BRÜDER
Jackie Thomae entführt ihre Leser*innen in diese so fern wirkende Dekade der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts
Jackie Thomae erzählt in ihrem Roman BRÜDER (2019) vom Erwachsenwerden in der DDR und dem zusammenwachsenden Nachwendedeutschland der 90er und der Nullerjahre. Zwei Brüder – Mick und Gabriel – teilen denselben Vater – den Senegalesen Idris Cissé -, haben jedoch verschiedene Mütter. Beide Jungen wachsen extrem unterschiedlich auf und entwickeln sich nahezu diametral entgegengesetzt zueinander. Sind Identitäten, sind Charakter, Entwicklung und der Blick auf die Welt also abhängig von Genen oder doch eher vom sozialen Umfeld, in dem der Mensch aufwächst?
Mick wächst zunächst in Ostberlin, später, nachdem er und seine Mutter die DDR verlassen durften, im Weststeil der Stadt auf. Er entwickelt sich im Laufe der Jahre zu einem Drifter, pflegt einen viel zu teuren Lebensstil, wird in Drohgendeals verwickelt, findet seine große Liebe Dalia, betrügt sie regelmäßig und verliert sie doch erst, als sie gewahr wird, dass er keine Kinder zeugen kann, weil er sich ohne ihr Wissen hat sterilisieren lassen. Er wird Teilhaben eines Nachtclubs und somit zu einem festen Bestandteil des legendären Berliner Nachtlebens der 90er Jahre. Das Leben scheint sich gegen ihn zu wenden, als er erfährt, dass er durch die Einnahmen des Nachtclubs eine halbe Million Euro Steuerschulden angehäuft hat. Schließlich wird er in der Silvesternacht 1999/2000 Opfer eines äußerst unglücklichen Unfalls, was ihn sein bis dato ausgesprochen gutes Gehört kostet. Dies als Zeichen deutend, reist Mich nach Thailand, überwirft sich dort mit einem Freund und scheint nun endgültig ohne Job, ohne Ziel, ohne Perspektive zu Beginn des neuen Jahrhunderts gestrandet zu sein. Doch findet hier auch eine Wende – eine Läuterung gar? – statt.
Micks Halbbruder Gabriel hingegen verliert im Alter von sieben Jahren die Mutter und wächst in der Umgebung von Leipzig bei den Großeltern auf. Er wird Architekt, zieht nach dem Grundstudium nach London und absolviert sein Masterstudium. Es gelingt dem akribisch planenden Mann, sein Leben exakt so auszurichten, wie er es wollte: Er wird Angestellter eines wesentlichen Architekturbüros, macht sich bald mit einem engen Bekannten selbstständig, gewinnt mit einem sehr ausgewogenen Projekt für Sozialbau wichtige Preise und wird zu einem internationalen Stararchitekten. Er heiratet die Übersetzerin Fleur, die beiden bekommen bald ein Kind, Albert, der sich im Laufe der Jahre zu einem zwar sehr intelligenten, aber auch renitenten und widerborstigen Teenager entwickelt. Entgegen Fleurs Rat, übernimmt der schon arg ausgebrannte Gabriel auch noch eine Lehrdozentur an der Universität und vergreift sich hier im Ton gegenüber einer schwarzen Studentin. Nichts bewahrt ihn vor dem folgenden Shitstorm, vor dem er schließlich nach Brasilien flieht.
Im Jahr 2017 bemüht sich der mittlerweile deutlich in die Jahre gekommene Idris, seine Kinder – er hat noch eine Tochter – zusammenzubringen und lädt sie nach Paris ein. Mick, mittlerweile Yoga-Lehrer und Life-Coach, kommt gemeinsam mit Delia, die nun seine beste Freundin ist, Gabriel gibt seine Einladung an Albert weiter, da er selbst es nicht nach Paris schafft. Albert erkennt sich selbst in Mick, der ihn ebenfalls sofort mag. Schließlich animiert Albert seinen Onkel, eine Nachricht an Gabriel zu schicken – unter „Brüdern“.
Thomae baut eine überdeutliche Konstruktion auf: Zwei scheinbar vollkommen unterschiedliche Halbbrüder, die nahezu entgegengesetzte Leben führen und sich scheinbar vollkommen unterschiedlich entwickeln. Beide werden im Laufe dieser Leben mit ihrer Herkunft – und das bedeutet eben auch: mit Rassismus – konfrontiert, beide gehen unterschiedlich damit um. Während Mick, ausgestattet mit einer natürlichen Arroganz, die ihm schließlich auf die Füße fällt, allen Ressentiments eher gelassen begegnet, entscheidet sich Gabriel, sie zu ignorieren und schlicht dadurch zu widerlegen, indem er besser ist. Besser als seine Kommilitonen, besser als seine Kollegen, besser als so ziemlich jeder, dem er begegnet – gleich ob im Beruf oder privat.
Beiden Figuren werden gewisse Stereotype und Klischees zugeschrieben, wobei diese entgegen der Behauptungen in den Rezensionen zum Buch nicht zwingend als „schwarz“ zu identifizieren sind. Eher sollte man sich fragen, ob die betreffenden Rezensenten da nicht eigenen Vorurteilen aufsitzen. Denn Micks Biographie entspricht vor allem einer der typischen Biographien der 90er Jahre: Hedonistisch, auf den Moment – das heißt meist, auf die Nacht – ausgerichtet, ziellos und ohne Plan, driftet er durch diese Party-Dekade und bleibt schließlich „irgendwo“, in seinem Fall: Thailand, hängen, nachdem er als halbgarer Club-Besitzer und auch als Platten-Rezensent und schließlich auch als Vater – der er eben doch wurde, nur wusste er nichts davon, da er den entscheidenden Brief zehn Jahre lang nicht geöffnet hat – gescheitert ist. Gabriel seinerseits erfüllt alle Klischees eines „typischen“ Deutschen: Er ist überkorrekt, akribisch bis zur Penetranz, er ist verklemmt, wenn es zum Smalltalk kommt und nahezu unfähig, sozial zu interagieren. Hat er ein Date, in diesem Fall mit Fleur, die er sich geradezu aussucht als zukünftige Mutter seiner Kinder, dann beginnt er Vorträge zu halten und gibt exakte Auskunft zu sich und seinen Plänen.
Thomae erzählt ihren Leser*innen diese Geschichte aus wechselnden Perspektiven. Im ersten Teil, der den Titel Der Mitreisende trägt, ist es ein auktorialer Erzähler (nein, eine auktoriale Erzählerin wohl eher), der von Micks Leben berichtet, nach einem ebenfalls auktorial erzählten Intermezzo, welches Idris´ Perspektive einnimmt, sind es dann im zweiten Teil des Romans, Der Fremde, Gabriel und Fleur, die im Wechsel aus ihren jeweiligen Ich-Perspektiven vom je eigenen wie auch dem gemeinsamen Leben erzählen. Und schließlich, im Epilog, der vom gemeinsamen Paris-Besuch erzählt, sind es dann Mick, Idris und Albert, die jeweils in einem kurzen Abschnitt eine eigene Stimme erhalten.
Durch diese Wechsel bleibt der Roman spannend, auch dort, wo die Spannung tatsächlich abzureißen droht. Denn so sehr Thomaes Roman zu überzeugen weiß – auf gut 500 Seiten schleichen sich dann doch Längen ein, nicht zuletzt, da diese Biographien, diese „exemplarischen Biographien“ müsste man wohl eher sagen, so besonders gar nicht sind. Anders, als es Klappentext und Rezensionen suggerieren, geht die Idee, genetisches Vermächtnis und Sozialisation gegeneinander aufzurechnen, nur bedingt auf. Thomae, selbst Kind eines Vaters aus Guinea und einer deutschen Mutter, besteht selbst darauf, dass die Geschichte nicht spezifisch von Kindern mit schwarzen Vätern erzählt, sondern vor allem davon, wie unterschiedlich Leben verlaufen können aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen. Dementsprechend sei die Frage des Rassismus auch nicht die entscheidende gewesen. Eher hätte sie diesen subtil darzustellen versucht[1]. Das ist ihr, wenn das Thema denn überhaupt eine wesentliche Rolle einnimmt, auch genau so gelungen. Denn gerade in Micks Leben spielen rassistische Vorfälle so gut wie keine Rolle. Nun leben die beiden ungleichen Brüder allerdings auch in zwei Städten – Berlin und London – in denen es natürlich Rassismus gibt, die aber so international und multiethisch geprägt sind, dass es sehr viel einfacher ist, sich diesem zu entziehen, als bspw. in Leipzig oder einer deutschen Kleinstadt, gleich ob Ost oder West.
Das Problem des Romans, trotz aller postmodernen Brüche in den Erzählstimmen, trotz seiner meist spannenden, manchmal sogar mitreißenden Geschichten dieser beiden Jungen und den Männer, die sie dann werden, ist die Gleich- oder Einförmigkeit des Erzählten. Wirklich überraschend ist an diesen Leben dann eben doch nichts. Es sind, und das bleibt während der Lektüre immer spürbar, konstruierte Biographien, Fabel-Biographien, an deren Beispielen eben exakt das durchexerziert werden kann, was die Autorin beweisen will. Gene sind nicht alles, wir sind Produkte unserer Sozialisation, unserer höchst eigenen Geschichte, unserer Umwelt und der Art und Weise, wie die, die uns aufzogen, auf uns eingewirkt haben. Das ist natürlich nichts allzu Neues. Es anhand zweier solcher Biographien nachzuempfinden, ist vielleicht neu – aber bringt es dem Leser tatsächlich neue Erkenntnisse? Eher weniger.
Gerade Micks Geschichte ist, wie oben bereits erwähnt, so außergewöhnlich nicht. Eben eine dieser 90er-Jahre-Biographien, die jene, die in etwa derselben Alterskohorte entstammen, so oder so kennen – ob als Literatur oder aber viel mehr aus eigener Anschauung. Und Gabriel ist eine zwar interessante(re) Figur, doch auch in seinem Fall scheinen die Spezifika seiner Biographie eher eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Er ist ein Workaholic, wie es sie etliche gibt, er ist von Ehrgeiz zerfressen, doch wird dieser Ehrgeiz, dieses unbedingte Wollen, das in seinem Fall wohl mit inneren Zwängen einhergeht, nie spezifisch motiviert dargestellt. Eher interessant sind in beiden Fällen die Frauen, die bereit sind, diese Männer zu ertragen, zu unterstützen, auch zu beschützen. Dalia allerdings erhält im ganzen Roman nicht ein einziges Mal eine eigene Stimme, Fleur hingegen schon. Und genau in diesen Passagen ist der Roman dann fast am stärksten. Was daran liegen mag, dass Thomae eben eine weibliche Erzählerin ist. Zwar sagt sie, Mick und Gabriel könnten ihre Brüder sein – doch sind sie es letztlich eben auch nur im Geiste, als fiktionale Figuren, worauf die Autorin auch besteht.
BRÜDER ist durchaus packend und erzählt ganz sicher etwas über ein Deutschland in jenen Jahren, die momentan selbst als „Baseballschlägerjahre“ typisiert werden; Jahre, bei denen das Augenmerk zumeist auf den Entwicklungen in den neuen Bundesländern und deren rechtsextremistischen bis rechtsradikalen Ausschlägen liegt. So gesehen ist Thomaes Roman ein sehr angenehmes Korrektiv, da die 90er und die Nuller-Jahre hier einmal aus anderer, auch weniger dramatischer Perspektive beleuchtet werden, was das Spektrum dessen, wie literarisch auf die jüngste BRD-Vergangenheit geblickt wird, enorm erweitert. Es waren eben auch egozentrische Jahre, dahingelebte Jahre, wenn man bspw. an all die Raves, die Love Parade oder die endlosen Tanz- und Party-Wochenenden denkt, daran, wie man in jenen Jahren vor sich hin existieren konnte ohne wirklich an ein „Morgen“ zu denken – hatte es doch immerhin zu Beginn der Dekade geheißen, dass die Geschichte selbst an ihr Ende gekommen sei und die Demokratie nun für immer und ewig Einzug gehalten habe. Mick steht exemplarisch für einen Vertreter genau dieser Jugend.
Dass das alles nicht stimmt, dass unter all dem farbenfrohen Feiern eben auch eine brutale Realität lauerte, das konnte sehen, wer in die neuen Bundesländer blickte oder die Tagesschau einschaltete und die Berichte aus jenen Bürgerkriegen betrachtete, die nur ein paar Hundert Kilometer weiter südöstlich im ehemaligen Jugoslawien tobten. Gabriels Geschichte, seine Ernsthaftigkeit, vermittelt etwas von dieser Realität und der Tatsache, dass die Geschichte, dass jede Zeit, einen – ihren – schwarzen Rücken hat, eine Seite, die wahrscheinlich immer verdrängt wird. Diese Diskrepanz herauszuarbeiten, auch eine gewisse Dialektik, die sich darin verbirgt, das ist Jackie Thomaes Verdienst mit diesem Roman.
[1] Vgl. Interview mit der Autorin im Tagesspiegel vom 2.9.2019.