch die daraus resultierenden finanziellen Verluste scheinen ihn nicht wirklich zu stören. Desweiteren haben wir begriffen, daß sein Kumpel McCarthy, mit dem Biegler abends gern anhand berühmter oder außergewöhnlicher Fallbeispiele juristische Fachsimpelei betreibt, ein ernsthaftes Alkoholproblem hat, welches Biegler dadurch zu kurieren hofft, indem er ihn explizit auffordert, ihm beim anstehenden Fall zur Seite zu stehen, wobei er aber keinen Alkohol trinken dürfe. Das wiederum gelingt McCarthy auffallend einfach, allerdings ist es auch nicht das Anliegen des Films, sein Publikum ernsthaft mit den Problemen eines Alkoholikers vertraut zu machen. Dieses positive Dreigespann – Biegler, McCarthy, Rutledge – trägt den Film, sorgt beim Publikum für ausreichend gute Laune und gehört genau damit ebenfalls zu Premingers Strategie. Denn der Regisseur lässt uns lange im Glauben, wir hätten es einfach mit einem unterhaltsamen Gerichtsdrama zu tun, befänden uns also auf sicherem Grund.

So kommt der Film zunächst leicht daher. Mayes Drehbuch lässt organisch eins ins andere greifen, weshalb die nahezu zweieinhalb Stunden Filmzeit wie im Flug zu vergehen scheinen.  Das liegt auch an Remicks und Ben Gazzaras Darstellung des Ehepaars Manion, die einem zumindest so sympathisch sind, daß man ihnen – und ihrem Anwalt natürlich, denn wem wäre Jimmy Stewart nicht sympathisch? – einen Erfolg vor Gericht wünscht. Hinter der Leichtigkeit allerdings lauert der doppelte Boden: Frederick Manion ist trotz allem ein Mörder. Er hat das Leben eines Mannes ausgelöscht, dessen Schuld zwar behauptet, aber im Film nie letztgültig belegt wird, wenn auch starke Indizien sie zu bestätigen scheinen. Und er kommt schließlich und endlich damit davon. Dies ist natürlich Bieglers hervorragender Verteidigung geschuldet, aber eben auch Dancers Voreingenommenheit und der Unfähigkeit der Staatsanwaltschaft, sich aus ihren eigenen engen moralischen Kodexen zu befreien, über den Tellerrand der eigenen Wohlanständigkeit zu blicken. Natürlich finden Biegler und McCarthy zudem den richtigen Präzedenzfall, was in Gerichtsfilmen schon zum Axiom geworden ist, und vor allem tritt im richtigen Moment die richtige Zeugin auf, um das Todesopfer – ein Bar-Besitzer – so zu belasten, daß Lieutenant Manion in einem besseren Licht dasteht.

Vielleicht ist dies die einzige Schwäche des Drehbuchs, denn die Auflösung wirkt doch etwas sehr leicht, sehr passend, um Biegler und den Manions in die Karten zu spielen. Aber es ist Preminger eben gar nicht um ein spannendes Verbrechen zu tun, es geht ihm eben nicht darum, verschlungene Pfade zur Wahrheit nachzuzeichnen und dem Zuschauer unerwartete Wendungen zu präsentieren. Es geht dem Regisseur darum, mit einer genauen psychologischen Charakterzeichnung der einzelnen Figuren das schwarz-weiße Denken des amerikanischen Mittelstands auf- und anzugreifen, zu entlarven als etwas Unerbittliches, das alternative Lebensentwürfe, unkonventionelles Handeln und gesellschaftlich nicht akzeptables Verhalten scharf sanktioniert. Am Ende der konservativen 50er Jahre ein ehrenwertes, aber auch gefährliches Anliegen. Gefährlich in dem Sinne, daß schlechte Presse in den falschen Magazinen und Zeitungen für einen unliebsamen Film eine kommerzielle Katastrophe bedeuten konnte. So basteln Preminger und Mayes eben das Trio Biegler, McCarthy, Rutledge als arglos, konservativ, gutbürgerlich, humorvoll und ein wenig altersweise, um dann umso genauer auf die Charaktere der Manions blicken zu können, die er sehr genau unter die Lupe nimmt- allerdings ohne zu urteilen.

Die Pointe des Films offenbart sich dann die letzte Szene des Films, wenn Biegler und McCarthy zu jenem Campingplatz fahren, wo die Manions wohnen, um ihr Honorar einzustreichen – und das Pärchen über alle Berge entfleucht ist. Möglicherweise wäre dieser Dreh gar nicht nötig gewesen, um das Ehepaar noch einmal deutlich in seiner Ambivalenz und eben keineswegs so eindeutig zu zeichnen, wie man zuvor hätte meinen können. Gazzara und Remick spielen ihre Rollen so gut, daß die weniger sympathischen Züge dieser Figuren sehr wohl ins Bewußtsein des Zuschauers dringen. Preminger hätte auch ein wenig mehr Vertrauen in die Intelligenz und Empathie seines Publikums haben können. Denn genau das macht ANATOMY OF A MURDER ja so reizvoll: Wie genau hier Charaktere beschrieben und studiert werden, wie die Risse mitten durch die Charaktere hindurch gehen und wie es gelingt, die ganze Studie in einer scheinbar harmlosen Verpackung daherkommen zu lassen.

Denn genau mit dieser Ambivalenz konfrontiert Preminger das Publikum, führt es aber auch aufs Glatteis: Man mag diese Leute, fühlt sich von Remicks koketter und Gazzaras kumpeliger Art angezogen, ertappt sich dabei, wie man ihnen Erfolg wünscht, wohlwissend, daß man es mit einem Mörder zu tun hat, so oder so. Die Vergewaltigung mag nach der Aussage der letzten Zeugin wahrscheinlich sein, belegt ist sie, wie bereits erwähnt, keineswegs. Der vermeintliche Vergewaltiger ist aber tot und Frederick Manion hat ihn – ob nun im Affekt, in einem emotionalen Ausnahmezustand oder kalt berechnend – getötet. Preminger zieht uns also kühl auf die Seite eines Mörders. Er untersucht diesen außer Frage stehenden Mord, er anatomisiert ihn und behauptet damit eine wissenschaftliche Präzision, der die psychologische Unschärfe, die den Figuren nun einmal immanent ist, ihre Vielschichtigkeit und auch Widersprüchlichkeit, die so präzise herausgearbeitet werden, widerspricht. Der Zuschauer seinerseits bleibt mit einer moralischen Unschärfe, in einem Dilemma zurück, die nicht aufzulösen sind. Darin liegt die Stärke der Erzählung und der Inszenierung.

Der Regisseur Otto Preminger findet für diese Präzisierungen immer wieder Einstellungen und Kamerawinkel, die uns die Sicht verstellen, uns in trügerischer Gewißheit wiegen, wo längst der moralische Grund sehr uneben und durchlässig geworden ist. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn exemplarisch sei die Szene benannt, in welcher Dancer Mrs. Manion immer schärfer verhört, immer lauter wird und sie immer direkter mit seinen Vorwürfen angeht. Während sich Dancer/Scott geradezu in ein Crescendo moralischer Anwürfe gegenüber einer Frau hineinsteigert, die er vielleicht wirklich, vielleicht nur aus professioneller Haltung heraus verachtet, verdeckt Preminger geschickt die Sichtachse zwischen ihr und ihrem Anwalt. Wieder und wieder versucht Stewart hinter dem Rücken des Staatsanwalts hervor zu lugen und Kontakt zu seiner Mandantin aufzunehmen, bis er entnervt aufgibt und per Einspruch das Gericht anruft, es möge diesen Kontaktabbruch doch bitte unterbinden. Wir wissen nicht, ob es Absprachen zwischen Biegler und Manion gegeben hat, aber offensichtlich bringt Dancer sie immer mehr in die Bredouille mit seinen Anzüglichkeiten und Unterstellungen, die sie wie ein leichtes Mädchen, gar eine Dirne dastehen lassen. Die Zweifel, die er sät – und die in einem amerikanischen courthouse-drama immer auf die Geschworenen zielt, die schlußendlich entscheiden müssen, was richtig, was falsch ist – sät er nach und nach auch in uns. Mrs. Manion ist wirklich kokett, sie beharrt – auch Biegler gegenüber – auf ihrer Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie will und so erreichen Scotts Darstellung und Premingers Regie, daß der Zuschauer sich selbst und seine eigenen moralischen Engpässe zu spüren bekommt. Denn Dancer gelingt es, daß wir uns seine Zweifel teilweise zu eigen machen. Zumindest momentweise. Wir verlieren im wahrsten Sinne des Wortes die klare, freie Sicht auf Mrs. Manion, die wir doch eigentlich mögen in ihrer Unbekümmertheit, ihrer lustigen Zugewandtheit gegenüber ihrem Hund, in ihrer Lebensfreude.

ANATOMY OF A MURDER ist heute gute Hollywood-Unterhaltung aus einer lang vergangenen Zeit. Er funktioniert durch seine Dialoge und die genaue Figurenzeichnung. Zu seiner Zeit jedoch war er bahnbrechend, um den Hays Code, jenen Kodex der Selbstkontrolle, der seit den 30er Jahren in Hollywood herrschte, zu unterminieren. Mayes und Preminger ließen die Schauspieler Begriffe wie ‚Beischlaf‘, ‚Sperma‘ und ‚Vergewaltigung‘ wie beiläufig aussprechen. Zudem inszenierte Preminger vor allem Lee Remick als aufreizende Frau, die offen mit ihrer Sexualität umgeht und sich dafür auch gar nicht schämen will. Die Ambivalenz dieser Figuren deutet er nicht nur an, sondern spielt sie offen aus. Das gelingt, indem Buch und Regie gewisse Indizien nie erklären, sondern offen oder für sich selbst sprechen lassen. So wird nie die Frage beantwortet, ob das Feilchen, welches Mrs. Manions bei ihren ersten Auftritten im Film hinter einer Sonnenbrille zu verbergen sucht, wirklich Folge der Vergewaltigung ist, oder nicht doch eher von ihrem durchaus auffahrenden Ehemann herrührt. Der wiederum zeigt in einer Szene im Gefängnis, daß er schnell zuzuschlagen bereit ist. Immerzu changieren diese Figuren, bleiben im Ungewissen, entziehen sich unserem direkten Zugriff und eindeutiger Beurteilung.

Es sind Momente wie diese, es sind die im Gerichtssaal geführten Diskussionen und die ausgesprochenen wie filmischen Andeutungen, die ANATOMY OF A MURDER seinerzeit herausragend machten, was heutzutage, in einer weitestgehend enthemmten Welt, nur noch schwer nachvollziehbar ist. So hat der Film auf zweii Ebenen Bedeutung: Er funktioniert immer noch als hintergründiger Unterhaltungsfilm mit viel Witz und Humor, ist zugleich aber eben auch ein Dokument der Geschichte der Traumfabrik und ihrer manchmal verlogenen moralischen Ansprüche – und dafür, wie mutige Regisseure wie Otto Preminger begannen, diese Ansprüche zu untergraben und den Film à la Hollywood auf das kommende Jahrzehnt vorzubereiten, das neue Freiheiten, andere Möglichkeiten des Erzählens und auch einen offeneren Umgang mit durchaus schmerzhaften Wahrheiten bereit hielt.

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