INS OFFENE
Karl-Heinz Ott lässt den Leser am Sterben der Mutter teilhaben - eindringlich, präzise und auch schmerzhaft
Das Sterben, der Tod der eigenen Eltern – wer es erlebt hat, weiß, welch eine Lücke es reißt, selbst wenn man immer der Meinung war, dieses Ereignis schon tausendfach vorweg genommen zu haben. Es ist der Verlust aller Verluste, es ist der Moment, in dem man sowohl in die eigene Vergangenheit katapultiert, wie man auch in das unabsehbar Offene gestoßen wird. Jenes Offene, in dem es keinen Halt, keine Hilfe – und sei sie noch so imaginär – mehr gibt, da die vermeintlichen Sicherheiten des eigenen Lebens plötzlich so offensichtlich wegerissen wurden.
INS OFFENE (erschienen 1998) ist der Titel von Karl-Keinz Otts schmalen Band, der sich mit dem Tod der eigenen Mutter beschäftigt und zugleich – sprachmächtig, manchmal fast ein wenig verschwurbelt, in gelegentlich langen, komplizierten Sätzen, die komplexe Gedankengänge wiedergeben – eine Rekapitulation des eigenen Lebens, der eigenen Kindheit ist.
Das Verhältnis zur Mutter ist ein schwieriges: Der im Roman namenlose Ich-Erzähler ein uneheliches Kind in einer zutiefst katholisch geprägten Gegend (Ott selbst wurde bei Ehingen bei Ulm geboren und wuchs in Oberdischingen in Baden-Württemberg auf), die Mutter eine wohl starke, aber ebenso beherrschende Frau, manipulativ die eigenen Schwächen und die eigenen Stärken nur subtil einsetzend, die Kindheit geprägt von der Schönheit der Landschaft, wie von den apokalyptischen Predigten an Sonntagen in der Kirche, ein Leben nach den Jahreszeiten und den kirchlichen Festtatgen. Mutter und Sohn in den der Erzählung vorangegangenen Jahren einander entfremdet, Streit bei jeder sich bietenden Gelegenheit, Streit als Möglichkeit der Bezugnahme aufeinander, Streit als Abgrenzungsmerkmal. Streit als Kommunikationsmittel? Als letzte Brücke vor einem wahren Kontaktabbruch?
Ott erzählt, manchmal fast prätentiös von den Landschaften der Kindheit und kontrastiert diese sprachlich manchmal brillant eingefangene Schönheit mit der Enge der katholischen Lehre und der Enge eines „Elternhauses“, das in Abwesenheit des ihm nicht bekannten Vaters von der Mutter und der Großmutter geführt wird. Nie scheint dieser Namenlose aus der gedanklichen Struktur der mütterlichen Begrenztheit und ihrem verengten Blick auf die Welt entkommen zu sein, lediglich einen Mindestabstand konnte er zwischen sich und sie bringen. Er ist offenbar Dramaturg an einem nicht allzu weit entfernten, städtischen Theater, das auch seine Mutter gelegentlich besucht, ohne die Tiefe des dort Gesehenen wirklich zu erfassen. Ott selbst arbeitete seinerseits am Theater, als musikalischer Leiter. So ist es nicht schwierig, im Roman die Bezüge zum Leben des Autors zu erkennen. Auch diesen Kontrast, der im Besuch von „Holofernes“, einem Schauspieler vom Theater, kulminiert, der mit dem Erzähler befreundet ist, vielleicht sein Liebhaber, wobei dies nie erklärt wird und im Roman auch keine Rolle spielt, arbeitet Ott heraus und in seine Erzählung ein. Hier wird einmal mehr der Weg markiert, den der Erzähler gegangen ist und der zugleich auf jene Herkunft rekurriert, der er doch nie entkommen ist. Seine Wut, die er offen beschreibt, und die meist für jene Streitereien zwischen ihm und der Mutter ursächlich waren, ist das Aufbegehren gegen diese Herkunft und die eigene Verfangenheit darin.
Die Reise zur sterbenden Mutter, ins Elternhaus, in das Dorf, in dem er aufwuchs, lässt den Erzähler über seine Kindheit und den Werdegang räsonieren, aber auch und immer wieder darüber, wie der Glaube das Handeln prägte, wenn er davon berichtet, daß schon hinter den in der Ferne zu erblickenden Bergen das Land der Lutheraner liege – Feindesland. Die das Dorf umgebende Umwelt – Feindesland. Eine Reise nach Zürich mit dem asthmatischen Kind – für die Mutter, wie der Sohn sie wahrnimmt, eine Reise in Feindesland. Auch die Geschichte der Familie, der „im Krieg gebliebene“ Onkel, ist eine Geschichte aus Feindesländern. Und das Dorf, wie der erwachsene Erzähler es bei der Rückkehr wahrnimmt, hat das Potential zu einer Reise in Feindesland zu werden, auch wenn sich diese Befürchtung nicht als wirklich erweist.
In diesen Beschreibungen, die oft etwas Grüblerisches, auch etwas Resignatives haben, kommt wie nebenbei auch ein Stück Geschichte der alten Bundesrepublik zum Ausdruck. Eine Zeit lebt da auf, in der das Wort des Pfarrers Gesetz war, seine Mahnung vor der „roten Gefahr“ direkten Anschluß an die Predigten vom apokalyptischen Untergang nach Johannes hatten. Da wird noch einmal viel von der Bigotterie und der geistigen Verelendung, die auch gewollt war, deutlich; jene Bigotterie und geistige Verelendung, die dieses Land in den 50er, 60er und im ländlichen Raum auch in den 70er und weit in die 80er hinein noch prägten. Ängste und eigene Unzulänglichkeit, institutionell vermittelt, moralische und damit soziale Zuordnungen, denen vor allem ein Kind sich nicht entziehen konnte, Anfeindungen und Demütigung kommen ebenso vor, wie gelegentliche Freude, Befreundung und Unterstützung.
Und dann das Leiden, das Sterben, die Angst, der Widerstand und schließlich das Einvernehmen, das eigene Schicksal anzunehmen. Ott findet auch hier eine Sprache, die dann an so entscheidenden Stellen präzise, leise, treffend und gelegentlich sehr schmerzhaft ist, weil es ihr gelingt, sowohl die genannten Gefühle des Betreffenden, als auch die Beobachtung durch den Verwandten einzufangen und wiederzugeben. Wenn Literatur auch und vor allem ein emotionales Erlebnis ist, Ott beweist es einmal mehr auf sehr eindringliche Art und Weise.
Die Genauigkeit der Sprache, dieser Sätze, auch ihre Komplexität, die nötig ist, um das komplizierte Geflecht von Angst und Verständnis, Ablehnung, gar Distanz und plötzlich aufflammender Empathie festzuhalten und zu reflektieren, ist nicht immer leicht zu lesen, ist nicht immer erträglich. Sie ist aber notwendig und in dieser Notwendigkeit kann man als Leser sogar Trost finden, da ein tiefes Verständnis darin zu finden ist. Ein Buch, das vielleicht nicht jederzeit lesbar ist, das nicht in allen Lebenssituationen relevant sein mag, das aber im entsprechenden Moment, an jenem „unausweichlichen Tag“ (nach Rose Tremain) und in seiner Folge zu einer wirklichen Fundgrube werden kann, die eigenen Gefühle zu durchdringen und zu verstehen.
Kleine, stille Literatur, deren Größe sich langsam und unauffällig entfaltet.