MORD AN DER THEMSE/SHERLOCK HOLMES: MORD AN DER THEMSE/MURDER BY DECREE
Bob Clark liefert eine hintergründige Version des Jack-the-Ripper-Stoffes
Jack the Rippet schlägt bereits zum zweiten Mal im Londoner Armenviertel Whitechapel zu. Inspektor Lestrade (Frank Finlay) tappt im Dunkeln, sein neuer Vorgesetzter, Sir Charles Warren (Anthony Quayle), wirkt nicht sonderlich an einer schnellen Aufklärung des Falles interessiert und behindert die eigenen Leute immer wieder, gewissen Hinweisen nachzugehen.
Als in einer einzigen Nacht gleich zwei Opfer des Rippers gefunden werden, fängt der Londoner Meisterdetektiv Sherlock Holmes (Christopher Plummer) an, sich für die Fälle zu interessieren. Gemeinsam mit seinem Freund Doktor Watson (James Mason) begibt er sich zum Tatort des letzten Falles. Lastrade zeigt sich erleichtert, daß Holmes nun zugegen ist. Dem fallen auch gleich Besonderheiten auf: Anhand der fürchterlichen Verstümmelungen der Leiche, jedoch mangelnden Blutes um sie herum, stellt er fest, daß der Fundort nicht der Tatort gewesen sein kann. Zudem findet er die Reste einer Weinranke, was darauf hindeutet, daß der Täter wahrscheinlich wohlhabend ist – Weintrauben sind ein ausgesprochen teures Obst im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Bei der Suche nach Hinweisen stoßen Lestrade und seine Männer in einer Gasse auf ein Graffito, daß so gelesen werden kann, daß die Juden schuld seien an den Taten. Warren, der hinzu kommt, lässt das Graffito umgehend wegwischen. Desweiteren verbietet er Holmes dessen Ermittlungen. Die Polizei bräuchte ihn nicht.
Als Holmes und Watson zu ihrer Wohnung in der Baker Street zurückkehren, stellen sie fest, daß eine ganze Gruppe Männer verteilt auf der Straße herumlungert. Holmes schickt, als es klopft, Watson zur Tür, die Leute abzuwimmeln. Doch die bitten darum, eingelassen zu werden. Es sind Hafenarbeiter, die Holmes auf eigene Rechnung engagieren wollen, da die Opfer alles Prostituierte seien, Frauen ohne Rechte, deren Tötung die Polizei im Grunde nicht interessiere. Holmes bittet sich Bedenkzeit aus, er müsse sich erst darüber klar werden, ob ihn der Fall wirklich interessiere.
Als die Männer fort sind, weist er Watson darauf hin, daß sie es mit Anarchisten und Sozialisten – also Umstürzlern – zu tun hätten. Auch Watson ist sich dessen bereits bewußt. Doch Holmes versteht das Anliegen der Männer. Zudem bekommt er geheime Hinweise, die auf Spuren hindeuten. So nimmt er den Auftrag an.
Er und Watson können mit Hilfe einer Chemikalie, die Holmes entwickelt hat, das Graffito wieder sichtbar machen. So erfahren sie von der scheinbaren Anschuldigung, die Holmes aber anders liest, als Warren dies tat. Dort ist von „Juwes“ die Rede, was Warren als falsch geschriebenes „Jews“ verstanden haben will, weshalb er die Inschrift verwischen ließ, um etwaige Ausschreitungen gegen Juden zu verhindern.
Holmes hingegen liest die Inschrift als Anspielung auf die Begriffe „Jubela“, „Jubelo“ und „Jubelum“ – die Mörder des Gründers der Freimaurer, die ähnlich zugerichtet und drapiert wurden, wie die Leiche des Opfers, die Holmes gesehen hat. Holmes konfrontiert Warren mit dieser Erkenntnis und es gelingt ihm zugleich, Warren zur Erwiderung eines bestimmten Grußes zu verleiten, wodurch er versteht, daß auch der Polizeichef den Freimaurern angehört.
Weitere Hinweise gehen bei Holmes und Watson ein, die sie auf die Fährte des Hellsehers Robert James Lees (Donald Sutherland) führen, der behauptet, den Mörder nicht nur in einem seiner Gesichte gesehen, sondern auch auf offener Straße wieder erkannnt zu haben. Wenn seine Angaben stimmen, hätte man es keineswegs mit irgendeinem Verrückten aus dem East End zu tun, sondern möglicherweise mit eine höher gestellten Persönlichkeit. Das wiederum passt zu Holmes´ These, die Weinranke betreffend.
Auch auf die Spur von Mary Kelly, einer weiteren Prostiuierten, werden Holmes und Watson geführt. Holmes sucht nach ihr und merkt dabei, daß er verfolgt wird. Als es ihm gelingt, die verängstigte Frau aufzuspüren, werden beide beinah von einer heranrasenden Kutsche überfahren. Kelly glaubt Holmes schließlich, daß er ihr nichts Böses will und erzählt ihr von Annie Crook, die eine gemeinsame Freundin aller bisherigen Opfer und von ihr, Mary Kelly, sei. Sie habe gemeinsam mit den Freundinnen der Trauung von Annie Crook mit einem Mann namens Eddie beigewohnt. Es gäbe ein Kind aus dieser Verbindung, doch sowohl der Mann, wie auch Annie und das Kind seien verschwunden.
Holmes und Watson finden heraus, daß eine Annie Crook in einer Irrenanstalt außerhalb Londons in Gewahrsam sitzt und reisen dorthin, um sie zu treffen. Sie erzählt ihnen, sie sei mit einem Prinzen vermählt, der sie erretten würde. Nun beginnt Holmes zu begreifen: Annie Crook hat den Enkel der Königin, Albert Victor getroffen, diesen aber nicht erkannt, sich in ihn verliebt und diesen – wahrscheinlich in einer katholischen Zeremonie – geheiratet. Dies würde einen unglaublichen Skandal bedeuten, da dieses Kind Anspruch auf den Thron hätte.
Während der Rückfahrt bemerken Holmes und Watson, daß ihre Überwachung aufgegeben wurde, was darauf hindeutet, daß diejenigen, die sie verfolgt haben, nun wissen, was sie wissen wollten. Holmes reimt sich zusammen, daß „Jack the Ripper“ nicht existiert, sondern hier im Namen der Krone jemand Annie Crook, dem ungewollten Thronerben und allen, die damit in Verbindung stehen, hinterherspioniert und diese Personen auslöscht oder mundtot macht.
Holmes und Watson folgern, daß ihre Verfolger wohl zu Mary Kelly wollten und deren Behausung bisher nicht kannten. Durch die dunklen Gassen des östlichen London schlagen sie sich zu ihrem Heim durch, wo sie nur noch Zeuge des grausigen Mordes an der Frau werden. Sie stellen jedoch zwei Meuchelmörder, von denen einer der Leibarzt des Hofes, Sir Thomas Spivey (Roy Lansford) ist. Holmes verfolgt den anderen Mörder, William Slade (Peter Jonfield), Kutscher des Arztes und offenbar dessen Gehilfe bei seinem blutigen Handwerk, dabei wird er von Inspektor Foxborough (David Hemmings) unterstützt, mit dem er zuvor aneinander geraten war.
Foxborough war der Auftraggeber hinter den Männern, die Holmes ursprünglich engagiert hatten und ist Kopf einer Anarcho-Gruppe, die die Monarchie hasst und abschaffen will. Er hatte Holmes gegenüber eingestanden, für dieses Ziel auch die Morde in Kauf zu nehmen. Nun hilft er Holmes, den Mörder zu verfolgen, wird von diesem jedoch gestellt und tödlich verletzt. So muß sich Holmes dem Mann schließlich allein stellen.
Es kommt zu einem Kampf, bei dem es Holmes gelingt, Slade in einem Fischernetz zu verheddern, in dem er sich schließlich selbst erdrosselt.
Annie Crook ihrerseits hat sich kurz nach Holmes´ Besuch umgebracht.
Der erschüttterte Detektiv tritt einige Tage später vor den Premierminister Lord Salisbury (John Gielgud), den als Polizeichef zurückgetretenen Warren und Innenminister Henry Matthews (Geoffrey Russell). Er bezichtigt sie alle drei der Mittäterschaft und Anstifter der Morde an den fünf in Whitechapel getöteten Frauen, die angeblich ein Irrer namens „Jack the Ripper“ getötet habe, der dies in mehreren Briefen an die Polizeibehörde ja auch zugegeben hatte. In Wahrheit sei dies eine Freimaurerverschwörung – alle anwesenden Gentlemen sind Mitgleider der Loge – , die mit diesen Morden die Monarchie stützen und vor einer Krise ob eines ungenehmen Thronfolgers hatten schützen wollen. Holmes legt seine Beweise vor, wohl wissend, daß diese nichts gegen diese Männer ausrichten können. Zudem sind mit Spivey und Wade, sowie Annie Crook, alle mutmaßlichen und relevanten Zeugen entweder tot oder, in Spiveys Fall, dem Wahnsinn verfallen und nicht vernehmungsfähig. So ist neben den Freimaurern selbst Holmes der einzige Mensch, der aufdecken könnte, was sich wirklich zugetragen hat. Doch Holmes verzichtet, wenn er die Zusage erhält, daß Crooks Kind nichts geschehe und es in Frieden leben könne.
Zurück in der Baker Street sinniert Holmes über den Fall. Watson fragt ihn, ob er ihm Gesellschaft leisten wolle. Holmes lehnt ab, fragt aber, ob es Watson störe, wenn er noch ein wenig Geige spiele. Noch nie zuvor hat sich Holmes in dieser Hinsicht so rücksichtsvoll gezeigt.
Hans Schifferle hat in seinen lesenswerten Band DIE 100 BESTEN HORROFILME[1] unter anderem auch Bob Clarks MURDER BY DECREE (1979) aufgenommen – eine durchaus passende Wahl, obwohl der Film sehr viel mehr als ein Horrorfilm ist. Clark, dem man sonst keine allzu bedeutende Karriere als Filmschaffender nachsagen kann, ist sein bekanntestes Werk doch die 80er-Teenie-Sause PORKY`S (1982), ist es hier gelungen, einen atmosphärisch unglaublich dichten, hoch artifiziellen und dennoch sehr spannenden und hintergründigen Film zu drehen, der vordergründig allerdings wie ein nahezu klassischer Horrorfilm daherkommt.
Durch Londons dunkle Gassen wabert der Nebel, Gaslaternen spenden diffuses Licht, Kutschen mit düsteren Gestalten auf dem Bock ziehen klappernd ihre Bahnen durch die nächtlichen, kopfsteinbepflasterten Straßen und hinter jeder Ecke, in jedem Schatten lauert…etwas. Das ganze Setting dieses Films basiert eher auf zeitgenössischen Stichen zu Charles Dickens´ Romanen des 19. Jahrhunderts, denn auf originären Vorbildern. In seinen weniger düsteren Momenten bietet der Film Plätze, Alleen und Prachtstraßen, die aussehen, als würde gleich das gesamte Personal, das sie bevölkert, beginnen, in Tanz und Gesang auszubrechen, wie in Carol Reeds Musical-Verfilmung OLIVER! (1968). Ebenso pittoresk sind die Figuren, die hier auftreten: Halb irre Prostituierte, deren unreine Haut, die Pickel und Schwären die Kamera nahezu zelebrierend einfängt; Polizisten, die durch den Nebel stromern und mit Pfeifen Hilfe herbei holen, wenn das nächste Opfer an einer Straßenecke liegt; Honoratioren, die dickbäuchig ihre Westen spannen und dräuend unter buschigen Brauen und wuchernden Bärten hervorschauen. Liebevoll und detailreich wurde der Film ausgestattet, so daß das viktorianische London exakt so vor dem Zuschauer aufersteht, wie dieser es sich immer schon vorgestellt hat. Nahezu logisch ist es da, daß eine solche Kulisse einlädt, gar grausige Geschichten in ihr zu platzieren.
Drehbuchautor John Hopkins nahm eine damals, Ende der 70er Jahre, gerade beliebte These, wer sich nun eigentlich hinter der Figur des „Jack the Ripper“ verborgen habe, und bastelte daraus eine einerseits hochspekulative Geschichte um Verschwörungen und Intrigen bis in höchste Kreise, andererseits kombinierte er sie mit den Figuren des Sherlock Holmes und dessen Freund Dr. Watson, wodurch er ein zweites, allerdings fiktionales, Motiv des viktorianischen London in seine Geschichte einbrachte. Auch dies betont den bewußt artifiziellen Charakter des Films. Indes war diese Idee nicht ganz so neu, sondern bereits in den 60er Jahren in A STUDY IN TERROR (1965) verwendet worden. Das ist in gewisser Weise naheliegend und man fragt sich eher, wieso der Erfinder der Holmes-Figur, Arthur Conan Doyle, nicht selbst auf die Idee gekommen ist. Hopkins ging aber weiter als seine Vorläufer. Der bereits erwähnten Theorie nach, führt die Spur des Rippers direkt bis in den Buckingham Palace. Es handle sich dabei – so der Autor der Vorlage, Stephen Knight – um eine Freimaurerverschwörung, die dazu diente, die Monarchie zu schützen und ein uneheliches, womöglich katholisch getauftes Kind zu beseitigen, welches der Enkel der Königin Victoria, Albert Victor, mit einem Modell des Malers Walter Sickert – seinerseits ebenfalls häufig als möglicher Kandidat für den Ripper-Posten gehandelt – bekommen habe. Diese Dame namens Annie Elizabeth Crook habe er sogar in einer geheimen Zeremonie geheiratet. Dieser Theorie zufolge standen fast alle Opfer der sogenannten „Whitechapel-Morde“ – also jener fünf Morde, die auch heute noch ein und demselben Täter zugeordnet werden – in Verbindung zu Annie Crook. Hopkins malte also, basierend auf Knights Thesen, das Portrait einer Gesellschaft – der Freimaurer – innerhalb der herrschenden Klassen-Gesellschaft Englands, die bereit war, über Leichen zu gehen, um ein Geheimnis zu bewahren in einer Zeit, in der die Monarchie von verschiedenen Seiten unter Druck stand.
Hopkins baut zur Unterstützung dieser These eine Gruppe Radikaler ein, die Sherlock Holmes bitten, sich der Fälle anzunehmen. Später im Film kommt heraus, daß es Anarchisten sind, die das Königshaus stürzen und eine sozialistische Gesellschaftsform errichten wollen. Holmes und Watson werden im Film immer wieder mit geheimnisvollen Hinweisen gefüttert, die sie an die richtigen Orte und auf die wesentlichen Spuren führen. Diese werden ihnen von Inspektor Foxborough zugespielt, der sich als Kopf der Anarchisten entpuppt. Moral, ethische Glaubenssätze, Anstand bleiben dabei vollkommen auf der Strecke. Ansonsten hält sich Hopkins eng an die realen Vorgaben – das Goulston-Street-Graffito, das die Schuld auf einen jüdischen Täter zu schieben versucht, kommt ebenso vor, wie der zumindest bei Knight, aber später auch anderen erwähnte Seher Robert James Lees, dessen Existenz allerdings nie bewiesen werden konnte. Ebenso baut Hopkins Figuren aus dem Holmes-Kosmos, wie den Inspektor Lestrade, in seine Geschichte ein. So entsteht also auch das Panorama einer Gesellschaft, die am Rande eines Zusammenbruchs steht, in der die alte Ordnung mit allen Mitteln versucht, ihre Macht zu erhalten, die aufkommende neue Ordnung hingegen ebenso über Leichen zu gehen bereit ist, um diese Macht anzugreifen und zu zerstören. Es war eine von antisemitischen und anti-katholischen Ressentiments getragene Stimmung, in der viele Gruppen schnell in Verdacht aller möglichen Verbrechen geraten konnten. Und schließlich war es eine patriarchale Gesellschaft, in der Frauen wenig zu sagen hatten, kein Wahlrecht genossen und nahezu rechtlos waren, wenn sie dem Beruf der Prostituierten nachgingen, wie es auf die Ripper-Opfer zutraf. Hopkins´ Buch verdeutlicht diese Zusammenhänge.
Entgegen der allgemeinen Annahme, Sherlock Holmes sei ein nahezu gefühlloser Mensch, der nach rein rationalen Maßstäben, deduktiv und fast maschinell, seine Fälle löst und ansonsten aller menschlichen Regungen abhold ist, sieht man einmal von seiner Freundschaft zu Dr. Watson ab, die aber nur unter den Bedingungen des Detektivs möglich ist – ein Bild, das nicht zuletzt die hochgelobte BBC-Serie SHERLOCK (2010-17), mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman in den tragenden Rollen, unterstützt – legt Doyle seinen Meisterdetektiv zumindest in den frühen Stories anders an. Da ist er ein durchaus moralisch agierendes Wesen, das sehr wohl zur Empathie fähig ist. Und genau so setzt ihn Hopkins auch ein und genau so stellt Christopher Plummer ihn dar. Er wird im Film zu einer moralischen Instanz. Im Grunde braucht es die ganze Vermischung mit dem Sherlock-Holmes-Ansatz nicht, um die Geschichte, so wie Hopkins sie erzählt, zu präsentieren. Da täte es auch ein skeptischer Inspektor. Doch es braucht eine Instanz, die der Gesellschaft entäußert ist. Und diese Möglichkeit bietet die Figur des Sherlock Holmes. Er ist schon aufgrund seiner außerordentlichen Fähigkeiten seinen Mitmenschen überlegen, aber auch entfremdet. Er sieht mehr, begreift mehr und ist in jeglicher Hinsicht unbestechlich. Sein Leben – er lebt allein, spielt Geige, ist vielseitig gebildet – prädestiniert ihn ebenfalls zum Außenseiter. Seine Freundschaft zu Dr. Watson ist seine nächste, vielleicht einzige menschlich-soziale Beziehung. MURDER BY DECREE spielt dabei unterschwellig ein homoerotisches Motiv aus, das der Figur inhärent sein mag, in den Geschichten jedoch keine Rolle spielt. Es wurde aber später häufig aufgegriffen und viele Interpretationen spielten damit. Der Film lässt es immer wieder anklingen, präsentiert Holmes/Watson gelegentlich wie ein Ehepaar, das sich gegenseitig mahnt, neckt und ein wenig auf den Arm nimmt. Immer aber kommt gegenseitige Zuneigung zum Ausdruck, wird diese Freundschaft als herzlich und zugewandt dargestellt. Sie ist ein Gegenentwurf zu den Außenbeziehungen der beiden. Und zudem ein weiterer Hinwies auf das enge Korsett der Konventionen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in England.
Holmes ist in den Untersuchungen nicht gefragt, vor allem der Polizeichef Sir Charles Warren legt keinen gesteigerten Wert auf die Dienste des Meisterdetektivs. Generell scheint Warren nicht sonderlich an der Aufklärung interessiert, was, wie sich herausstellen wird, an seiner Beteiligung an dem Komplott liegt. In dieses ist auch der Premierminister involviert. Und eine ganze Reihe hochrangiger Persönlichkeiten, inklusive des Innenministers und des königlichen Leibarztes, den Holmes schließlich, genau wie einen weiteren Verschwörer, während des Mordes an Mary Kelly in deren Stube, überrascht und stellt. Holmes seinerseits wird ungewollt mitschuldig, weil erst seine Suche nach der Frau die Verschwörer auf ihre Fährte und schließlich in ihr Heim führt. Dort weiden sie sie regelrecht aus, zerstückeln sie, lassen den bestialischen Mord einmal mehr wie das Werk eines Irren aussehen, um abzulenken. Das ist der Grundplot des Films: Um die Monarchie zu schützen, müssen die Ärmsten sterben und es muß so aussehen, als wären sie die Opfer eines Wahnsinnigen. Wenn Holmes am Ende des Films vor Warren, den Premier und den Innenminister tritt und diese mit dem Ergebnis seiner Ermittlungen konfrontiert, dann geht es nur noch um Schadensbegrenzung. Das Kind, das an geheimen Ort versteckt ist, soll unbehelligt leben dürfen.
Zweimal sehen wir Sherlock Holmes in diesem Film weinen. Einmal auf der Rückfahrt von jener Anstalt, wo er und Watson Annie Crook aufgetrieben haben und sie die Wahrheit über deren Kind und die Verbindung zum Palast erfahren, und in jener Schlußszene des Films. Holmes tritt hier keineswegs in der Maske des immer überlegenen Meisterdenkers auf, dem die Details und winzigen Hinweise nur so zufliegen, sondern vielmehr als gescheitert, ja verzweifelt. Er wollte Unrecht sühnen und aufdecken und muß doch zu einem faulen Kompromiß bereit sein. Die literarische Figur des Sherlock Holmes ist eine vollkommen andere, als die, die Christopher Plummer hier spielt. Die Welt, in der Arthur Conan Doyles Held agiert, ist eine Ständewelt, eine feudale Gesellschaft und Holmes stützt dieses Gemeinwesen. Seine Gegner sind – Luc Boltanski weist in seinem brillanten Werk RÄTSEL UND KOMPLOTTE[2] explizit darauf hin – in allen Gesellschaftsschichten zu finden und oftmals Anarchisten, die das englische Klassensystem angreifen und damit implizit die Monarchie. Holmes stellt sich ihnen entgegen. Diese Ebene baut Hopkins also brillant in seinen Plot mit ein, wenn er ausgerechnet eine anarchistische Gruppe Holmes den Auftrag geben lässt, die Morde zu untersuchen. Holmes zeigt sich schließlich ebenso angewidert von der herrschenden Klasse, wie er sich angewidert von den Umstürzlern zeigt. Er bleibt in einem Außen, er bleibt in einer Blase, in der er und Watson schöngeistig leben können und sich der Realität jener fürchterlichen Straßen Londons, auf die sie die Suche nach Jack the Ripper führt, entziehen können. Aber – und damit endet der Film zwar noch nicht, aber es verbleibt auch über der allerletzten Szene zwischen Holmes und Watson als düstere Verheißung – diese Blase ist nicht mehr ungeschützt, sie ist beschmutzt, angekratzt. Die Sicherheit, die Holmes hatte, ist hinfort, sein Verhältnis zur Realität prekär. Das kommt ironischerweise darin zum Ausdruck, als er erstmals fragt, ob es störe, wenn er spät noch Geige spiele. Zuvor wurde gezeigt, wie Watson nachts wachliegt und dem Spiel des Freundes ergeben lauscht. So mag Holmes am Ende von MURDER BY DECREE scheinbar an sozialer Kompetenz gewonnen haben, zugleich aber muß er sich auch eingestehen, diese Kompetenz zu benötigen. Sein Nimbus ist verloren gegangen.
Hopkins und Clark gelingt also nicht nur ein wahrlich schauerlich-schöner Horrorfilm, sondern auch ein trefflicher historischer Kommentar auf ein Klassensystem und eine Gesellschaft, in der auch Ende der 1970er Jahre, also knapp Hundert Jahre nach dem Zeitpunkt, zu dem der Film angesiedelt ist, immer noch die Schicht und die Herkunft über Wohl und Wehe des einzelnen bestimmen. Genau deshalb mußte der film so artifiziell, so gewollt künstlich wirken. Darüber hinaus gelingt aber vor allem Hopkins mit seinem Buch eine äußerst hintergründige und fast schon dekonstruktive literarische Analyse einer der berühmtesten Figuren der Weltliteratur. MURDER BY DECREE ist also sehr viel mehr, als einer der besten 100 Horrorfilme.
[1] Schifferle, Hans: DIE 100 BESTEN HORRORFILME. München, 1994.
[2] Boltanski, Luc: RÄTSEL UND KOMPLOTTE. KRIMINALLITERATUR, PARANOIA, MODERNE GESELLSCHAFT. Berlin, 2013.