DER CHEF/UN FLIC
Melvilles letzte gemeinsame Arbeit mit Delon - unterkühlt und 'artsy'
Bei einem Bankraub an der französischen Atlantikküste geht einiges schief, ein Bankangestellter stirbt, ein Gangster wird angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Seine Kompagnons bringen ihn in eine Klinik, er droht jedoch zu versterben. Boss der Verbrecher ist Simon (Richard Crenna), ein Pariser Nachtclubbesitzer, der seine Coups sozusagen im Nebenerwerb betreibt. Sein bester Freund ist Edouard Coleman (Alain Delon), ein ebenso skrupelloser wie brutaler Kommissar. Beide lieben sie dasselbe Mädchen: Cathy (Catherine Deneuve), was ein offenes Geheimnis ist. Immer wieder treffen sie sich zu dritt in Simons Club. Doch von Simons Nebenbeschäftigung weiß Edouard nichts. Der Polizist jagt von einem Einsatz zum nächsten, meist weiß er sich schnell zu helfen und erzielt klare Ergebnisse. Seine Methoden sind allerdings wenig zimperlich. Simon und seine Kumpane treffen sich, sie wollen ihren verletzten Kollegen aus dem Krankenhaus befreien, bevor die Polizei ihn vernimmt und er möglicherweise seine Freunde verrät. Da die diensttuende Schwester die Herausgabe des Patienten verweigert, verschafft sich Cathy in der Tracht einer Krankenschwester Zutritt zu dem Zimmer des Verletzten und verabreicht ihm eine tödliche Infusion. Die Gangster planen nun einen gewaltigen Coup: Sie wollen im Nachtzug Paris-Lissabon einen Drogenkurier hochnehmen und ihn ausrauben. Dazu läßt Simon sich aus einem über dem Zug fliegenden Hubschrauber hinab, dringt in den Zug ein und überfällt den schlafenden Kurier. Auf demselben Wege gelingt Simon dann die Flucht aus dem Zug. Doch Edouard, der einen Spitzel in Simons Club untergebracht hat, erfährt von der Aktion. Er stellt einem von Simons Männern eine Falle und nach eingängigem Verhör nennt dieser auch die Namen der Beteiligten. So erfährt Edouard schließlich von der Nebenerwerbstätigkeit seines Freundes. Er unterrichtet diesen, gibt ihm aber die Zeit, seinen noch verbliebenen Kumpanen, den ehemaligen Bankdirektor Paul Weber (Riccardo Cucciolla), auf den der ursprüngliche Banküberfall zurückgeht, der aber seit der Aktion ein Nervenwrack ist, zu warnen. Und als die Polizei auftaucht, geht Simons Kalkül in Erfüllung: Weber bringt sich um. Nun will Simon gemeinsam mit Cathy fliehen, er bittet sie am Telefon, ihn da abzuholen, wo er die Drogen versteckt hatte. Das Telefonat wird von Edouard abgehört und gemeinsam mit Cathy taucht er am Versteck auf. Als Simon in seine Innentasche greifen will, nutzt Edouard diese Bewegung als Vorwand, Simon zu töten. Wortlos geht er an Cathy vorbei, während sein Assistent schon den Anruf zum nächsten Verbrechen entgegen nimmt. Sie fahren los, doch als unterwegs erneut das Autotelefon schellt, nimmt keiner der beiden ab.
Jean-Pierre Melville drehte Kriminal- und Gangsterdramen, ohne Frage. Doch wie kaum einem anderen europäischen Regisseur gelang es ihm, die Kluft zwischen dem sogenannten „Kunstkino“ eines Jean-Luc Godard oder eines Jacques Rivette einerseits, dem reinen Genrefilm andererseits zu schließen. Neben dem großen Grenzgänger Francois Truffaut dürfte er derjenige Regisseur des europäischen Kinos gewesen sein, der auf diesem Grat nahezu mühelos tanzen konnte. So sind seine Arbeiten mit Alain Delon – LE SAMOURAI (DER EISKALTE ENGEL; 1967), LE CERCLE ROUGE (VIER IM ROTEN KREIS; 1970) und eben UN FLIC (DER CHEF; 1972; wie der vorliegende Film zu deutsch hieß) nicht nur absolute Klassiker des Gangsterfilms, sondern auch existenzialistische Dramen, die von der Entfremdung des Menschen erzählen, von einer gefühlskalten Welt, in der sich nahezu jeder selbst der nächste und das Verbrechen ein logischer Schritt der Selbstverwirklichung oder aber letzte Möglichkeit, sich selbst zu spüren zu sein scheint. Ganz sicher ist es als legitimer Geldverdienst mindestens so ehrenwert, wie der bourgeoise Beruf des Gesetzeshüters. UN FLIC war die letzte dieser gemeinsamen Arbeiten des Regisseurs mit seinem Hauptdarsteller, überhaupt bezeichnet dieser Film das Ende von Melvilles Karriere. Ein Jahr nach Beendigung der Dreharbeiten verstarb er an einem Herzinfarkt. So bleibt dieser Film sein Vermächtnis. Ein würdiges, will man meinen.
Eine geradeaus erzählte Geschichte, eine schnörkellose Handlung und einfache Charaktere, die wenig psychologischen Tiefgang aufweisen, weil sie eher wie Stellvertreter echter Figuren agieren in einem Werk, das sich fast vollkommen auf den Stil seines Regisseurs verläßt: UN FLIC ist Anschauungsmaterial darüber, wie man erzählt, ohne geschwätzig zu werden. Andeutungen, Blicke, Gesten einerseits, oft scheinbar zu frühe Schnitte, eine Montage, die wie zufällig wirkt, nahezu manierierte Kamerabewegungen und Einstellungen andererseits – so könnte die gesamte Einstiegssequenz des sich im atlantischen Regen der Bank nähernden Gangsterautos, welches gegen die Vorspanntitel geschnitten wird, ebenso gut aus einem Godardfilm aus der Phase zwischen BANDE À PART (DIE AUSSENSEITERBANDE; 1964) und WEEK END (WEEKEND; 1967) sein – sorgen für eine Atmosphäre des Nebenbei, sorgen dafür, daß die gesamte Story wie ein Ausschnitt aus einer größeren Wirklichkeit wirkt und dabei zur vermeintlichen Banalität verkommt. Was im Leben eines „wirklichen“ Menschen ein kaum zu unterschätzendes Drama wäre, wird hier zu einer Petitesse. Edouards Zugriff auf den Fall wirkt wie reine Routine, wir sehen ihn allein in den ersten 15 Minuten des Films mindestens drei Mal Telefonanrufe entgegen nehmen, die er allesamt mit einem knappen „Ich fahre hin!“ oder „Wir sind gleich da!“ beantwortet. Dieser Mann ist ein vielbeschäftigter und dennoch ist ihm sein Job scheinbar gleichgültig. Edouard ist brutal, wenn ihm Brutalität hilft und wenig einfühlsam. Seine Mitmenschen interessieren ihn kaum. So verprügelt er einen Spitzel, einen Transvestiten, und droht ihm, ihn nicht nur „als Mann“ wieder auf die Straße zu schicken, sondern auch, ihn hochgehen zu lassen. Neben der rein körperlichen Gewalt ist es also durchaus auch soziale Gewalt, die er anzuwenden weiß. Das eine wie das andere ist ihm Mittel zum Zweck, wobei der Zweck nicht mehr ersichtlich scheint: Dieser Flic (Slangausdruck für einen Polizisten) hat den Grund der ganzen Hetzerei längst vergessen, er steht dem menschlichen Schicksal – ob dem eines Verbrechers oder dem eines unbescholtenen Bürgers – so oder so gleichgültig gegenüber.
Delon spielt das alles mit eben jener Coolness, die er als Leinwandpersona immer hatte, in dem fünf Jahre älteren LE SAMOURAI allerdings ausgearbeitet und verfeinert hatte und man wird den Eindruck nicht los, daß der Flic hier eine Variation auf den Killer dort ist, daß also zwei Seiten ein und derselben Medaille beleuchtet werden. Wobei Melville im vorliegenden Film die Kluft, besser: die fehlende Kluft zwischen Verbrecher und Polizist zwar nicht auslotet – dazu ist der Film in der Interpretation und durch die psychologischen Verweigerung gegenüber den Figuren zu zurückhaltend – doch durchaus postuliert. Daß Gangster und Kriminaler zwei Seiten desselben Geschäfts sind, setzt UN FLIC schlicht als gegeben voraus. Das Besetzungsbüro scheint genau darauf geachtet zu haben, daß die Darsteller und Komparsen für Polizisten und Gangster aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. Daß man die einzelne Zugehörigkeit zum jeweiligen Lager nicht immer direkt erkennt, dürfte so gewollt gewesen sein. Nein, Melville scheint es hier auch nicht um die philosophische Ausleuchtung dieses Themas zu gehen. Dann schon eher um die Frage der Ehre dieser Männer: Daß Cathy offensichtlich mit Simon lebt und dennoch mit Edouard schläft, scheint weder den Gangsterboss zu stören, noch den Polizisten, wissen tun sie es beide, wie Edouard offen zugibt. Daß der Gangsterboss seinem Freund sein Tun verheimlicht, die Ausmaße seines Geschäfts nicht preis gibt, verbittert diesen weitaus mehr. Ohne daß der Film viel Aufhebens darum machte, hat man es mit einer in sich geschlossenen Ménage à trois zu tun die zu funktionieren scheint. Allerdings ist Edouard als Polizist auch immer der Außenstehende, denn Cathy ist in Simons Geschäfte eingebunden, bis hin zum Mord. Überhaupt wirken diese Flics hier extrem freudlos, während Simon mit seinem Nachtclub und einer wunderschönen Frau an seiner Seite zumindest der l’art de vivre zu frönen weiß.
Ein weiteres, wesentliches Augenmerk legt der Film auf eine gewisse Schicksalhaftigkeit, Schicksalserwartung. Ein bitteres Augenmerk auf eine Welt und ein Leben ist es, ein Leben, welches uns meist nicht bevorzugt und uns bei aller Dekadenz und scheinbarer materiellen Sicherheit doch immer nur mit der Unbeständigkeit allen Seins konfrontiert. Da führt Melville das Genre des Kriminalfilms dicht an die Existenzialphilosophie seiner Zeit heran. Mehrmals sehen wir den ehemaligen Bankdirektor, der zum Bankräuber mutiert, mit seiner Frau diskutieren, jedes Mal merkt man beiden an, daß sie Angst haben, daß sie sich auf Wagnisse jenseits ihres Horizonts eingelassen haben, jedes Mal endet die Szene mit einem Seitenblick Webers in einen Spiegel: Sein finaler Kopfschuß, den Edouard nicht verhindert, wird immer wieder angedeutet. Bei allem Aufbegehren dieses kleinen, grauen Mannes gegen sein Schicksal – abgeschoben von einem der Effizienz ergebenen System – ist seine freieste Entscheidung die, ob er im Gefängnis landen oder aus dem Leben scheiden will. Gerade hier setzt Melvilles Montage Maßstäbe, denn in jeder dieser „Spiegeleinstellungen“ hat man den Eindruck, der Schnitt ginge zu früh aus dem Bild, wodurch auch hier wieder eine Beiläufigkeit entsteht, die ein starkes atmosphärisches Moment von Fatalität einbringt. Als lauere hinter jedem nicht gezeigten Frame die Erklärung für unser aller Dasein. Und ein jeder wartet ergeben darauf, zu erfahren, was das Fatum ihm zugedacht hat. Und jeder strampelt wie wild, in der ihm verbleibenden Zeit so viel abzugreifen, wie er kann. Das Dasein in dieser Zeit ist kurz und brutal.
Der Pessimist Melville läßt seine Protagonisten ihre (Hyper-)Aktivität gegen diese vielleicht nur intuitive Erkenntnis setzen. So wie der Polizist von Tatort zu Tatort hetzt, so eilt der Verbrecher von Tat zu Tat. Er muß planen und ausbaldowern und schließlich durchführen, was er sich vorgenommen hat. Melville zeigt – nicht zum ersten Mal – ein Verbrechen in Echtzeit. Wenn Simon sich vom Helikopter auf das Zugdach abseilt und dann in den Waggon und das Abteil eindringt, sich zwischendurch aus einem Overall schält, diesen in einem Hohlraum in der Toilette des Zuges versteckt, nur um ihn nach vollbrachter Tat wieder hervorzukramen und anzuziehen, ergötzt sich die Kamera geradezu an der ultragenauen Beobachtung all dieser ebenso professionellen Abläufe wie äußerst präzisen Handgriffe. Und hält die früher im Film angegebenen zwanzig Minuten für die Umsetzung des Plans ein.
Als könne man mit dieser Genauigkeit das Leben im Griff behalten. Und dann geht doch irgendetwas schief, passt ein Teil nicht ins Puzzle – zum Beispiel der menschliche Faktor, daß der Kumpan nicht so hart ist, wie man dachte oder das Gegenüber brutaler als erwartet. Delon bekommt Louis Costa, gespielt vom oft gesehenen und leider fast in Vergessenheit geratenen Michael Conrad, eben doch weich gekocht und obwohl der Film sich entsprechender Szenen enthält, können wir uns definitiv vorstellen, wie er und seine Männer das geschafft haben. Es ist nicht die einzige Szene, in der die Methoden der Gangster und die der Polizei kommentarlos nebeneinander gestellt werden.
Auch wenn UN FLIC abfällt gegen seine beiden zu Klassikern der Moderne mutierten Vorgängern, stellt er doch einen würdigen Abschluß dieser existenzialistischen Trilogie um Verbrechen und Verbrecher dar. Stilistisch ähnlich manieriert wie LE SAMOURAI, ohne dessen psychologische oder künstlerische Tiefe und Ausdrucksstärke zu erreichen, ist es dennoch auch ein würdiger Abschluß einer zu kurzen künstlerischen Karriere. Delon, zu diesem Zeitpunkt bereits ein großer Star in Europa, erarbeitet sich auf der Basis der Figuren, die er für Melville spielte eine Leinwandpersona, die ihm die kommenden 15 Jahre wiederkehrenden Erfolg in zunehmend brutaleren und immer weniger überzeugenden Kriminalfilmen wie TROIS HOMMES À ABATTRE (KILLER STELLEN SICH NICHT VOR; 1980) oder LE BATTANT (DER KÄMPFER; 1983) sicherte. Doch die Zeit des künstlerisch wesentlichen Schauspielers Alain Delon hatte hier schon ihren Höhepunkt gefunden.