DIE RACHE IST MEIN/LA VENGEANCE M´APPARTIENT

Marie NDiaye liefert ein verstörendes Stück Literatur

Die vielleicht erste Reaktion, die Marie NDiayes Roman DIE RACHE IST MEIN (LA VENGEANCE M´APPARTIENT, 2021; Dt. 2021) erzeugt, ist ein tiefsitzendes Gefühl der Verstörung. Es ist aber ein Roman, der mit der scheinbaren Kälte, mit der die Autorin ihre Protagonisten vorführt, aufeinanderprallen und einander durchgehend mißverstehen lässt, beim Leser allerhand heftige Reaktionen auslöst. Es ist bedrückend, dieser seltsamen Geschichte zu folgen, in der scheinbar ein jeder in tiefer Isolation lebt, als seien all diese Menschen nur Teilchen, die lose im Raum flottieren, aufeinandertreffen und einander abstoßen. Und es ist ein Buch, das in seinen tieferen Strukturen vor allem davon erzählt, wie eine egozentrische Gesellschaft langsam aber sicher die Kinder verlässt, mit denen sie nichts oder zumindest nur wenig anzufangen weiß.

Eine Frau bringt ihre drei Kinder um. Ihr Mann, der sie abgöttisch zu lieben vorgibt, bittet die Anwältin Maître Susane darum, seine Frau zu verteidigen. Die Bemühungen der Anwältin werden durch Erinnerungen torpediert, die sich auf ihre eigene Kindheit beziehen: Sie kennt diesen Mann, sie war einst mit ihrer Mutter, selbst war sie etwa zehn Jahre alt, Gast in dessen Haus, wo die Mutter in Vertretung den Haushalt führte. Dieser Mann hat sie mit in sein Zimmer genommen und irgendetwas getan – sie ernst genommen, ihr seine Aufmerksamkeit geschenkt, damit ihr Selbstwertgefühl gestärkt – das sie später auf ihren Weg zum Jurastudium und in die Juristerei geführt hat. So zumindest sieht und versteht sie es. Ihr Vater hingegen war immer der Meinung, irgendetwas moralisch Anstößiges sei in jenem Zimmer geschehen. Das Problem ist: Susane ist sich ihrer Erinnerung nicht sicher. Und je mehr sie in ihre Mutter dringt, sich zu erinnern, ob der Name der Familie, bei der sie damals waren, wirklich mit dem ihrer Mandantin übereinstimmt, umso verzweifelter entgleitet die Erinnerung allen Beteiligten. Das führt zu Verwerfungen zwischen Suasane und ihren Eltern, die sie schließlich von sich wegstoßen, eigentlich sich selbst genügen und nicht weiter von den quälenden Erinnerungen und Erinnerungslücken der Tochter behelligt werden wollen.

Diese Haltung spiegelt sich in der der mörderischen Mutter der drei toten Kinder. Sie weigert sich, dies als ein Verbrechen anzusehen, auch wenn ihr klar ist, daß es vor dem Gesetz so gesehen wird. Sie aber ist der Meinung, ihren Kindern etwas gegeben zu haben – den Tod – und damit gleichsam die Apotheose ihre Mutterrolle zu erfüllen. Und auch ihr Gatte, den sie allerdings nicht mehr sehen will, dessen Charakter und Wesen sie nahezu diametral entgegen seiner Selbsteinschätzung beschreibt, kann in ihrem Tun kein Vergehen erkennen, auch aus seiner Sicht hat seine Frau ihre Rolle bis in ein transzendentales Stadium verwirklicht. Der Tod wird so zum absoluten Liebesbeweis, zur absoluten Gabe, die letztendliche Erfüllung des elterlichen Seins.

In einer Nebenhandlung trägt Susane einen subtilen Kampf mit ihrer Haushälterin aus. Die stammt aus Mauritius, möchte gern legalisiert werden, hilft der Anwältin, die sich ehrenamtlich um diese Legalisierung bemüht, aber nicht, an die wesentlichen Papiere zu gelangen. Stattdessen lässt sie Susane ihre Abneigung, ja, eine gewisse Herablassung spüren. Und bemächtigt sich zugleich in einer komplizierten Bewegung Susanes Ex-Freund und dessen Tochter, die sich bei Susane wohl fühlt, nun aber immer häufiger bei der Haushälterin unterkommt. Und niemand nimmt wahr, daß es dem Kind offenbar nicht gut geht.

Diese drei Handlungsstränge werden ununterbrochen aufeinander bezogen, korrespondieren miteinander, ergänzen einander und in gewisser Weise wirken sie wie Kommentierungen der jeweils anderen Aspekte der Gesamthandlung. Viel wird hier gesprochen, doch alles reden bringt scheinbar nichts. Denn es offenbart lediglich, wie wenig diese Menschen voneinander, aber auch über sich selbst eigentlich wissen. NDiaye gelingt es, mit den Mitteln der Literatur von den kleinen Dramen des Lebens, den stillen Revolutionen zu erzählen. Denn in ihrer Geschichte verbirgt sich eine Aufsteigergeschichte, in der sich wiederum die Geschichte einer Scham versteckt. Maître Susane entstammt einer Arbeiterfamilie – die Schule abgeschlossen, ein Studium absolviert zu haben, stellt eine maximale Distanz zu ihren Eltern her. Je mehr sie ihre Mutter zwingen will, sich des Namens jener Leute zu erinnern, bei denen sie damals diesen einen einzigen, für Maître Susane in ihrer Erinnerung so wichtigen Nachmittag vorstellig wurden, desto stärker wird der Widerstand vor allem des Vaters – bis hin zu einem groben Bruch mit der Tochter. Die, so sein Credo, solle sich wieder einkriegen, solle sich besinnen und die Mutter nicht weiter bedrängen.

Es gibt aber weitere kleine Dramen und Geschichten: Sharon, so der Name der Haushälterin, scheint ein Spiel zu spielen. Dieses Spiel treibt Maître Susane nach einem Zusammenbruch bis nach Mauritius, wo sie selbst die fehlenden Urkunden beibringen will. Doch muß sie hier eine ganz andere Sharon kennenlernen, nämlich die aus den Erzählungen ihres Bruders, eines ehrlichen Mannes, der mit seiner Frau einen kleinen Laden betreibt und der Schwester unterstellt, mit ihrem Weggang die eigene soziale Grenze nicht nur überwunden zu haben, sondern herrschende Verhältnisse auf eine unangemessene Art und Weise in Frage zu stellen. Ein weiteres Aufsteigerdrama, in welchem sich Maître Susanes Schicksal zu spiegeln scheint. Und auch deren Liebe oder zumindest innige Zuneigung zu Rudy, ihrem Freund, dessen Tochter Lila Maître Susane wie ein eigenes Kind annimmt, von dem ihre Eltern wiederum überzeugt sind, daß es ihre leibliche Enkelin ist, ist von der eigenen Herkunft geprägt. Denn auch Rudy ist Abkömmling einer Arbeiterfamilie und er und Susane haben einander zielgerichtet erkannt und gefunden, als sie einst gemeinsam in einer Kanzlei anfingen.

NDiaye gelingt es, mit oft nahezu elementar einfachen Mitteln in all diesen Geschichten und Geschichtchen Zweifel zu säen und anzudeuten, daß die Dinge weit weniger klar sind, als sie zu sein scheinen. Ohne daß es je explizit erwähnt wird, scheint Sharon, deren Bruder Ralph heißt, was eine andere ethnische Herkunft markiert, dunkler Hautfarbe zu sein und somit wäre ihre Geschichte eben nicht vergleichbar mit der ihrer Arbeitgeberin. Rudys Verhalten sowohl Maître Susane als auch seiner Tochter gegenüber wirkt indifferent, wir können diesen Menschen nie wirklich einschätzen. Und dadurch, daß Maître Susane ununterbrochen mit ihrer Erinnerung und der Frage nach deren Richtigkeit beschäftigt ist, ist der Leser auch in Bezug auf ihre Figur verunsichert. Und dann sind da die Principaux´, jene mörderischen Eltern, deren Ehe, deren Familienstatus und deren Verhältnis zueinander wir nie wirklich begreifen.

In zwei langen Monologen lässt NDiaye die beiden zu Wort kommen und über sich und übereinander reflektieren, wenn man dieses Sprechen denn als Reflexion akzeptieren will. Das ist sprachlich höchst eigen gelöst. Beide verfallen in ein Sprechen, das verstümmelt scheint, unangemessen der Tatsache, daß wir es hier mit zwei Lehrern zu tun haben. Jeder dieser Monologe ist durch den übermäßigen Gebrauch eines Partikels gekennzeichnet. Die Mutter beginnt jeden Satz mit der Konjunktion „aber“, ihr Gatte nutzt ununterbrochen den Begriff „denn“. Aber und denn, Defensive und Offensive, Rückzug und Zugriff scheinen hier markiert zu werden. Rückzug bei der ihre Kinder mordenden Ehefrau, die offenbar heilfroh ist, von ihrem Mann – im übertragenen Sinne – entbunden zu sein, die den Aufenthalt im Gefängnis geradezu herbeizusehnen scheint; Angriff bei ihrem Gemahl, der das eigene Leben, die eigene Haltung zur Ehe, zur Familie zugleich verteidigt und ununterbrochen in Frage stellt. Das ist literarisch eine gewagte und gelungene Charakterisierung zweier Menschen, die im Grunde den Kontakt zu sich selbst verloren haben.

NDiaye wagt es, ihr Publikum mit diesen Anrissen, den skizzenhaften Andeutungen und Hinweisen allein zu lassen. Dies ist kein Kriminalroman. Der Leser sollte hier keine Lösungen, gar Auf-Lösungen, erwarten. Vielmehr wird er in ein Geflecht, ein Labyrinth aus Unsicherheiten gestoßen, aus dem weder Maître Susane, noch eben der Leser selbst so einfach wieder herausfinden wird. Vieles klingt hier an, so bspw. das Schreiben von Autoren wie Didier Eribon, von Annie Erneaux, aber auch von Grégoire Delacourt – alles Autoren, die sich literarisch, soziologisch oder in einem seltsamen Gemisch aus beidem mit der Frage nach den sozialen Bedingungen des eigenen Lebens beschäftigen. Damit beschäftigen, wie sie einer sozialen Situation entkommen sind, die ihnen eigentlich sehr klare Lebenswege vorgeschrieben hat und denen sie jeweils durch Bildung, höhere Schulen und Universität entkommen sind und damit immer auch die Entfremdung vom eigenen Milieu hinnehmen mussten. NDiaye fügt dem nun eine rein literarische Bearbeitung hinzu, die sich einerseits jedweder Erklärung – und damit jedweder Psychologisierung – entzieht, dennoch aber die sehr präzise Schilderung einer Zerrüttung liefert.

Gerade in der Tatsache, die Handlungsstränge offen zu lassen, keine Antworten zu liefern, liegt die bleibende Verstörung, die dieser Roman hinterlässt. Wollte man ihn zwingend auf eine Gesellschaft, die französische also, umlegen, dann kommt hier ein tiefer Riss zum Ausdruck. Ein Riss in der Kommunikation, der die einzelnen gesellschaftlichen Teile nicht mehr miteinander in Kontakt treten lässt. Es ist aber, in NDiayes Lesart, auch ein Riss zwischen dem einzelnen, dem Individuum, und der Gesellschaft. Niemand hier spricht wahr, spricht offen, reflektiert wirklich ergebnisoffen. So sind die Lügen, die erzählt werden, in allererster Linie Selbstbetrügereien. Es wird verdrängt, dem man sich nicht stellen mag.

Marie NDiaye hat da ein großartiges, manchmal ein sperriges Stück Literatur produziert, das im besten Sinne die Funktion erfüllt, die Literatur eben auch erfüllen soll: Sie fordert den Leser, sie mutet ihm etwas zu, sie zwingt ihn, eine Haltung einzunehmen und diese zudem ununterbrochen zu reflektieren und zu hinterfragen. Das ist nicht leicht, das ist manchmal schwer zu ertragen und entwickelt doch Spannung und damit einen Sog, der den Lesenden mit sich zieht und wissen lassen will, wohin das alles führt. Und das auch, wenn es letztlich in ein Offenes führt, das niemals zu überwinden oder zu begreifen ist. Ein wenig wie das Leben.

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