FASCHISMUS. EINE WELTGESCHICHTE VOM 19. JAHRHUNDERT BIS HEUTE

Neuere Faschismustheorien jenseits des Rechts-links-Schematas

So schlimm es ist, so wenig man gedacht hätte, daß es nochmals wichtig werden würde, so sehr erzwingen es die Zeitläufte: Wir werden nicht umhin kommen, uns der Begrifflichkeiten, die momentan im Gebrauch sind, teils wie Waffen eingesetzt und darob immer unschärfer werden, noch einmal genau anzunehmen, sie zu untersuchen und uns ihre Inhalte, ihre Bedeutungen, ihre Entwicklungen erneut vor Augen zu führen, damit wir nicht den Fehler derer begehen, die sich mühen, den aufgeklärten Diskurs zu kapern und durch Scheinargumente und Kampfbegriffe zu bestimmen und somit auszudeuten wie etwas zu  bezeichnen sei und was die Bezeichnung bedeuten solle. „Rassismus“, „Gutmensch“, „Meinungsfreiheit“, „rechts“ und „links“ – dies ist nur eine Auswahl jener Begrifflichkeiten, die in der großen Trommel liegen und ihrer Umdeutung und Neubestimmung harren. Der Klassiker schlechthin aber ist der „Faschismus“ und all seine adjektivischen und adverbialen Ableger wie „faschistisch“, „faschistoid“ oder aber die Nahverwandten wie das unkaputtbare „kryptofaschistisch“. Schnell sind die Worte draußen, definieren schnell die Sicht auf einzelne Menschen oder Gruppen und stehen doch seltsam leer da, entleert. Unsicher, wann der Begriff „Faschismus“ zutreffend ist, wird er ebenso inflationär über alles ausgeschüttet, was einem autoritär vorkommt, wie er anderswo um jeden Preis zu vermeiden ist, will man doch bloß nicht ins falsche Licht gerückt werden.

Umso wichtiger, nicht nur den Begriff noch einmal zu befragen, ihn erneut zu denken und sich dessen zu versichern, was ihn – gerade historisch – ausmacht, sondern auch, sich die Historie selbst zu betrachten und zu analysieren, wann und wo in der Geschichte Herrschaftsformen aufgetreten sind, die unserer Idee des Faschismus entsprechen, wodurch sie sich ausgezeichnet haben, welche Bedingungen sie begünstigt haben und welche Auswirkungen sie hatten – auf die Bevölkerung ihres Einflußbereichs ebenso, wie auf jene Völker, die durch faschistische Aggressionen zu leiden hatten.

Wolfgang Wippermann ist einer der Historiker in Deutschland, der – einst beim damals als wissenschaftliche Avantgarde gefeierten, heute als Paria verschrienen Ernst Nolte promoviert – sich mit dem Faschismus ideen- und ideologiegeschichtlich befasst und dabei das Rechts-links-Schema zu meiden versucht haben. Faschismus, so erläutert er es im kurzen, doch sehr prägnanten Einleitungskapitel der vorliegenden Übersicht, stellt eine Herrschaftsform dar, mehr als alles andere, nicht so sehr eine ideologisches Gewand, das dennoch auch vorhanden ist und eine durchaus gewichtige Rolle spielt. Vor allem aber, das verdeutlicht Wippermann ganz klar, wird man immer definitorische Probleme bekommen, wenn man meint, die eine, die gültige Faschismustheorie gefunden  zu haben. Ob als Kampfbegriff oder in seiner Bedeutung als Bezeichnung einer politischen Theorie, ob unter marxistischen, soziologischen oder psychologischen Gesichtspunkten – immer werden bestimmte, zur jeweiligen Ausgangslage passende Merkmale faschistischer Regime, Politik oder Bewegungen als Belege herangezogen, andere, oft widersprüchliche, jedoch außen vorgelassen.

Hier nun wird das Augenmerk auf die verbindenden Merkmale, den kleinsten Nenner gelegt, um Gemeinsames, Muster, Strukturen herauszuarbeiten: Führerprinzip, bewaffnete Kampfgruppen, Massenaufmärsche als quasireligiöser Stil einer „Bewegung“, Betonung von Jugend und Männlichkeit und – wesentlich – das Bekenntnis zur Gewalt. Anders als frühere Faschismustheorien, sieht Wippermann den Begriff ‚Faschismus‘ inhaltlich, bzw. ideologisch, aber eben nicht als vollkommen entleert an. Wohl stimmt er zu, daß es nicht zwingend „rechte“ Bewegungen sein müssen, die Faschismen hervorbringen, doch benennt er deutlich wesentliche Merkmale, die allen faschistischen Parteien oder Bewegungen zugrunde gelegen haben: Ausgeprägt rassistische, antisemitische, antikommunistische sowie antidemokratische Grundmotive und als einziger wirklicher Positivposten ein aggressiver Nationalismus. Damit kann man konstatieren, daß man es, wenn nicht mit klar „rechten“ Bewegungen und Parteien, zumindest im Kern mit reaktionären Gruppierungen zu tun hat. Sie richten sich gegen etwas, die Selbstermächtigung, die in ihrem Gewaltanspruch zum Ausdruck kommt, leitet sich meist aus einer angenommen Bedrohung für „das Vaterland“ oder „das Volk“ ab, bedrohlich sind immer eindeutig als „andere“ oder „fremde“ Auszumachende – Juden, „der“ Islam, Katholiken, Migranten, lebensbejahende Ausbreitungstypen. Auffallend oft gelten diese „Anderen“ durch ihre religiöse Zugehörigkeit als stigmatisiert.

Obwohl er sich nicht zu einer rein generischen Faschismustheorie bekennen will, eben weil er um die Defizite jedweder Theorie weiß, kommt Wippermanns doch zu dem Schluß, beim Faschismus von einem ‚generischen Phänomen‘ ausgehen zu müssen. Damit – daraus macht der Autor keinen Hehl – schließt er auch an die Überlegungen Noltes, dessen geschichtsphilosophische Betrachtungen den Deutschen immer noch verdächtig, weil kalt und scheinbar apologetisch, vorkommen mögen (und oftmals auch de facto apologetisch sind), die dennoch außerhalb Deutschlands nicht nur von reaktionären oder gar revisionistischen Historikern genutzt werden, sondern längst auf fruchtbaren Boden in diversen theoretischen Überlegungen zum Faschismusbegriff, seiner formalen wie inhaltlichen Genese und Geschichte, gefallen sind. Wippermann zieht allerdings eine wesentliche Trennlinie zu den generischen Theoretikern: Der italienische Faschismus wird ihm zum ‚faschistischen Realtypus‘, in Abgrenzung zu den ansonsten immer gern geschaffenen ‚faschistischen Idealtypen‘, die viele der theoretischen Schulen hervorgebracht haben. Doch gerade weil damit wesentliche Entwicklungen faschistischen Charakters nicht erfasst werden können, schlägt Wippermann eine Dreiecksdefinition vor, mit der globale faschistische Entwicklungen analysierbar sind. Und der ‚Faschismus‘ im engeren Sinne (eine „Bewegung“ oder Partei; Definition s.o.) besser in seine geschichtlichen Kontexte einzuordnen ist. So korrespondiert er in seiner strengen Erscheinungsform sowohl mit dem ‚Bonapartismus‘ (autoritäre Regime, die sich auf Polizei und/oder die Armee stützen, jedoch parteilos existieren), als auch mit dem ‚Fundamentalismus‘ (religiös aufgeladene Ideologie, die die Politik der Religion untergeordnet sieht; kann Parteien wie Regime hervorbringen) und geht mit beiden immer wieder Symbiosen ein. Es  sind diese manchmal schwer zu fassenden symbiotischen Strukturen, die zu problematischen  Begriffen wie „Klerikal-„ oder „Islamofaschismus“ führen.

Diesem hier grob umrissenen Modell folgend, untersucht Wippermann auf den folgenden ca. 320 Seiten systematisch faschistische, bzw. bonapartistische Regime und Bewegungen in West- und Osteuropa, in Amerika, Afrika und dem fernen wie Nahen Osten, angefangen mit den frühen autoritären Regimen des 19. Jahrhunderts, bis in die Gegenwart hinein. Gerade was die europäischen Bewegungen ausmacht, findet man hier sicher vieles bestätigt, was man als am Thema Interessierter bereits wusste, allerdings sind gerade die Untersuchungen zum Regime Louis Bonapartes, auf das die theoretische Idee des ‚Bonapartismus‘ beruht, ausgesprochen erhellend. Dies, so Wippermanns These, war das erste Regime, das weder „links“ noch „rechts“ gewesen sei und sowohl in seinem Wirken wie in seinen Mitteln als historischer Ausgangspunkt faschistischer Regierungsmodelle gedient habe. Doch interessant sind seine Untersuchungen auch da, wo er einen Blick auf die Entwicklungen nach 1945 wirft, also vermeintlich in jene Zeit, die den Faschismus überwunden glaubte. Nicht nur zeigt sich hier, wie die marxistisch-kommunistische These, der Faschismus sei ein enger Verwandter – wenn nicht gar Zwilling – des Kapitalismus, immer wieder durch jene Allianzen genährt wurde, die die angeblich demokratischen, liberalen Regierungen des Westens mit den neufaschistischen Regimen gerade in Latein- und Südamerika eingingen; es zeigt sich auch, wie die Grenzen zwischen vermeintlich „linker“ und „rechter“ Ideologie verschwimmen und sich gerade im postsowjetischen Rußland oftmals gar nicht mehr zwischen neostalinistischen und neufaschistischen Parteien unterscheiden läßt. Wobei Wippermann Stalins Herrschaft generell als faschistisches Herrschaftsmodell einordnet. So kann man dem Rundblick durch die Kontinente stringent folgen, man kann sich aber auch gezielt, wie in einem Lexikon, zu Entwicklungen in einzelnen Regionen oder Ländern informieren.

In seinem letzten Kapitel wendet Wippermann sich dem momentan in allen Zeitungen, in den elektronischen Medien und im Internet so oft besprochenen und beschworenen und vor allem gefürchteten „Islamofaschismus“ zu. Der Rezensent dieser Zeilen, bisher eher der Meinung, daß „Faschismus“ eine absolutistische Herrschaftsform und somit dem Totalitarismus Hitler´scher oder Stalin´scher Prägung zwar artverwandt, doch nicht wesensgleich sei, hat seinerzeit das Buch DER ISLAMISCHE FASCHISMUS des Politologen Hamed Abdel-Samad als begrifflich und methodisch unklar angegriffen. Dabei steht Abdel-Samad keineswegs allein mit seiner Annahme, daß ein politisch aufgeladener Islam faschistische Züge hervorbringt. Schwierig wird der Zirkelschluß, „der Islam“ an sich sei faschistisch. Doch arbeitet Wippermann in seiner Einleitung deutlich heraus – und auch vor ihm wurde schon oft darauf verwiesen – , daß faschistische Parteien und Bewegungen immer auch einen quasireligiösen Unterbau haben. Der Führerkult, die Aufmärsche, die massenpsychologische Beeinflussung durch Marschieren, Singen, Fackelzüge, das Aufgehen in der Masse, der Kollektivismus, die Stellung, die dem Ritus innerhalb parteipolitischer Zusammenkünfte zukommt etc. – all das sind Merkmale pseudoreligiöser Verehrung und Hingabe. Auch Zeichen der Irrationalität. Wenn der Faschismus also gerade in Religionen aufgeht, bzw. Religionen, die, anders als die christlichen Glaubensgemeinschaften, weder ein echtes Schisma, noch eine Reformation, gleich gar keine Aufklärung durchlaufen haben, faschistoide Merkmale und Wesenszüge ausprägen und in den Ländern, in denen diese Religionen den Anspruch erheben, nicht nur Staatsreligion, sondern höchst eigentlich Staatsform zu sein, kann das nicht verwundern. In seiner inneren Abwehrhaltung gegen die Moderne, gegen den Liberalismus, die Demokratie und ihre freiheitlichen Auswüchse, hat bspw. der Islam sicher ein hohes Potential, für faschistische Ideen anfällig zu sein, bzw. in dem Moment, wo die rein religiöse Ebene verlassen und in eine politische Form transferiert wird, bietet der Faschismus sicher ein Herrschaftsideal und -instrumentarium, das dem Wesen einer Religion entspricht, die Anspruch auf alleinige Wirklichkeitsdeutung sowohl was das Hier und Jetzt, wie auch das Himmelreich betrifft, erhebt. Man sollte in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, daß im franquistischen Spanien – so umstritten die Herrschaftsform des Generalissimus unter Theoretikern auch war und ist – bereits eine „klerikalfaschistische“ Diktatur existiert hat, die sich nahezu perfekt mit der katholischen Kirche ins Einvernehmen zu setzen und deren nun auch nicht gerade demokratische Struktur zu nutzen wusste; wobei sich Mitglieder der Regierung Francos sogar aus dem Opus Dei rekrutierten und die Kanäle nach Rom kurz und meist offen waren. Die Verbindung faschistischer Ideologie mit religiöser Struktur und Herrschaftsanspruchs ist also nicht gänzlich neu.

Gerade in der Überschneidung mit Religionssystemen, die auf ähnlich irrationalen Annahmen fußen wie die meisten faschistischen Ideen, steckt wahrscheinlich die Herausforderung für zukünftige Theoretiker und Forscher. Hier werden wohl zukünftig Zwitter entstehen, Verbindungen und Glaubensgebilde, die dann vielleicht eine ganz neue Terminologie, neue Begrifflichkeiten erfordern, will man noch exakt sein in Analyse, Beschreibung und Bewertung. Dazu wird es zukünftige Werke geben, die andere Fragestellungen, Überlegungen und Antworten in anderen Denkschemata formulieren werden.

Dieses Werk wird abgerundet durch einen sehr lesenswerten bibliographischen Essay, der nicht nur einen guten Überblick über den Forschungsstand gibt, sondern auch genaueren Aufschluß über die Genese verschiedener, auch konkurrierender, einander widersprechender Theorien zur Entstehung, Entwicklung und ideologischen Ausbildung des Faschismus. Wolfgang Wippermann ist ein ausgesprochen gut lesbares Buch zum Thema gelungen, das informiert, analysiert und Klärung in die Dispute zum Begriff ‚Faschismus‘ bringt. Das tut bitter Not in Zeiten, in denen die Mitte der Gesellschaft – aus welchen Gründen auch immer: sei es berechtigte oder unberechtigte Angst, sei es ein Ersticken an ebenso selbstgerechter wie gelangweilter Dekadenz, sei es eine nicht näher zu definierende Lust, ja Sehnsucht nach einem wie auch immer gearteten „Untergang“, der vielleicht „Erneuerung“ verspricht – sich den Extremen , den Rändern zuzubewegen scheint und das eben nicht nur in einem Land, sondern in Europa gleich in einer ganzen Reihe von Ländern, die eben erst ihre Freiheit autoritären Regimen und Systemen abgerungen haben. Gerade das erstaunt dann nach Lektüre des Buches vielleicht am meisten und regt auch am stärksten zu weiterführenden Studien an: Daß der Faschismus scheinbar in regelmäßigen historischen Abständen eine starke Anziehung auf gewisse Teile der Gesellschaft(en) ausübt. Aber wahrscheinlich fällt die Frage, warum dem so ist, dann doch eher in das Feld der Sozialpsychologen. Der Historiker kann nur dem Bewußtsein das Wort reden: Wehret den Anfängen!

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