LICHTER ALS DER TAG

Mirko Bonné erzählt von den Beschädigungen, die uns die Zeit zufügt, und davon, wie wir uns diesen stellen...

Nun also steht es auf der Liste für den Deutschen Buchpreis und hat gute Chancen, der diesjährige Preisträger zu werden: Mirko Bonnés LICHTER ALS DER TAG. Und was für Vergleichen es standzuhalten hat! Goethes WAHLVERWANDTSCHAFTEN werden bemüht und manche Schwarte des 20. Jahrhunderts herangezogen, um diese Geschichte aus dem deutschen Mittelstand des beginnenden 21. Jahrhunderts einzuordnen. Ein Fehler, wie meist, wenn man Bücher an Werke der Weltliteratur kettet und sie dann frei flottierend anhand dieser Vergleiche untergehen lässt. Denn wer kann schon ernsthaft dem Vergleich mit Deutschlands Dichterfürsten und Fürstendichter par excellence standhalten?

Also sollte man das alles eine Etage niedriger hängen, die Jubelplakate einrollen, das Buch zur Hand nehmen und lesen. Unvoreingenommen und dem Werke zugetan. Und so lesen wir die Geschichte von Raimund Merz, einem Mittvierziger, der sich in einem moderaten Leben eingerichtet zu haben scheint und doch eines Tages durch die zufällige Begegnung mit einer alten Freundin aus seiner Lethargie herausgerissen und von Erinnerungen geflutet wird. Er, sein bester Freund Moritz und dessen Freundin Flori – das Dreigestirn in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein in den 70er Jahren; wie die Dänin Inger dazu stieß, allein, eine Waise, die gerade die Eltern bei einem furchtbaren Unfall verloren hat und nun das fragil austarierte Gleichgewicht der Freunde zu stören droht; die sich mit Raimund, dann mit Moritz zusammentut; schließlich ein Urlaub an einem kleinen See bei Berlin – mittlerweile sind die vier Freunde Studenten und die Beziehungen nicht mehr ganz so fragil – der dazu führt, daß sich das Kleeblatt teilt und für nahezu 14 Jahre aus den Augen verliert. Und nun erfährt Raimund, mittlerweile mit der ehrgeizigen Flori verheiratet und Vater zweier Töchter, die ältere eine Kleptomanin, daß er in Wirklichkeit auch der Vater von Ingers Tochter, daß sein einstiger Freund Moritz lange tot und begraben ist und nichts von alldem, was ihn die vergangenen Jahre so gelähmt hat, der Wirklichkeit entspricht. Also macht er sich auf, gemeinsam mit seinem Freund Bruno, und nutzt eine Dienstreise in den Stuttgarter Raum, um sich seine Tochter zu schnappen, gen Frankreich abzuhauen und dort einen Coup zu verwirklichen, der sein gesamtes Leben ändern und ihn die späten Jahre seines Lebens in hoffentlich größerer Klarheit verbringen lassen wird.

Das alles beginnt wie ein weiterer Roman über die Befindlichkeit bundesrepublikanischer Männer in den mittleren Jahren – gemeinhin ‚midlife crisis‘ genannt – und entwickelt dann doch einen gewissen Sog, der den Leser zwar nicht fesselt, aber doch genug Spannung erzeugt, um ihn zu binden und Raimunds Weg in die innerer Befreiung begleiten zu lassen. Was also zunächst wirkt, als könne es sich zwischen Peter Henning und Stephan Thome einreihen, entwickelt sich dann doch zu etwas anderem, Tiefgreifenderen. Hier werden nicht die Angst der Mittelklase vor dem Abstieg oder eine diffuse Furcht thematisiert, hier wird ein Mann beschrieben, der sich – und somit uns – sukzessive eingestehen muß, wie sehr sein Leben einerseits erstarrt, ihm andererseits aber auch entglitten ist. Und gerade in den ersten beiden Teilen, die Merz´ Geschichte beleuchten, seinen Werdegang und die Geschehnisse des fernen, lang vergangenen Sommers erhellen, muß nicht nur der Protagonist, nein es muß auch der Leser schmerzhaft begreifen, daß diese Entwicklung möglicherweise immer schon in diesem Mann angelegt war, der das Schweigen der Rede vorzieht, der sich Stunden mit der Betrachtung des Lichts, von Insekten und eines Himmels voller Wolken und dem was sich in ihnen tut, beschäftigen kann und darin sogar so etwas wie Glück zu finden in der Lage ist. Wie nebenbei entpuppt sich Merz aber nicht nur als Lügner in der Not, sondern wir lernen, daß das Lügen ihm innewohnt, ein Teil seiner Natur ist. Und hinzu kommt noch sein übermäßiger Alkoholkonsum, der ihn ebenfalls schon sein halbes Leben lang begleitet. Dieser Raimund Merz ist ein Gefallener, der mitten im Fall hängen geblieben scheint.

Bonné erzählt das in einer meist nüchternen Sprache, schnörkellos und vergleichsweise direkt. Mit Raimunds Liebe zu Wespen und anderen geflügelten Insekten findet er eine annehmbare Metapher für das erstarrte Leben des Antihelden Merz. Viel berichtet uns dieser über das Camouflageverhalten, wie sich die eine Wespenart gegen die andere absetzt, wie sich solche Insekten, die eigentlich Fliegen sind, als Wespen tarnen etc. Bonné erlaubt sich aber keine allzu weitschweifige Allegorien. Wir folgen Merz und seiner Tochter im letzten Teil des Romans (der insgesamt drei Teile umfasst) nach Frankreich und dort begreifen wir nach und nach das ganze Ausmaß der Lähmung, die diese Familie ergriffen hat und noch besser verstehen wir die Kleptomanie der ältesten Tochter, die wohl keine andere Möglichkeit mehr hat, die Oberflächen des Lügennetzes dieser Familie aufzubrechen. Also verstrickt Raimund Merz sie in einen weitaus größeren Diebstahl, als sie sich je hätte träumen lassen und findet in ihr – unwahrscheinlich? Ja, aber deshalb ein wesentlicher Bestandteil der Erzählstruktur des Romans – eine ihm an Kaltblütigkeit weit überlegene Mittäterin. Allerdings begreift sie erstmals, daß Verbrechen sich lohnen muß, ideell, nicht materiell. Den Kontrapunkt der Erzählung stellt Bruno dar, dieser Freund von Raimund und ein Freund der Frauen, der sehr genau weiß, was er will, daß er sich bspw. nicht einbinden lassen will in gängige Beziehungsmuster, und der doch begreifen muß, daß sich sogar sein Leben ändern kann.

Mirko Bonné ist ein durchaus spannender, zuweilen ergreifender, nie langweiliger Roman gelungen, der den Leser auf eine Reise quer durch (West)Europa und tief ins Innere seines Hauptprotagonisten entführt, wo wir den Beschädigungen der Zeit, die wir bereits hinter uns haben, beiwohnen dürfen, die wir alle kennen und die vor Augen geführt zu bekommen der Literatur wahrscheinlich höchstes Gut ist. Ob es zudem ein preiswürdiges Meisterwerk ist, sollen andere entscheiden, doch sollten wir uns auch immer vor Augen halten, daß die bedeutendsten Schriftsteller und ihre Werke meist ohne Preise auskommen mussten. Und es ihnen nicht schlecht bekommen ist.

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