TOMBOY
Eine Achterbahnfahrt durch den Theoriedschungel des Genderismus
Gendern, diverse Geschlechter, Identitätsfragen in Zeiten unsicherer Rollenzuschreibungen: Das Buch zur Stunde! Moment – Thomas Meinecke hat TOMBOY (1998) bereits vor nahezu 25 Jahren geschrieben? Oh…
Offensichtlich hatte Meinecke schon damals genug vom Thema. Anders als heutige – meist hasserfüllte – Gegner des Genderismus (um es einmal so zu nennen, wissend, daß es ein vollkommen falscher Begriff ist), hat Meinecke allerdings das theoretische Rüstzeug, um sich angemessen mit der Sache auseinanderzusetzen. Er kennt die damals angesagte Literatur – also die theoretische Literatur – zum Thema, von Judith Butler bis Luce Irigaray, von Donna Haraway bis Wendy McElroy. Und auch die Grundlagen – zumindest die grundsätzlichen Grundlagen: Simone De Beauvoir, Jacques Lacan et al. – sind Meinecke offenbar vertraut. Und zwar derart vertraut, daß man sich eher wundert, welche Namen er auf seinen knapp 251 Seiten nicht nennt. Julia Kristeva bspw., oder auch Jacques Derrida und selbst die Deutsche Alice Schwarzer werden allesamt keines Wortes gewürdigt. Dabei bezieht sich Meinecke vor allem auf die postmodernen Formen des Feminismus, die stark durch Derridas Dekonstruktionsideen geprägt waren. Aber Gott…in einem Text voller Namen die zu suchen, die nicht drinstehen, ist jetzt ja auch kein wirklich sinnvolles Unterfangen.
Dies ist ja schließlich kein lexikalisches Übersichtswerk, sondern ein Roman. Zumindest wird der Band auf dem Cover als solcher bezeichnet. Und da beginnen die Probleme des Textes – oder, um im Kontext zu bleiben – die des Lesers. Denn Meinecke schüttet den zwar mit den erwähnten Namen – und etlichen mehr – sowei Werken und theoretischen Versatzstücken zu, daß der kaum mehr weiß, wo er sich eigentlich gerade befindet, tappt aber in eben jene Falle, die nahezu alle Romane haben, die sich Theorien als Grundlage bedienen – er scheitert daran, das alles in eine kohärente Geschichte zu packen. Eine packende Handlung zu entwerfen, um den Leser überhaupt an sich zu binden. So mäandert der Text vor sich hin, dehnt sich mal hierhin, mal nach dort aus, nimmt uns mit und lässt uns dann irgendwo zurück und begibt sich auf den nächsten Exkurs zur Verbindung von Popkultur, Mode und Musik (die der DJ Meinecke natürlich immer mitdenkt…äh…hört) im Kontext geschlechterspezifischer Betrachtung unter der erschwerten Bedingung sich auflösender Eindeutigkeiten hinsichtlich ihrer Zuschreibung. Also der geschlechtsspezifischen Zuschreibung. Ja, solche Sätze stehen da drin, in diesem Werk. Und noch viel inhaltsschwangerere. Zumindest wirken sie so.
Eingebettet ist das alles in eine recht lose Story um eine ebenso lose Freundesgruppe, in deren Mittelpunkt – nein, im Mittelpunkt der Perspektive des Buches, so ist es richtiger formuliert – Vivian Atkinson steht, eine Deutsch-Amerikanerin, die irgendwo im Mannheimer Umland aufwuchs und nun an ihrer Magisterarbeit arbeitet, die Judith Butler mit Otto Weininger und dessen Betrachtungen zu Geschlecht und Charakter in Verbindung zu setzen versucht. Zum Glück hat sie in ihrer Freundin Frauke Stöver eine Mitstreiterin, da diese in ihrer Dissertation ein ähnliches Thema behandelt. Frauke ihrerseits ist mit Angela, eigentlich Angelo, verlobt – seines Zeichens eine „phallische Verlobte“, da sie, im Körper eines Mannes eingesperrt, gefangen, bereit ist, diesen zunächst als solchen zu akzeptieren. Hans Mühlenkamm ist hetero, was ihm schwer zu schaffen macht, da er sich in einem feministischen Kreis damit abfinden muß, ganz schnöde in Vivian verliebt zu sein und damit natürlich kaum Erfolgsaussichten zu haben, auch wenn Vivian selbst darunter leidet, ebenfalls zwangsheterosexuell zu sein, wie sie es zu formulieren beliebt. Und so weiter. Im Umfeld treten andere Freundinnen auf – Korinna Kohn, eine Tennisspielerin, deren Funktion im Text vor allem darin besteht, daß ihr Nachname jüdisch klingt und es somit erlaubt, auch die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte irgendwie und irgendwo in den Text hinein zu holen. Wäre ja auch schade gewesen, hätte man darauf verzichtet – zumal Weininger in seinem Antisemitismus ja schon die Richtung vorgibt.
Erstaunlich an all dem ist – wir folgen den Freundinnen und Freunden bei allerhand alltäglichen Begebenheiten: sie fahren zu einem Sleater Kinney-Konzert (die Ende der 90er extrem angesagt waren in links-intellektuellen Kreisen, gleich ob weiblichen oder männlichen Geschlechts); sie besuchen eine Vorlesung von Judith Butler, bei der die Hälfte von ihnen an mangelnden Englischkenntnissen scheitert; sie besuchen sich gegenseitig und erst recht, als eine der ihren schwanger wird und sich in den Odenwald auf das Anwesen eines zu mehreren Jahren Haft verurteilten Dealers zurückzieht – erstaunlich ist, daß es Meinecke gelingt, diese eher blassen Charaktere, die sich im Text zu 90% durch ihre theoretischen Überlegungen auszeichnen, weniger bspw. durch Gefühle (denen eh nicht zu trauen ist, sind sie doch nie „eigentlich“, sondern immer schon Produkte der konsumistischen Propaganda), dennoch lebensnah zu gestalten. Und zwar so lebensnah, daß der Leser sie identifizieren und voneinander unterscheiden und sogar ihre jeweils spezifischen Eigenschaften (wieder)erkennen kann. Das ist schon wahrlich eine Kunst, literarische Figuren anhand ihrer Denkstrukturen – oder der Abwesenheit selbiger – zu charakterisieren. Chapeau!
Ansonsten muß man sich fragen, ob ein Leser, der sich noch nie mit Gender Studies etc. beschäftigt hat (konfrontiert war), hier überhaupt einen Pfad durchs Dickicht finden kann? Andererseits ist ein nicht-wissenschaftlicher Text natürlich nicht dazu verpflichtet, bei Adam und Eva anzufangen und kann sich Einstieg und Ausgang aus seinen Überlegungen jederzeit selbst wählen. Wie der Kenner der Postmoderne ja spätestens seit Lyotards Erkenntnis und Urteil weiß, gibt es die großen Erzählungen eh nicht mehr und von diesem Diktum macht Meinecke dann eben Gebrauch. Er steigt irgendwo in die Geschichte dieser losen Clique ein und irgendwo wieder aus und da das alles selbstredend im ebenfalls der Postmoderne entsprechenden Gewand der Ironie daherkommt, ist es müßig sich zu fragen, ob und ab wann und wieso der Autor das alles ernst meint, oder eben doch nur ironisch-abwertend, ob er sich letztlich angewidert abwendet oder aber auf spielerische Art dem Sujet gar weiterhelfen will. Durch dezidiert männliches Schreiben, möglicherweise. Aber – Achtung: Roland Barthes stand Pate – da der Autor ja bekanntlich tot ist und der Text eh macht, was er will, sind solche Fragen ja letztlich obsolet. Herrliches Wort, obsolet.
Ach ja, der Titel. „Tomboy“ steht für Mädchen, die in ihrer adoleszenten Entwicklungsphase Jungen sein wollen, wie einst die junge Vivian, die sich die Brüste abband und einquetschte, um nicht als Mädchen erkannt zu werden. Wäre das auch geklärt und somit diesem Text (also, diesem hier) wenigstens eine brauchbare Information eingeschrieben. Wohl bekomm´s.