DER KAISER REIST INKOGNITO: JOSEPH II. UND DAS EUROPA DER AUFKLÄRUNG

Ein gelungenes Beispiel dafür, wie Texte jenseits der Fachliteratur Leser*innen in ferne Zeiten entführen können

Unter den Habsburger Herrschern war Joseph II. sicherlich der aufgeklärte König und – was die deutschstämmigen Ländereien seines Einflussbereichs betrifft – ein aufgeklärter Kaiser. An seinem großen Vorbild, Friedrich II., König von Preußen und Erzfeind von Josephs Mutter Maria Theresia, wollte Joseph sich messen lassen und sein Reich – weit verstreut auf der Landkarte Europas, aufgeteilt zwischen den Stammlanden und den Erblanden wie bspw. den Österreichischen Niederlanden – nicht nur einen und zu einem einheitlichen Staatswesen vervollständigen, sondern vor allem wollte er es kennenlernen. Das bedeutete für ihn: Die Menschen, seine Untertanen, kennenlernen. Ihre Nöte und Sehnsüchte wahrnehmen, verstehen und, wenn möglich, lindern. Um dies zu bewerkstelligen, unternahm Joseph II. während seiner fünfundzwanzigjährigen Regentschaft, davon die ersten fünfzehn Jahre an der Seite seiner Mutter, zahllose Reisen durch das Habsburger Reich, besuchte den äußersten Osten – das Banat und Siebenbürgen im ungarischen Teil seines Machtbereichs – ebenso, wie den Westen, also die bereits erwähnten Niederlande. Darüber hinaus reiste er aber auch nach Russland und traf dort Katharina die Große, mit der ihn eine letztlich unheilvolle Allianz gegen das osmanische Reich verband; er reiste nach Frankreich und besuchte Versailles, also den Hof Louis XVI., der Josephs Schwester Marie Antoinette geehelicht hatte; vor allem aber – für Joseph ein Herzenswunsch und dann auch eine der Sternstunden seines herrscherlichen Daseins – traf er sich mit dem fast dreißig Jahre älteren Friedrich II., dessen Idee, der „erste Diener des Staats“ zu sein, Joseph übernahm und verinnerlichte.

Die österreichische Autorin und Filmemacherin Monika Czernin hat sich dem Habsburger Monarchen unter genau dieser Prämisse seines Regierens angenähert: Sie folgt ihm in ihrem Buch DER KAISER REIST INKOGNITO: JOSEPH II. UND DAS EUROPA DER AUFKLÄRUNG (2021) auf neun wesentlichen seiner Reisen, darunter die oben genannten ins Ausland. Czernin erklärt im Vorwort, dass nahezu jede Äußerung, jede Begebenheit, die sie schildert, belegt sei, sie die Archive jahrelang durchstöbert und sämtliches zur Person Joseph II. erhältliches Material gesichtet habe. So entsteht ein dichtes Gewebe aus akkuraten Schilderungen einzelner Ereignisse, eingeschobenen historischen Überblicken über politische, ökonomische und kulturelle Entwicklungen der Epoche in Gesamteuropa, und Hintergrundinformationen zum genaueren Verständnis der unmittelbar die Habsburger betreffenden Begebenheiten.

Maria Theresia und Friedrich II. hatten sich im Siebenjährigen Krieg kompromisslos gegenübergestanden und zuvor bereits in den polnischen Erbfolgekriegen miteinander gefochten, die dem „ersten Weltkrieg“, wie Winston Churchill und andere den Waffengang zwischen 1756 und 1763 fast zweihundert Jahre später zu bezeichnen pflegten, vorausgingen. Es war also keineswegs selbstverständlich, dass Joseph sich derart für den Preußenkönig begeistern würde. Doch erkannte er bei aller Großmannssucht Preußens, dessen Bestreben, unbedingt zu den maßgeblichen Mächten Europas zu gehören in den vorausgegangenen Dekaden nicht zu übersehen gewesen waren, Friedrichs Willen, dem Absolutismus, also der gängigen Herrschaftsform seiner Zeit, fortschrittliches Denken und Handeln angedeihen zu lassen.

Auch Joseph war, wie der Preuße zuvor, ein Kind seiner Zeit. Und so konnte er zugleich ein Verehrer der zeitgenössischen Philosophie eines Voltaire, der aufklärerischen Gedanken und Werke eines Diderot oder D´Alembert oder auch der staatspolitischen Überlegungen eines Montesquieu und dennoch ein Regent alter Schule sein, der danach strebt, seinen Macht- und Einflussbereich zu erweitern. Letzteres zeigte sich vor allem in den letzten zehn Jahren von Josephs Herrschaft, als er sich immer wieder bemühte, Bayern und damit das Haus Wittelsbach in seinen Machtbereich einzugliedern. Es zeigte sich allerdings auch in Kleinigkeiten wie der Tatsache, dass er während seiner Frankreichreise 1777 zwar den Hof von Versailles besuchte, wo er die Zeichen der Zeit erkannte und den König warnte, dass die Revolution, sollte sie kommen, gewaltig sein würde, zugleich aber mit Winkelzügen einen Besuch bei Voltaire verhinderte. Der erwartete den hochwohlgeborenen Gast in seinem Schweizer Exil, doch Joseph kam nicht. Dies vor allem aus Respekt vor seiner Mutter, welche die Schriften des Aufklärers verachtete und fürchtete, war sie doch eine zutiefst gläubige Katholikin und sah im aufgeklärten Denken eine ketzerische Gefahr nicht nur für ihren Glauben. Und das nicht zu Unrecht.

Anhand solcher Begebenheiten kann Czernin sehr genau herausarbeiten, wie ein Mann wie Joseph II. die inneren Widersprüche seiner Zeit nicht nur verkörperte, sondern auch aushielt. Der beständig reisende Kaiser hatte durch ein dichtes Netz von Boten und Kurieren eine Möglichkeit etabliert, „von der Kutsche aus“ den Staatsgeschäften nachzugehen, mit Wien und damit dem Zentrum der Habsburger Macht in Kontakt zu bleiben und zugleich in Kontakt mit jenen Menschen zu treten, die bis dato „Untertanen“ waren und die er nun nach und nach zu Staatsbürgern machen wollte. Dazu musste er sie kennen und musste ihnen zuhören. Immer wieder hielt er Hof, ließ Tausende von Bulletins einsammeln, in welchen das Volk seine Nöte und Ängste formulieren und damit zum Ausdruck bringen konnte, und war somit sehr genau im Bilde, woran es in seinem Reich mangelte. Darüber hinaus war Joseph II. immer ausgesprochen interessiert an allen technischen, ökonomischen und kulturellen Neuerungen, ließ sich genauestens erklären, wie gewisse Vorgänge funktionierten, besuchte Manufakturen, stellte sich hinter Pflüge, um zu begreifen, wie diese Arbeit verrichtet werden musste, und begriff unter anderem, dass die Frondienste, die Robot, welche vor allem in Böhmen und Ungarn herrschte – Arbeit, die für die Adligen neben jener auf dem eigenen Hof, auf den eigenen Feldern, zu verrichten war – eine Form der Leibeigenschaft darstellte, die nicht nur unmenschlich war, sondern auch ökonomisch sinnlos.

Aus all den Beobachtungen und Erkenntnissen, welche er auf seinen zahlreichen Reisen erwarb, entwickelte Joseph nach und nach seine Ideen eines modernen Staatswesens, das einheitlich war, das auf Steuern gründete und einen Beamtenapparat brauchte, welcher in der Lage war, eine effiziente Verwaltung zu verrichten, die in allen Teilen des Landes gleich funktionierte und genau damit zur Einheitlichkeit des Staatswesens beitrug. Auch ein stehendes Heer und damit eine gewisse Wehrtüchtigkeit begriff er als für moderne Staaten unabdingbar. Zudem war er sich über den Wert von Bildung – Volksbildung, wenn man den Begriff so zuzulassen bereit ist – vollkommen im Klaren, weshalb es unter seiner Ägide u.a. zur Gründung diverser Schultypen, aber auch universitärer, vor allem medizinischer Einrichtungen kam. Teils existieren sie noch heute. Allerdings ging er immer rigoroser vor, führte Reformen durch, die für uns Heutige sicherlich vollkommen vernünftig erscheinen, die in ihrer Zeit jedoch radikal anmuteten und auf erhebliche Widerstände vor allem im Adel stießen. Wirklich scheitern musste Joseph II. dann in Ungarn, dessen Ständegesellschaft sich als besonders resistent erwies und die ihn zum Ende seines Lebens hin förmlich zwang, einen Großteil der von ihm entwickelten und verwirklichten Reformen wieder zurückzunehmen. Deshalb gilt der Kaiser heute unter Historikern auch oftmals als ein Gescheiterter. Vielleicht lässt sich aber gerade an diesem Gescheiterten erkennen, dass Ideen, einmal in der Welt, meist nicht mehr aufzuhalten sind. Vielleicht muss man gerade in unseren bewegten Zeiten begreifen, dass dies allerdings nicht nur für gute Ideen gilt.

Monika Czernin ist jedenfalls ein kluger Band gelungen, in dem nicht nur die Zeit der Aufklärung, dieses uns gar nicht so ferne 18. Jahrhundert aufersteht und nachvollziehbar wird, sondern auch immer wieder durch griffige und dennoch tiefgreifende Einschübe die Zusammenhänge und die Ideen der Zeit nähergebracht werden. Man kann kritisieren, dass sie sich gelegentlich dazu hinreißen lässt, Dialogpassagen einzubauen, die entgegen der Prämisse ihres Vorworts so sicher nicht belegbar sind, die aber exemplarisch durchaus stimmig für einen gewissen Jargon und eine damals herrschende Konversation stehen können. Man kann kritisieren, dass ihr der Habsburger Herrscher gelegentlich etwas zu modern und damit auch zu sympathisch gerät, man spürt ihre Bewunderung für den Mann und seine Ideen. Aber man sollte dabei nicht übersehen, dass sie seine Widersprüchlichkeit, zumindest so, wie sie sich uns heute darstellt (unter anderem der Kauf eines Sklavenmädchens, welches er an Kindes Statt annehmen und erziehen wollte), immer wieder hervorhebt und dadurch die Ambivalenz spüren lässt, die ein letztlich absolutistischer Herrscher, seien seine Ideen auch noch so „modern“ gewesen, in uns hervorrufen muss. Vielleicht sind es Texte wie dieser, die es einem breiteren Publikum jenseits der manchmal doch trockenen Fachliteratur ermöglichen, in Zeiten einzutauchen, die fern scheinen und doch wesentlich sind, um die Gegenwart zu begreifen. Als solcher ist dieser Text sehr gelungen.

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