DAS HANDWERK DES TEUFELS/THE DEVIL ALL THE TIME
Zwischen Klischee und tiefer Trauer
Zwischen West-Virginia und Ohio werden wir Zeugen einiger irgendwie wohl typischen Schicksale jener, die der amerikanische Traum vergessen hat oder die eh nie davon gehört haben. Da gibt es Prediger, die ihre Aufgabe nicht sonderlich ernst nehmen, andere, die sie ausnutzen, da treten Hinterwäldler auf, die Mitte/Ende der 50er Jahre und bis weit in die 60er hinein wirken, als stammten sie als Statisten aus Steinbecks THE GRAPES OF WRATH, wir erleben, wie Menschen Menschen quälen und töten, ohne Grund, ohne Sinn und wahrscheinlich auch ohne viel Verstand. Wer die Welt hasst, wer das Leben hasst, der hat wahrscheinlich auch keine Probleme damit, die Welt, das Leben zu beenden.
Der junge Arvin wird von seinem Vater gezwungen, an den seltsamsten, irrsinnigsten Ritualen christlicher Opferung teilzunehmen, deren man lange in der Literatur beiwohnen durfte, alles, um seine Mutter im Gebet zu erretten; Sandy und Carl, ein Paar der literarischen Sonderklasse, machen sich im Sommer für jeweils 2 Wochen auf, Tramper einzusammeln, sie zu foltern und zu töten, damit Carl seine Sammlung abstruser Pornographie aufstocken kann; die Kumpel Roy und Theodore klappern die hinterwäldlerischen Gemeinden ab, predigend und singend, bis es sie aufgrund religiösen Wahns in die Flucht treibt, nachdem Roy seine Frau umgebracht hat, weil er beweisen wollte, daß er Tote erwecken kann; die junge Lenora, ein hässliches und unscheinbares Geschöpf, schon bei der Geburt eher ungewollt, wird Opfer eines Priesters, der ihr die Liebe verspricht; der Sheriff Bodecker schließlich, Sandys Bruder und der Mann, der den jungen Arvin einst fand, nachdem dessen Vater sich umgebracht hatte, bangt um seine Wiederwahl, muß das Andenken seiner Schwester um jeden Preis ehren und hat sich längst in so dunkle Machenschaften verstrickt, daß man von ihm als Vertreter eines „Gesetzes“ schon lange nicht mehr sprechen kann.
All diese Figuren stehen irgendwie miteinander in Beziehung und nach und nach werden diese dem Leser aufgedeckt und ergeben schließlich, einem Spinnennetz gleich, eine Verflechtung, die schickslahaft scheint, der keiner der Protagonisten entkommen kann und in der jeder an einem lange vor seiner Geburt festgesetzten Platz zu stehen scheint, bis sein Einsatz gefragt ist.
Das alles wird mit nahezu alttestamentarischer Wucht erzählt. Pollocks Sprache ist prägnant, eingängig, direkt. Er erschafft diese Atmosphäre gnadenlosen Negativismus‘ ohne dabei auf allzu explizite Darstellungen von Gewalt oder Sex zurückzugreifen, dennoch gibt es Momente eindringlichsten Grauens. Vor allem der Beginn, die Szenen, die davon erzählen, wie Arvins Vater Willard – geprägt und geplagt von grauenhaften Bildern aus dem Krieg im Südpazifik – in einem Schub religiösen Wahns versucht, seine Frau durch Tieropfer, Blutopfer im Grunde, zu erretten und glaubt, auf diese Weise ihren Krebs bezwingen zu können, ist schon literarische Sonderklasse. Hier gelingt es dem Autor, zugleich Willards Verzweiflung als auch Arvins Abstumpfung in Anbetracht des Wahns, der seinen Vater befällt, darzustellen. Aber auch an anderen Stellen gibt es immer wieder Momente, in denen Pollock seinen Figuren wenn schon keine Gnade, so doch zumindest Mitgefühl angedeihen läßt. Und manchmal gelingt es ihm dann, daß wir sogar Mitleid mit einem wie Theodore haben, der uns in der Handlung zuvor eigentlich nur als Widerling begegnet ist.
Das alles wird nicht erklärt, ansatzweise noch Willards Wahn, aber gerade das Killerpärchen Sandy und Carl – das im Übrigen einige Vorbilder in der Realität hat; in der Lakonie, mit der sie geschildert werden, wohl am ehesten wohl Charlie Starkweather und Caril Ann Fugate, ihrerseits auch Vorbilder für das Pärchen in Terrence Malicks BADLANDS von 1973 – bleiben analytisch auf der Strecke. Sie werden beschrieben, man erahnt hier und da Carls Impotenz in Anbetracht „normaler“ sexueller Handlungen, aber weder erfahen wir, warum sie so sind, noch, was ihre Motivation ist. Deshalb auch der Rekurs auf Malicks Film: Vieles in diesem Buch scheint weniger der Wirklichkeit entnommen und geschuldet, sondern intensiver Beschäftigung mit der amerikanischen popkulturellen Beschäftigung mit den dunklen Seiten des Lebens, der Gesellschaft, des Landes. Das ist kein Fehler, im Gegenteil, in der Postmoderne entstehen viele große filmische und literarische Kunstwerke gerade in der Selbstreferenzialität auf andere Kunstwerke. Das ist hier ohne Frage der Fall. Meta-Texte.
Allerdings setzt da auch die Kritik am Text ein: Warum, fragt man sich beim Lesen, warum musste das alles noch einmal so geschrieben werden? Wir kennen diese Figuren der amoralischen, kalten, gefühllosen Sorte zur Genüge aus hard-boiled Stories, aus Filmen und Fernsehserien, eigentlich, denkt man sich, ist das alles irgendwie schon erzählt. Aber seltsamer Weise gelingt es Pollock dann eben doch, uns so zu fesseln, daß wir wissen wollen, wie es weitergeht. Er gewinnt seinen Figuren manches Mal noch Facetten ab, die sie v.a. glaubwürdig machen, was bei dieser Art von Literatur das eigentlich größte Problem ist: Die Glaubwürdigkeit. Meist ersticken diese White-Trash-Figuren daran, aus den Klischees, denen sie ja eigentlich schon entsprungen sind, nicht mehr entkommen zu können, sie werden Opfer ihrer selbst; bestenfalls macht man es wie David Lynch in WILD AT HEART (1990) und läßt den einen Protagonisten über den anderen feststellen: Du bist nichts als eine Attrappe! Eine Witzfigur aus Pappe, Dekor! (so Bobby Peru zu Sailor) und gibt damit immanent zu, daß man sich in der Welt des reinen Klischees bewegt. Pollock weiß das, muß das wissen, als intelligenter Autor im 21. Jahrhundert. Er verläßt sich deshalb wohl auch so sehr auf die Wucht seiner Sprache, nicht so sehr auf sein Personal. Und gewinnt.
Das ist selten und macht THE DEVIL ALL THE TIME sicherlich zu einem der besten (post)modernen Hard-Boiled-Romane, zugleich verrät er aber auch eine Menge über Amerika, und das macht das Buch zu mehr als einem reinen Spannungsroman. Denn in Zeiten einer religiös motivierten politischen Rechten, in Zeiten, in denen ein Riß durch diese Gesellschaft geht, von dem man sich als Europäer manches Mal fragt, wie der je noch zu kitten sein soll, erzählt Pollock eben auch davon, wie diese Risse einst entstanden. Angesiedelt zwischen 1945 und ca. 1967 bringt er ganz nebenbei die Zeitenwende der Bürgerrechtsbewegung und der Hippies ins Spiel, ohne das dies je wirklich explizit gemacht würde. Und er zeigt, wie der mittlere Westen, die absolut tiefste Provinz Amerikas, davon erst seltsam unberührt blieb und dann in Angst erstarrte und lediglich mit Aggression und Gewalt auf diese Art der Veränderung reagieren konnte. Vielleicht müsste man das ebenfalls kritisieren: Es treten nur diese Art Menschen auf, alle anderen sind bestenfalls Opfer. Außer Lenora und der Großmutter Emma, die Arvin aufzieht nach dem Tod seiner Mutter, hat man es im Grunde nur und ausschließlich mit Menschen zu tun, die schlecht sind, böse im religiösen Sinne. Und diese wiederum sind es, die all jene Errungenschaften, die die 60er Jahre hervorbrachten beschmutzten und erneut verwarfen, bis heute.
Der Negativismus (nicht Nihilismus!), der aus den Zeilen dieses Buches spricht, deutet also auch an, woran es dieser Nation, die einmal so groß zu sein versprach und im Grunde seit nunmehr 70 Jahren nur noch enttäuscht, mangelt. Man versteht die Angst eines Autoren wie Pollock vor diesen Mitgliedern seiner Gesellschaft. Hier wird der Schmerz anderer zur eigenen Lust, Lust selbst wird zum Geschäft (wie alles andere auch), demokratische Errungenschaften (wie ein Sheriffamt) werden zu verschacherten Möglichkeiten der Korruption und jeder Glaube – ob religiöser, politischer oder ideologischer Art – pervertiert zum Wahn. Niemand scheint an irgendetwas zu glauben, außer an die Möglichkeit, den eigenen Vorteil maximal zu nutzen.
Angesiedelt ist das alles nicht von ungefähr zwischen West-Virginia und Ohio, also sozusagen am Tor hinaus in die Weiten des Westens, dahin, wo angeblich die Verheißung des amerikanischen Traums beginnt. Sandy und Carl waren sogar in Kalifornien und sind von da geflohen, als sie Opfer eines Pornorings wurden. Der Priester Teagardin seinerseits will dort hin, nach Kalifornien, weil er gehört hat, daß es dort „Frischfleisch“ gäbe in Hülle und Fülle, all die jungen Ausreißerinnen, die in die Hippieparadiese San Francisco und L.A. abhauten. Die will er anzapfen. So gerinnt dieses teils bergige, teils schon den Maisfeldern Iowas ähnelnde Gebiet zu einem Symbol für das provinzielle, enge, engstirnige Amerika, das Verlierer am Laufband produziert, Menschen, die eigentlich sowieso nie eine Chance haben und daraus auch meistens nichts machen, die die eigenen Vorteile suchen und an nichts glauben. Die meinen, ihre Freiheit, die ihnen ja verfassungsgemäß zugesichert ist (wie auch das Glück) in einer Flasche Whiskey und dem Tragen eines Gewehrs auszuleben. Und genau der Typus ist es natürlich, der auch heute wieder Typen wie George W. Bush hervor- und an die Macht bringt.
So hat man es hier letztlich eben nicht nur mit einem Roman über eine längst vergangene Zeit und einige skurille Typen zu tun, sondern mit einem hochaktuellen Lagebericht aus der Mitte einer mehr und mehr zerreißenden Gesellschaft und Nation.