SINGULÄRES AUSCHWITZ
25 Jahre nach dem Historikerstreit: Eine Rückschau und Bestandsaufnahme
Erschienen im Jahr 2011, wirft dieses schmale Bändchen noch einmal ein Schlaglicht auf die Thesen und die Fronten im sogenannten „Historikerstreit“, der Mitte bis Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den Feuilletons der bildungsbürgerlichen Presse à la ZEIT und FAZ tobte. Für viele die letzte große intellektuelle Debatte der alten Republik, bevor mit der Wende die Fragen nach der Vergangenheit zunächst etwas verdrängt wurden, um dann mit dem Aufkommen neuer rechtslastiger Umtriebe wie in Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen ganz anders wieder aufgenommen zu werden.
Damals griff der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas in einem weit beachteten Artikel in der Wochenzeitung DIE ZEIT vor allem den Historiker Ernst Nolte an. Dies in Reaktion auf einen Artikel, den der Historiker (oder Geschichtsphilosoph, wie manche meinen) Nolte schon Jahre zuvor in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht hatte und der 1985 in einer Aufsatzsammlung erneut erschienen war. Nolte hatte darin die These entwickelt, der Nationalsozialismus sei in seinem Kern eine Reaktion auf den Bolschewismus gewesen, die Todeslager – Chelmo, Treblinka, Sobibor, Belzec, Majdanek und natürlich Auschwitz-Birkenau – der Nazis demnach eine zwar hysterisch überzogene, letztendlich aber ideologische, verstehbare (nicht verständliche – eine Unterscheidung, auf die Nolte äußerst viel Wert legt) „Antwort“ auf die unerhörten, „asiatischen“, Verbrechen des sowjetischen Gulagsystems. Diesen Zusammenhang nannte er einen „kausalen Nexus“, also einen ursprünglichen Zusammenhang. Damit schien Nolte die Singularität dessen in Frage zu stellen, wofür eben „Auschwitz“ steht. Mehr noch: Man konnte daraus erlesen, daß der Bolschewismus schlußendlich der Ursprung dessen gewesen sei, was dann von Deutschland aus ab 1940/41 als „Endlösung“ geschehen sollte. Allerdings sei direkt angemerkt – und das verwunderte den nüchternen Beobachter schon damals – daß Nolte diese Position im Grunde auch schon in den 60er Jahren vertreten hatte, als er mit dem Standardwerk DER FASCHISMUS IN SEINER EPOCHE[1] nicht zuletzt unter den Linken für Furore sorgte. Unbedingt neu war seine Theorie also nicht. Allerdings hatte er im Laufe der Zeit in Bezug auf den Nationalsozialismus durchaus radikalere Positionen eingenommen, bis hin zu Überlegungen, ob nicht eben doch bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar sei, weshalb die Nazis gerade jüdische Mitmenschen als besonders gefährlich betrachten mussten, seien diese doch – was im Übrigen so nicht stimmt – überproportional in den Führungskadern der Bolschewiki vertreten gewesen.
Neben Nolte griff Habermas allerdings auch die Historiker Michael Stürmer und Andreas Hillgruber sowie dessen Schüler Klaus Hildebrand an, wodurch eine mögliche Fachdiskussion plötzlich eine politische, vielleicht sogar ideologische Färbung bekam. Eine Fachdiskussion übrigens, wie sie in den letzten Jahren wie selbstverständlich durch ein Buch wie Timothy Snyders BLOODLANDS[2] vorausgesetzt wurde, die aber 1986 – ein Jahr nachdem Richard von Weizsäcker in seiner vielbeachteten Rede zum Kriegsende vom 8.Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ gesprochen hatte – noch nicht denkbar war. Unter anderem auch, weil die dann entstandene Debatte sehr viel mit den Positionen und der vermeintlichen Deutungshoheit der 68er und generell der – sich seit dem Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls und dessen angekündigter „geistig-moralischer Wende“ in einem Abwehrkampf befindlichen – Linken zu tun hatte. Dazu sei ebenfalls angemerkt, daß die Positionen, die v.a. Stürmer vertrat, keineswegs mit denen Noltes abgeglichen waren oder durch diese auch nur unterstützt wurden. Im Gegenteil: Waren Noltes Einlassungen im Grunde wirklich geschichtsphilosophische Fragen, die in einem fürchterlich kalten Duktus gestellt wurden, ging es Stürmer – da auch weitaus eher der Kohl´schen Fantasie einer „moralischen Wende“ nahe – durchaus um eine politische Betrachtungsweise im Hinblick auf die Westbindung der Bundesrepublik und um die Frage, inwiefern das Land seinen Aufgaben und Pflichten gerecht werden könne, wenn es sich weiterhin in den Fängen einer „nicht vergehen wollenden Vergangenheit“ (Nolte) verheddere. Stürmer und Hillgruber hätte man weitaus eher vorwerfen können, was Habermas dann aber Nolte zum eigentlichen Vorwurf machte – Historisierung und Revanchismus. So ersetzte moralischer Furor (leider) manches gute Argument. Damals war es schlicht noch nicht möglich, Positionen, wie Nolte sie vertrat, ideologiefrei und rein sachlich zu diskutieren. Zugleich war es einem Historiker wie Nolte nicht gegeben, mit der entsprechenden Empathie zu begreifen, daß seine Thesen und Theorien von einem Nicht-Deutschen ausgesprochen vielleicht weitaus weniger Unheil angerichtet hätten.
Dennoch war Nolte damals – wie heute übrigens – durchaus bereit, seine Thesen mit Habermas (und anderen Kritikern, wie Heinrich August Winkler oder Dan Diner, welcher der Forschung sicher keinen Gefallen getan hat, indem er den Holocaust als „außergeschichtliches“ Ereignis deklarierte und „Auschwitz“ damit nahezu sakralen Charakter verlieh) vor Publikum zu besprechen. Nein, mit ihm und „seinesgleichen“ wollte der sich moralisch überlegen wähnende Jürgen Habermas nicht an einem Tisch setzen. Und das ist auch so geblieben.
Mathias Brodkorb hat sich die Mühe gemacht, dem 2011 25 Jahre zurückliegenden Konflikt noch einmal nachzuspüren, einige der wesentlichen Protagonisten aufzusuchen, mit ihnen zu sprechen, anderen die Gelegenheit zu bieten, damalige Positionen neu zu überdenken, bzw. zu bekräftigen. Einige sind dem nachgekommen – allen voran der damalige Hauptkontrahent Ernst Nolte selbst – , andere, wie der eigentliche Auslöser des Streits, also Habermas, waren erneut nicht bereit, sich zu treffen, zu äußern oder auch nur Stellung zu den Positionen von damals zu beziehen. So blieb es dem bekannten Althistoriker Christian Meier einst (als Vorsitzender des Verbandes Deutscher Historiker) wie heute vorbehalten, für Ausgleich zu sorgen und den Versuch zu wagen, die Standpunkte abzugleichen und zueinander in Bezug zu setzen. Und im vorliegenden Band bleibt es ihm vorbehalten, als einziger Teilnehmer des Projekts eine Reaktion von Habermas zu erhalten, die sich allerdings auf Fragen der damaligen Veröffentlichung einzelner Beiträge in verschiedenen Verlagen bezieht.
Brodkorb hat sowohl mit Meier als auch mit Nolte und dessen Schüler Wolfgang Wippermann Gespräche geführt, wobei jenes mit Nolte so etwas wie einen frühen Höhepunkt des Bandes darstellt. Ob man will oder nicht – jeder an Fragen der Einordnung historischer Tatsachen und Begebenheiten Interessierte wird nicht umhin kommen, Noltes Thesen zumindest zu bedenken. Man mag sie verwerfen, doch Teilaspekte seiner Überlegungen sind nicht von der Hand zu weisen, vor allem sein Beharren darauf, Totalitarismen durchaus von ihrer theoretischen, also ideologischen Seite her zu denken und genau diese Seite als Motor, Triebfeder, wesentliche Ausgangsbasis jedweden totalitären Handelns zu betrachten. Dabei verdeutlicht er auch hier erneut, daß er eben KEINEN Revisionismus, keine Apologetik betreiben will, sondern stellt die Singularität von „Auschwitz“ (als verkürzende Chiffre) deutlich aus. Er macht – dem rein moralisch Argumentierenden wohl ein Dorn im Auge – eben den kleinen aber feinen Unterschied, ob man aus sozialen oder rassischen Gründen tötet: Die Bolschewiki töteten den Klassenfeind, was Nolte zu der Vermutung Anlaß gibt, daß dahinter theoretisch noch ein Wandlungsaspekt zur Geltung komme, denn selbst der übelste Bourgeois und der nichtsnutzigste Kulak sei ja noch änderbar gewesen; eine Gruppe von Menschen ob ihrer (falschverstandenen) Rasse zu töten, der sie ja nicht entsagen können (was bei einer Religion, wäre das Judentum von den Nazis als solche wahrgenommen worden, theoretisch ja möglich gewesen wäre), stellt in Noltes Augen eben die Einzigartigkeit des Holocaust aus. Diese Sichtweise verletzt natürlich das Feingefühl jener, die die Einzigartigkeit der Vorgänge eben im industriellen Töten, in der Maschinerie einer nahezu perfekten Mordindustrie zur Herstellung von Leichen sehen. Dieser Detailsicht schließt sich Nolte schlichtweg nicht an, weshalb es umso seltsamer anmutet, wenn er im Gespräch mit Brodkorb (worauf dieser auch an zwei Stellen in seinen eigenen Texten im Buch explizit hinweist) nahezu in Wallung gerät, wenn er von – zugegeben wahrlich grausigen – Folterungen durch Bolschewiki in Fernost berichtet.
Gerade an solchen Passagen merkt man, wie stark ideologisch diese Diskussion belastet und wie wenig beide Seiten in der Lage waren und sind, die eigenen Argumente in denen der andern gespiegelt zu sehen und zu begreifen, daß „Wahrheit“, „historische Wahrheit“ zumal, wohl nur zu haben ist, wenn man einerseits kühl die Fakten betrachtet, andererseits niemals vergisst, womit man es gerade bei DIESEN Fakten zu DIESEM Thema eigentlich zu tun hat und ansonsten annimmt, daß man gar nicht genug Thesen ausbilden kann, um sich dem, was war, anzunähern. Man sollte keine Berührungsängste haben, man sollte einfach jede Überlegung zum Thema genau bedenken und sie durchaus zu anderen in Bezug setzen. Wenn Nolte die Details der Vernichtungsindustrie nicht interessieren, mag das ein ungutes Licht auf seine empathischen Fähigkeiten werfen (wobei Empathie noch den wenigsten Historikern nachgesagt wurde, eher das Gegenteil), seine Thesen werden dadurch aber weder richtiger, noch falscher. Man müsste, wollte man sich mit Nolte selbst als Figur der Zeitgeschichte und als Historiker näher befassen, sowieso einige seiner Formulierungen genauer untersuchen. Die Idee, daß man es bei den Taten der Nazis mit einer Reaktion auf die „asiatische Grausamkeit/Barbarei“ der Bolschewiki zu tun habe, wirft ja an sich schon wieder ein bezeichnendes Licht auf ein gewisses Denken, wird „der Asiate“ offenbar schlicht mit einem vorzivilisatorischen Stand der menschlichen Evolution gleichgesetzt. Doch auch wenn Habermas und die seinen das moralische Momentum auf ihrer Seite haben, entkräften sie damit keine These bloß deshalb, weil sie ihnen nicht gefällt. Nein, eine fachliche Debatte sieht definitiv anders aus. Und klingt auch anders.
Einige der Beiträge in diesem Band sind erhellend, doch im Grunde stellen sie alle lediglich Verdeutlichungen von bekannten Positionen dar. Wippermann distanziert sich von Nolte und kommt dann – konfrontiert mit eigenen Forschungsergebnissen – selbst gehörig ins Schwimmen; Winkler wiederholt seine (bekannten) Ansichten, Meier legt Brodkorb noch einmal seine eigenen Schwierigkeiten zwischen allen Stühlen zu sitzen dar. Es sind letztlich zwei Beiträge im Band – neben Brodkorbs eigenem Schlußkapitel, daß die Positionen noch einmal zusammenfasst und den damaligen Kontrahenten generell kein gutes Zeugnis ausstellt, vor allem aber die Schwachstellen in Noltes Argumentation noch einmal hervorhebt – die wirklichen Zugewinn bringen und auch aus Sicht des Historikers wirklich interessante weiterführende Gedanken darlegen.
Einmal ist da der Aufsatz von Egon Flaig, der sich nicht scheut, Habermas´ Methode im Umgang mit der Materie des Streits, mehr noch aber dessen Methode im Umgang mit mißliebigen Kontrahenten überdeutlich zu kritisieren – eine Haltung, die in vielen der anderen Beiträge durchaus spürbar ist, die sich aber nirgends so deutlich manifestiert; mag sein, daß es mit der Ehrfurcht vor dem letzten deutschen Philosophen von Weltrang zu tun hat . Man würde Flaig, der die Ergebnisse deutscher Forschung hier auch in Bezug setzt zu jenen Überlegungen französischer Soziologen wie Bordieu und Sozialwissenschaftlern wie Foucault, auch gern folgen, wenn er nicht teils ein etwas argen Vokabular nutzen würde („Lumpenjournalismus“ erinnert schon unangenehm an Begrifflichkeiten derer, um deren taten es im Streit ja geht). Da beschleicht den Leser manchmal doch Zweifel, ob man es so machen kann/sollte. Der andere, noch weitaus nützlichere, ist der Beitrag von Alan Posener, der Noltes Hervorhebung des Ideologischen ernst nimmt und genau an dieser Stelle den Hebel ansetzt, um Nolte eine gewisse Enge im Denken hinsichtlich Hitlers Antisemitismus und der daraus abgeleiteten Motivlage für die Ausrottung eines gesamten Volkes nachzuweisen. Beide, Flaig und Posener, weisen darauf hin, daß der Gedankengang, den eliminatorischen Eifer des nationalsozialistischen Totalitarismus als Reaktion auf den „ursprünglichen“ eliminatorischen Eifer des stalinistischen Totalitarismus zu begreifen, zu kurz gedacht ist. Wenn man beides als Ungeheuerlichkeit auffasst, ist dennoch festzuhalten, daß das Wüten der (sich natürlich von außen wie innen bedroht fühlenden) Bolschewiki unmittelbar in den Nachrevolutionsjahren ab 1917/18 in sich schon eine Reaktion war: Die – wenn man denn mit entsprechendem Vokabular arbeiten will – „ursprüngliche“ Ungeheuerlichkeit, die die Welt so wirklich noch nicht gesehen hatte, war die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Erstmals hatte die Menschheit gesehen und begriffen, daß es militärische, technische, methodische Kräfte und Möglichkeiten gibt, die es möglich machen, Millionen dem Tod zu überantworten. 15 Millionen Tote in vier Jahren – es war eine unglaubliche Zahl von Menschen, die in den Schützengräben der Westfront, den Sümpfen der Ostfront, der Hitze der nahöstlichen Wüsten und auf den Weltmeeren ihr Ende gefunden hatten. Diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (die in sich natürlich auch wieder aus den spezifischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts erklärbar ist), die gerade durch den Einhundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Krieges auch in Deutschland wieder stärker in den Fokus gerückt ist, hatte den europäischen Menschen ganz sicherlich abgestumpft, brutalisiert, dehumanisiert. Warum also, so Posener, sollten die Anführer der Revolution in Rußland annehmen, es sei NICHT in Ordnung, für das hehre Ziel einer endlich wirklich besseren Welt noch einmal Zehn-, Zwanzig- oder auch Hunderttausend Menschen, die doch als Unterdrücker und Ausbeuter, auch als Schuldige an der soeben stattgefundenen Katastrophe ausgemacht waren, umzubringen?
Es sind diese Gedanken, die den Band – neben der reinen Aufarbeitung der Vorkommnisse 1986/87 – wirklich interessant machen, denn es sind die wenigen klar als historische Überlegungen und Fachbeiträge auszumachenden Gedanken hier. Man muß leider schon auch konstatieren, daß vieles an der Oberfläche, reine Wiederholung lange bekannter Standpunkte bleibt und – vor allem hinsichtlich der Anwürfe gegen Jürgen Habermas – nicht nur ein wenig wie Klatsch und Tratsch wirkt, sondern durchaus auch den Geschmack einer Abrechnung hat – der Abrechnung mit der Generation der 68er und deren (vermeintlicher) moralischer Überlegenheit. Dennoch: wer sich nicht nur für Geschichtsschreibung an sich, sondern auch für Rezeptionsgeschichte interessiert, findet hier durchaus einen guten und vielseitigen Überblick über die damaligen Standpunkte und Ansichten und auch eine durchaus angemessene Einordnung derselben durch den Herausgeber Mathias Brodkorb.
Es lohnt sich, noch einmal einen Blick auf diese Debatte zu werfen, darauf, daß sie wirklich stattgefunden hat, daß es sie wirklich gab, diese großen Auseinandersetzungen in den deutschen Feuilletons. Der Diskurs über die deutsche Vergangenheit ist sicherlich fortgeschritten, mittlerweile darf man ein Werk wie Snyders auch ohne Revisionismusverdacht lesen und sogar wohlwollend besprechen, das Augenmerk liegt weniger auf den weit gefassten Fragen der Einordnung, als vielmehr wieder bei den Fragen danach, warum dies überhaupt passieren konnte. Doch bleibt festzuhalten, daß der „Historikerstreit“, zumindest aus der Rücksicht, durchaus einen Beitrag zum Diskurs lieferte, wahrscheinlich nicht mal den geringsten.
[1]Nolte, Ernst: DER FASCHISMUS IN SEINER EPOCHE. ACTION FRANCAISE – ITALIENISCHER FASCHISMUS – NATIONALSOZIALISMUS. München, 1963.
[2]Snyder, Timothy: BLOODLANDS. EUROPA ZWISCHEN HITLER UND STALIN. München, 2011