DER DSCHUNGEL/THE JUNGLE
Upton SInclairs immer noch bewegnder und bewegter Roman aus den Schlachthöfen Chicagos
Als 1906 THE JUNGLE (Deutsch: DER DSCHUNGEL; früher: DER SUMPF) von Upton SInclair erschien, begründete der Autor damit nicht nur das, was man heute „Enthüllungsjournalismus“ nennen würde, sondern auch eine engagierte, sozialkritische, teils proletarische Literatur, die ihr Augenmerk auf die Bedingungen des Arbeitslebens in den USA richtete. Sinclair selbst gab sich sozialistisch und blieb dieser Haltung sein Leben lang treu, auch wenn er von Revolutionären wie Lenin gern des „Salonbolschewismus“ bezichtigt wurde und auch nie die Revolution als solche predigte. Liest man THE JUNGLE heute, wird man allerdings mit wahrlich sozialistischen Ideen konfrontiert, aus einer Zeit stammend, die deutlich vor der Oktoberrevolution lag und erwachsen aus der Beobachtung der Verhältnisse in Chicago, speziell in den dortigen Schlachthöfen.
Sinclair recherchierte wochenlang in den Fleischverarbeitungsbetrieben, er arbeitete an den Fleißbändern, er wurde Zeuge jener schändlichen hygienischen Zustände, die er so eindringlich schildert, wie auch der Behandlung des Viehs und natürlich der Menschen, die selber wie Vieh betrachtet wurden von den Managern des großen Fleisch-Trusts. Sinclair schrieb seinen Roman, der zunächst als Artikelserie angelegt war, im Auftrag der sozialistischen Zeitung Appeal to Reason, deren Herausgeber Fred D. Warren von Sinclairs Roman MANASSAS: A NOVEL OF THE WAR (erschienen 1904) sehr angetan war und ihm eine Arbeit über „Lohnsklaverei“ vorschlug. Sinclair hatte nach etwa sieben Wochen sein Material beisammen, er hatte die Zusammenhänge in den Fleischfabriken durchschaut, er wusste um die ungeheuerlichen Verstrickungen der städtischen Institutionen, der Parteien, auch der Gewerkschaften, er wusste um die Korruption und die Arbeitsbedingungen, er wusste um die Hygiene, besser: die nicht vorhandene Hygiene, und er wusste um die vertuschten Unfälle. Er wusste, wie das verdorbene Fleisch entgegen aller Verbote doch in die Nahrungskette geriet und wie Arbeiter gegen Arbeiter ausgespielt wurden, wie der Trust das Lohndumping durchsetzen konnte, indem er dafür sorgte, daß immer mehr und immer mehr Arbeitssuchende in die Stadt kamen, wodurch ein Überangebot an Arbeitskraft herrschte.
Was Sinclair fehlte, war eine Story, war das Personal für einen Roman. Darauf, so seine eigene Erklärung, sei er eher zufällig gestoßen, als er Zeuge einer Hochzeitsfeier wurde, bei der ausländische Arbeiter trotz der Not und des Elends, in dem sie lebten, ausgelassen feierten. So entstand das ebenso eindringliche wie wunderschöne Eingangskapitel seines Buches, das dem Leser die wesentlichen Figuren exemplarisch vorstellt: Jurgis Rudkus und seine Frau Ona, die treue Elzbieta, die bodenständige Marija, deren Verlobten und die weitverzweigte Verwandtschaft. Sie alle sind um die Jahrhundertwende voller guter Absichten und großer Träume aus Litauen nach Amerika gekommen, um hier ihr Glück zu suchen. Gelandet sind sie im Chicagoer Viertel Packingtown, gleich bei den Schlachthöfen, wo die Arbeiter unter unfassbaren Bedingungen in engen Wohnungen, oft mit zehn, zwölf, fünfzehn Menschen in feuchten Zweizimmerwohnungen leben.
Exemplarisch folgen wir dem Leben dieses Jurgis Rudkus. Er ist ein starker, großer Mann, der arbeitswillig ist. Schnell findet er eine Anstellung in den Schlachthöfen und so glaubt er, daß das große Leben, das Amerika verspricht, begonnen habe. Doch durch die widrigen Umstände, die Willkür der Bosse, durch Unkenntnis und vor allem durch mangelnde Sprachkenntnisse, werden Jurgis und die seinen zu leichter Beute all jener Nepper und Betrüger, die die Neuankömmlinge auszunutzen wissen. Sie kaufen ein Haus, ohne das Kleingedruckte je gelesen, geschweige denn verstanden zu haben, sie schuften für Niedriglöhne im Akkord, selbst die Kinder unter vierzehn sind angehalten mitzutun – und sei es als Zeitungsverkäufer in der Innenstadt. Durch verschiedene Schicksalsschläge zerfällt die Familie, Ona stirbt, das gemeinsame Kind ebenfalls, Jurgis verfällt zusehends, er landet nach einer Schlägerei im Gefängnis und die Aufseher der Fleischereien sorgen dafür, daß er nur noch die niedrigsten Arbeiten in Chicago verrichten darf. Er steht auf schwarzen Listen und verlässt schließlich verbittert die Stadt. Jurgis begibt sich auf eine mehrmonatige Tour durch den Mittleren Westen und die südlicheren Gefilde der Staaten, er lernt das Leben als sogenannter Hobo kennen, er kommt auch erstmals mit Kleinkriminellen und Verbrechern in Berührung. Zurück in Chicago setzt sich seine Pechsträhne fort, bis er bereit ist, sich vollends in die Illegalität zu begeben. Er wird ein Handlanger des örtlichen Chefs der Demokraten, verhilft diesem mit Manipulationen zu gewünschten Ergebnissen bei den Kommunalwahlen, wird Streikbrecher und verdingt sich in allerhand Nebenjobs, die allesamt nicht unbedingt legal sind. Erst spät entwickelt er ein soziales Bewußtsein. Nachdem ihn sein Boss hat fallen lassen, sitzt er wieder auf der Straße, bettelarm, ohne Obdach und gerät zufällig in eine Veranstaltung der Sozialisten, wo er sich einfach nur aufwärmen will. Hier hört er seine eigene Geschichte und beginnt, für die Ideen, deren theoretische Basis er kaum versteht, zu brennen. Er schließt sich der sozialistischen Partei an und beginnt zu agitieren.
Man muß dies so ausführlich wiedergeben, da sich Sinclair große Mühe gibt, diese Figur – wie fast alle in diesem Roman – mit der ganzen prallen Fülle des Lebens zu schildern, zugleich aber immer im Auge behält, daß Jurgis und seine Familie eben als Fabel-Fall gelten müssen für Millionen, die im Raubtierkapitalismus der Ära Theodore Roosevelts ausgenutzt wurden. So nutzt Sinclair zunächst einen eher nüchternen Stil, um die reinen Vorgänge in den Betrieben zu schildern, was aber gerade dadurch umso intensiver gerät. Reportagen gleich werden die Zustände beschrieben, die in den Schlachthöfen herrschen, wird beschrieben, wie Unfälle kaschiert werden, wie Menschen, die in die Maschinen fallen, einfach mitverarbeitet werden, wie verrottetes Fleisch weiter genutzt wird, es wird beschrieben, wie leicht Menschen austauschbar sind, die sich verletzen oder Arbeitsunfälle haben, wenn sie bei Minustemperaturen Rinder und Schweine ausnehmen und auseinanderschneiden, die Angst der Tiere, ihre grässlichen Schreie, das Blut, das Gekröse und Gedärm, das in den Würsten verarbeitet wird, wie Arbeitsregeln und Hygieneregeln systematisch unterlaufen werden. Es entsteht ein geradezu apokalyptisches Bild vor den Augen des Lesers. Und doch hält Sinclair dies nie zur Gänze durch. Irgendwann spürt man in diesen Beschreibungen seine Wut, die Abscheu, die Empörung, die den Autor ergreift und der er immer wieder mit Metaphern und Abschweifungen in die Beschreibung der Conditio Humana Ausdruck verleiht.
Zugleich gelingen ihm aber auch starke Portraits der Betreffenden, erzählt er von ausgeprägten Charakteren, denen er gut nachvollziehbare psychologische Motive mitgibt. Und immer wieder schafft er es, ohne theoretische Erklärungen, Vergleiche und Analogien herzustellen. So begreift der Leser, daß er es hier eben nicht nur mit dem Fleisch des Viehs zu tun hat, sondern eben auch mit den Herden der Arbeiter, die selbst zu Vieh werden. Die Frauen, die sich in ihrer Verzweiflung zu prostituieren beginnen und genauso ausgenutzt und ausgewertet werden, wie es den Rindern und Schweinen widerfährt – nur daß diese Frauen, wenn sie zu nichts mehr nutze scheinen, schlichtweg ausgestoßen und ihrem Schicksal überlassen werden. Nahezu organisch kann Sinclair die Zusammenhänge der Arbeits-, wie der sozialen Bedingungen und der politischen und institutionellen Korruption vermitteln und es gelingen ihm immer wieder Szenen, die dialogisch aber auch handlungsreich erklären, wie es zu diesen Zuständen kommen kann.
Kritisiert wurde meist die zweite Hälfte des Romans, in welcher vermehrt Figuren auftreten, denen nicht mehr die gleiche Sorgfalt bei Charakterzeichnung und psychologischer Motivation zuteilwerde. Doch stimmt das nicht so ganz. Auch hier gelingen Sinclair immer noch starke Figurenzeichnungen, wenn auch skizzenhafter, schneller, ein wenig ungenauer. Wahr ist allerdings auch – die Kritik bemängelte dies gelegentlich – , daß Sinclair gewisse Figuren schlicht als Typen auftreten lässt. Ein sturzbesoffener Millionärssohn führt Jurgis in die Villa seiner Familie, wodurch Sinclair die Gelegenheit hat, deren Welt vor dem Leser und seiner Hauptfigur auszubreiten und damit die eklatanten Gegensätzlichkeiten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufzuzeigen und anzuprangern. Andere Figuren wirken zweidimensional, weil sie ganz offensichtlich ausschließlich funktionalen Charakter innerhalb der Erzählung haben, Sprachrohre für den Autor sind, als Exempel statuiert werden. Erst auf den allerletzten Seiten des Romans bekommt dieser dann den Anstrich eines Pamphlets, wird in ellenlangen Monologen agitiert und eine sozialistische Utopie ausgemalt, von der wir heute, über hundert Jahre nach Erscheinen des Werks, natürlich wissen, daß sie so nie stattgefunden hat – nicht in der Sowjetunion, nicht im Ostblock, nicht auf Kuba, erst recht nicht in den USA.
Sinclairs Buch hatte eine enorme Wirkung und wurde schon bald verfilmt. Der Roman erregte Aufsehen, wenn auch anders, als der Autor es intendiert hatte. Vor allem die hygienischen Zustände und die Behandlung des Viehs bekamen Aufmerksamkeit und wirklich trug der Erfolg des Romans dazu bei, daß diese Mißstände nach und nach vom Gesetzgeber behoben wurden. Sinclair machte dies bitter, wie er in der Sottise verdeutlichte, er habe auf die Herzen und das Gewissen der Amerikaner gezielt, getroffen habe er aber nur deren Mägen. Denn für das Schicksal der Arbeiter, für die „Lohnsklaverei“, die Korruption und die verbrecherische Haltung des Trusts schien sich niemand so richtig zu interessieren.
Dennoch – THE JUNGLE ist immer noch einer der großen Romane der amerikanischen Moderne, die sich mit der Lebenswirklichkeit einer sich rasant verändernden, zunehmend industrialisierten Gesellschaft befassten, zugleich ist es ein wirklich proletarischer Roman, der mit einer kraftvollen Geschichte, mit gut ausgearbeiteten Dialogen und meist hervorragend ausgearbeiteten Figuren überzeugt und zugleich doch auch weiß, wie er seine Anliegen anbringen kann. Ein Roman, der entlang der Schicksale dieser typischen Einwandererfamilie erzählend auf politische, ökonomische und kriminelle Zusammenhänge und Mißstände aufmerksam machen und seine sozialistischen Ideale vermitteln kann. Da seien ihm kleine Schwächen bei einigen Figuren oder die abflachende Erzählkurve zugunsten verstärkter politischer Erklärung in den letzten Kapiteln verziehen.