STEINHAMMER
Eine liebevolle Reminiszenz an den alten Ruhrpott und an einen seiner berühmten Söhne
Der Ruhrpott, der Pütt, das Revier – wie man es auch nennen mag, jenes Gebiet mitten in Nordrhein-Westfalen spielt in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte eine nahezu legendäre Rolle. Hier wurde Deutschland nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut, hier schlug das „Herz aus Stahl“, welches Herbert Grönemeyer noch 1984 im Song und auf der gleichnamigen Platte namens Bochum besingen konnte, obwohl schon damals deutlich zu spüren war, dass es wohl zuende ging mit Kohle und Stahl und Steigern und den Kumpeln im Revier. Der Region zwischen Duisburg und Dortmund, Gelsenkirchen und Hagen stand in den 80er und 90er Jahren ein knallharter Strukturwandel bevor, welcher sie massiv verändern sollte. Doch der Mythos von der ehrlichen Arbeit, den ehrlichen Menschen hier, die sich ehrlich und direkt ins Gesicht sagen, was sie voneinander hielten und die sich auch bei gelegentlicher Abneigung aufeinander verlassen können, dieser Mythos hält sich nach wie vor – und wird vor allem durch Ruhrgebietsvereine wie Schalke 04, den VfL Bochum und natürlich Borussia Dortmund, kurz BVB, am Leben gehalten, die ihn dringend für ihre Marketingkonzepte benötigen.
Der Moderator, Journalist, Publizist und Schriftsteller Jörg Thadeusz hat nun mit seinem Roman STEINHAMMER (2023) diesem Ruhrpott und seinen Bewohnern noch einmal ein kleines Denkmal gesetzt. Allerdings kein unbeflecktes, sondern ein – Achtung! – ehrliches, das nicht verschweigt, wie ruppig und manchmal auch beängstigend dieser Landstrich und seine Menschen sein konnten (und können). Selbst in der Steinhammerstraße in Dortmund-Lütgendortmund aufgewachsen, versetzt Thadeusz seine Leser in die späten 50er und frühen 60er Jahre in eben jene Straße, in das Arbeiter- und Kleine-Leute-Milieu, welches sie bestimmte. Wie es an einer Stelle des Romans heißt, war Dortmund nie wirklich eine Kohlestadt, wie dies klassische Ruhrpott-Städte wie Gelsenkirchen, Essen oder Bochum für sich in Anspruch nehmen können, sondern es war eine Stahlstadt. Stahl und Bier waren die Pfunde, mit denen Dortmund wucherte. Dennoch konnte man auch hier in die Mine einfahren und tausend Meter unter Tage im Schacht arbeiten. Gerade im Westen dieser am östlichen Rand des Reviers gelegenen Stadt war man nah an den Zechen, die die Stadtbilder bspw. von Bochum prägten.
Thadeusz nutzt die Geschichte des Malers Norbert Tadeusz, eines Cousins seines Vaters, und dessen Aufstieg aus den Niederungen des Reviers und einer scheinbar vorgezeichneten Karriere in einem jener Berufe, die man dort eben so lernte, wenn man nicht unter Tage arbeiten wollte, zu einem der führenden bildlichen Maler in Deutschland nach dem Krieg. Tadeusz wurde von ihm Wohlgesinnten gefördert, fand seinen Weg an die Düsseldorfer Kunstakademie, avancierte hier zum Meisterschüler von Beuys, schloss enge Freundschaft mit dem Beuys-Schüler und -verehrer Anatol und wurde schließlich Professor an der Akademie. Der Roman folgt diesem Lebensweg in groben Zügen, nimmt sich aber – vor allem was das spätere Leben des Künstlers (als welcher Tadeusz nicht bezeichnet werden wollte, er sei „Maler“, so sein Credo) betrifft – einige Freiheiten. So heißt die Figur im Roman auch nicht Norbert Tadeusz, sondern Edgar Woicik und der Autor verändert den Lebenslauf seines berühmten Verwandten so, wie er ihn für seine Geschichte braucht. Das ist Literatur und es ist ihr Recht. Erkennbar bleibt die Geschichte des Norbert Tadeusz dennoch.
Thadeusz gelingt hier aber nicht nur ein außergewöhnliches, weil eher ungewöhnliches Künstlerportrait, sondern eben auch eine kleine, liebevolle Hommage an jene Typen, die auch noch das Dortmund seiner Jugend – er wurde 1968 geboren – bevölkerten. Und eine ebenso liebevolle Hommage an jenes Dortmund, durch das eine Straße wie die Steinhammer sich zog. Diese Kerle sind rau, sie sind auf eine gewisse Art freundlich, aber ihre Freundlichkeit ist immer auch geprägt von etwas Unterwürfigem gegenüber einem Schicksal, das viele von ihnen äußerlich wie innerlich gezeichnet hat. Die Männer, die sich im Frisörsalon von Edgars Stiefvater Jupp – dem Bruder seines leiblichen Vaters, der ihn in der Annahme seines baldigen Todes an der Ostfront dazu verdonnert hat, sich um Braut und baldigen Nachkommen zu kümmern; laut Thadeusz eine wahre Geschichte – versammeln, sind wohl herzlich, doch sie sind auch immer darauf bedacht, einander und den Nachwuchs kleinzuhalten. Selten wird hier gelobt, ragt irgendwer mal mit einem Talent über die andern hinaus, wird er schnell eingenordet. Es gelingt Thadeusz, diese Männer mit wenigen, aber prägnanten Strichen zu skizzieren und trotz ihrer teils klischeehaften Art (wie man sich Ruhrpöttler eben vorstellen mag) doch ambivalent zu zeichnen.
Jupp bspw. will nichts von Edgars Berufswunsch – Kinoplakatmaler – hören. Der Junge soll den Laden übernehmen. Als Edgar sich widersetzt, droht Jupp damit, ihn „in die Grube“ zu schicken. Als aber Edgars späterer Vorgesetzter – immerhin darf der Junge auf Initiative des Vaters seines besten Freundes hin, den Jupp verehrt, da der im Krieg einen Arm, sein Gehör und sonst allerhand weniger Sichtbares verloren hat, eine Lehre als Schaufensterdekorateur machen – interveniert und Edgars Mutter und dem Stiefvater vorschlägt, den jungen Mann an die Kunstakademie zu vermitteln, da er dessen Talent erkannt zu haben glaubt, da wird plötzlich eine ganz andere Seite an Jupp sichtbar, eine verletzliche und abermals auch eine devote Seite, die beweist, wie niedrig in mancherlei Hinsicht das Selbstbild dieser Männer gewesen ist. In ihrer Selbstwahrnehmung eben Verlierer. Verlierer in vielerlei Hinsicht, spielte doch der verlorene Krieg auch fünfzehn Jahre nach dessen Ende noch eine entscheidende Rolle in ihren Leben und ihrer Selbstwahrnehmung. Ein Krieg übrigens, der nicht nur im Ruhrgebiet noch deutlich sichtbar gewesen ist zu jener Zeit, da Thadeusz seinen Roman ansetzt. So gelingt es Thadeusz anhand gerade solcher eher stillen Szenen viel über eine Generation zu vermitteln, der Vieles genommen worden ist. Die Jugend vor allem, die sie in den Stahlgewittern des Krieges verloren hatte. Gleich, ob das „gut“ oder „schlecht“ gewesen sein mag, definierten sie sich selbst als Verlierer – und waren nicht wirklich bereit, dem eigenen Nachwuchs etwas zu gönnen, was ihnen selbst verwehrt geblieben ist. Ohne dass Thadeusz dies wirklich thematisiert oder gar dramatisch auswalzt, kommt hier eine sehr stille Tragik zum Ausdruck.
Thadeusz erzählt also eine leise Coming-of-Age-Geschichte aus dem Ruhrgebiet der Nachkriegszeit, erzählt auch von der engen Freundschaft zwischen Edgar und Jürgen und der verhinderten Liebesbeziehung zwischen Edgar und Nelly, die reiche Verwandte in Mühlheim hat und nach Hamburg geht, um dort zunächst eine Lehre bei Montblanc (die mit den Füllern) und dann Karriere in dem Betrieb zu machen. Edgar, der zeitlebens unter einem wütenden Impuls leidet, immer wieder scheinbar grundlos in die Luft geht, durchaus auch zu Handgreiflichkeiten neigt und in entscheidenden Momenten weder Freund noch Feind kennt, scheitert in seiner Liebe zu Nelly auch an seinem Temperament. Als Künstler in den wilden Düsseldorfer Jahren, den 60ern, als sich zwischen der Kult-Kneipe Creamcheese und der Ratinger Straße mit dem Ratinger Hof, einem der Geburtsorte der deutschen Punk-Bewegung, eine vitale Kunst- und Kulturszene entwickelte, mag Edgar sein Temperament allerdings zugutegekommen sein. Das allerdings erfahren wir deshalb nicht so genau, da Thadeusz seine Erzählung im Jahr 1961 abreißen lässt und erst 2010, anlässlich Edgars 70. Geburtstag, wieder aufnimmt. Was in den nahezu fünfzig Jahren dazwischen passiert ist, wird eher melancholisch aufgegriffen und von Edgar leicht zynisch rekapituliert.
Mittlerweile an der spanischen Südküste beheimatet, wird er von einer jungen Journalistin aufgesucht, die sich als Tochter seines alten, 1961 nach Amerika emigrierten Freundes Jürgen entpuppt, und deren Fragen ihn dazu animieren, die Jahre Revue passieren zu lassen. Das wirkt ein wenig hinten angepappt und literarisch wenig kohärent. Auch, dass dann im entscheidenden Moment doch noch Nelly auftaucht und den Roman damit in ein Happyend führt und somit als Roman bestätigt, kann nicht wirklich überzeugen. Überzeugend sind jene ersten 300 Seiten, die von Edgars Jugend und seinen ersten Schritten an der Akademie erzählen und mit einem von seiner Professorin in die Wege geleiteten Happening enden, das zu einem Skandal an der Akademie führt und an jene wilden Jahre erinnert, in denen hier noch wirklich Neues entstand.
Vielleicht hätte Thadeusz es damit gut sein lassen sollen. Doch so oder so ist hier ein liebevoller kleiner Roman über eine Zeit entstanden, die langsam entschwindet, deren Reste demnächst auch nicht mehr sichtbar sein werden. Nicht im Pott und auch nicht auf der Ratinger Straße in Düsseldorf. Nicht einmal in der Akademie.