LONE STAR

John Sayles erzählt eine Kleinstadtmoritat nach Texas-Art

In dem Gebiet, in welchem Sam Deeds (Chris Cooper) als Sheriff von Rio County seinen Dienst verrichtet, wird auf einem alten Schießstand der Armee ein Skelett gefunden. Offenbar handelt es sich um die Überreste eines Vorgängers von Sam. Charlie Wade (Kris Kristofferson) ist im County und seiner Hauptstadt Frontera eine Legende. Er war das, was die Alten als „Kerl von altem Schrot und Korn“ bezeichnen. Allerdings – auch das ist allgemein bekannt – war Wade ein gewalttätiger, äußerst korrupter Rassist. Er und der damalige Bürgermeister teilten die Geschäfte untereinander auf. Jeder Club, jedes Restaurant, jeder Kleindealer in der Stadt und Umgebung hatte seinen Beitrag in Form von Schutzgeldern zu entrichten.

Sam, der lange weg war und erst vor Kurzem wieder nach Frontera zurückgekehrt ist, versucht aufzuklären, wie Wade gestorben ist und wer ihn – denn er wurde offensichtlich erschossen – getötet haben könnte.

Dabei hat Sam so seine Vermutungen. Nicht zuletzt verdächtigt er seinen Vater Buddy Deeds (Matthew McConaughey), zu dem Sam immer ein gespaltenes Verhältnis hatte. Buddy hatte in der Stadt ebenfalls einen legendären Status, war im Gegensatz zu Wade allseits beliebt und respektiert. Diese Einschätzung bestätigt ihm auch Otis Payne (Ron Canada), Betreiber der einzigen Bar weit und breit, die für Schwarze und von einem Schwarzen geführt wird. Dieses Alleinstellungsmerkmal verdankt Otis nicht zuletzt Buddy, der ihn beschützte, auch vor rassistischen Attacken, andere aber auch mal in ihr Unglück laufen ließ. Im Gegenzug durften bei Otis politische Versammlungen stattfinden und er übernahm die Getränke.

Otis hat ganz eigene Probleme: Es hat einen Zwischenfall in der Bar gegeben, bei dem eine Waffe zum Einsatz kam. Es handelte sich bei den Beteiligten um Soldaten einer nahegelegenen Basis der Armee. Der kürzlich eingetroffene neue Kommandeur der Basis ist Delmore Payne (Joe Morton), Otis´ Sohn.

Die beiden haben seit Jahren keinen Kontakt mehr, da Delmore seinem Vater vorwirft, Frau und Sohn völlig vernachlässigt zu haben. Er selbst – ebenfalls Familienvater – versucht, seinem Sohn Chet (Eddie Robinson) ein zwar strenger, aber gerechter Vater zu sein. Dabei bemerkt er allerdings nicht, daß er auf anderer Ebene Gefahr läuft, seinerseits den Kontakt zu Chet zu verlieren. Denn er sieht kaum, welche Talente der Junge besitzt. Erschwerend kommt hinzu, daß Chet sich gelegentlich bei seinem Großvater in dessen Bar herumtreibt.

Eines Tages tritt Delmore seinem Vater in der Bar entgegen, da er sich auch als Vater seiner Einheit sieht und sich ein eigenes Bild von den Vorkommnissen jener Nacht des Zwischenfalls machen will. Es kommt zu einer Aussprache zwischen Vater und Sohn, die aber zu keinem konstruktiven Ergebnis führt.

Derweil kommt Sam mit seinen Ermittlungen nicht recht voran. Auffällig ist, daß niemanden so recht zu interessieren scheint, wer der Tote draußen in der Wüste sein könnte. Er befragt mehrfach Hollis Pogue (Clifton James), seit Jahrzehnten Bürgermeister der Stadt. Einst war er an der Seite von Buddy Deputy unter Charlie Wade. Obwohl Sam die Geschichten um Wade alle kennt, lässt er sich von Hollis noch einmal den Abend schildern, an dem Wade einst verschwand und danach nie mehr gesehen wurde.

Hollis erinnert Sam daran, daß für seinen kürzlich verstorbenen Vater demnächst ein Denkmal eingeweiht wird und er doch bitte eine Rede halten solle. Es wird deutlich, daß Sam den Wunsch nur ungern erfüllt. Hollis und einige seiner Kumpel geben ihm zu verstehen, daß er eben nun einmal der Sohn einer Legende sei, an die er selbstredend niemals heranreichen wird, und somit ein Grußwort von ihm erwartet werde. Nicht zuletzt Mercedes Cruz (Miriam Colón), Vorsitzende der Handelsvereinigung und eine der Vorkämpferinnen für die Statue, fordere dies.

Sams Verhältnis zu Mercedes ist gespalten. In der Highschool ging er mehrfach mit deren Tochter Pilar (Elizabeth Peña) aus. Sowohl Mercedes als auch Buddy gingen mit eiserner Hand gegen diese Verbindung vor. Nun hat Sam Pilar wiedergetroffen – und sich erneut in sie verliebt.

Delmore Payne versucht derweil herauszufinden, was in der Bar wirklich geschehen ist. Dabei wird er mehrfach mit einer jungen Soldatin konfrontiert, die an jenem Abend dabei war. Sie ist offenbar nicht wirklich in der Lage, den Anforderungen des Dienstes gerecht zu werden. Doch in ihrer Naivität und ihrem unbedingten Glauben an die Armee und ihre Möglichkeiten dort, gewinnt sie Delmores Sympathie. Und zugleich lehrt ihn der Umgang mit der Truppe, daß die Dinge eben meist nicht so einfach, so schwarz-weiß, sind, wie er sie gerne hat. Das bringt ihn dazu, auch Chet mit anderen Augen zu sehen. Und schließlich sucht er auch die Nähe zu Otis. Nur Sam kann er nicht wirklich weiterhelfen. Dessen Ermittlungen haben ihn nämlich auch auf die Armybase geführt, da es Soldaten waren, die das Skelett gefunden haben.

Ein befreundeter Texas Ranger, den Sam um Hilfe bittet, kramt die alten Akten zu Charlie Wade aus und so erfährt Sam nach und nach, wie übel Wade es einst wirklich getrieben hat, daß er u.a. den jungen Otis mehrfach bedrohte, weil der sich nicht willfährig genug zeigte. Und es kommt heraus, daß er gelegentlich Mexikaner unter falschen Vorwänden anhielt, sie in Fallen lockte und erschoß. Hollls war Zeuge einer solchen Tat, bei der Mercedes´ Ehemann Eladio ermordet wurde.

Als Hollis Sam schließlich erzählt, wie jene Nacht wirklich verlaufen sein soll, in der Wade mit annähernd 10.000 Dollar aus der Stadtkasse verschwand, erfährt dieser, daß es sein Vater Buddy war, der sich Wade entgegenstellte und offen vor Zeugen erklärte, er mache bei den korrupten Geschäften des Chiefs nicht mehr mit. Für Sam verdichten sich die Hinweise, daß sein Vater der Mörder des alten Sheriffs gewesen ist.

Durch die Ermittlungen erfährt Sam aber auch allerhand über seinen Vater und dessen Machenschaften. Der nämlich wusste, wie er politischen Einfluß gewinnen konnte – und half Hollis vom Deputy-Posten auf den des Bürgermeisters zu wechseln. Es gelang ihnen, bestimmte Projekte durchzusetzen, bei denen sie begünstigt waren. Um den Deal perfekt zu machen, musste Buddy allerdings zunächst Anwohner vertreiben. Und auch vor Banalitäten scheute Buddy nicht zurück. So ließ er Arrest-Häftlinge in seinem Privathaus arbeiten.

Vor allem aber erfährt Sam, daß sein Vater eine Geliebte hatte. Er fährt nach San Antonio, wo seine Ex-Frau mit ihrem neuen Ehemann lebt. Offenbar schwer verstört, plappert Bunny (Frances McDermond) von den alten Zeiten, lobt immer wieder enthusiastisch einzelne Football-Spieler, die sie im Fernsehen betrachtet, und will dich auch immer wieder von Sam wissen, ob er sie vermisse.

Sam findet hier in seinen noch vorhandenen Sachen alte Briefe seines Vaters. Liebesbriefe. Und aus diesen geht hervor, daß es wohl Mercedes war, mit der sein Vater über Jahre verbandelt war. Daraus ergeben sich für Sam Schlüsse, die alles andere als angenehm sind, denn er und Pilar waren intim miteinander. Sam versteht nun die Radikalität, mit der sein Vater und Mercedes einst die Beziehung zwischen ihm und Pilar unterbanden.

Zurück in Frontera findet Sam Otis und Hollis in der Bar. Er stellt sie zur Rede, denn er will nun wissen, was damals wirklich geschehen ist. Otis beginnt zu erzählen: Wie es sich abgespielt hatte an jenem Abend, als Buddy Wade die Gefolgschaft verweigert hatte; wie Wade viel früher, als Otis dies erwartet habe, zurückkehrte und abkassieren wollte; wie er zufällig dabei entdeckte, daß im Hinterzimmer der Bar Glücksspiel stattfand und in Rage geriet, weil er nicht beteiligt wurde; wie Wade die Waffe auf Otis richtete und in genau dem Moment Buddy die Bar betrat – und Zeuge wurde, wie Hollis Wade erschoß, um den Mord an Otis zu verhindern. Dieses letzte Detail erzählt Hollis mit brüchiger Stimme. Dann hätten sie zu dritt die Leiche hinaus auf den alten Schießstand gefahren und dort verscharrt. Die 10.000 Dollar, mit denen Wade angeblich abgehauen sein sollte, gaben sie Mercedes als eine Art Tribut für den Verlust ihres Mannes. Dies war das Startkapital für ihr Café, das sie mit harter Hand führt.

Nach kurzer Bedenkzeit erklärt Sam, daß der ganze Fall ad acta gelegt werde. Es bliebe eben ein ungelöstes Rätsel der Vergangenheit, was sich im Zusammenhang mit dem Fund des Skeletts an Fragen stelle. Hollis gibt zu bedenken, daß, sollte herauskommen, daß es sich bei dem Fund um das Skelett von Charlie Wade handelt, viele, die sich noch an die alten Geschichten erinnern könnten, Buddy im Verdacht haben werden, Wade erschossen zu haben, um selbst auf den Posten des Sheriffs zu gelangen. Viele seien Zeugen gewesen, als Buddy sich Wade gegenüber verweigerte und dieser dem Jüngeren daraufhin gedroht habe. Sam erklärt, die Legende seines Vaters sei doch so groß, wie das Denkmal bewiese, die halte solch einen Kratzer schon aus.

Sam trifft sich mit Pilar. Er zeigt ihr ein Foto, daß Buddy und Mercedes Arm in Arm zeigt. Pilar ist zunächst geschockt, als sie begreift, daß Sams Vater wohl auch der ihre ist. Doch dann erklärt sie, daß sie nicht wieder verzichten wolle – ihr Mann ist einige Zeit zuvor verstorben – und da sie keine Kinder mehr bekommen könne, wolle sie die Beziehung zu Sam nicht aufgeben.

John Sayles kann zu einer lang als aussterbend geltenden Spezies amerikanischer Film-Künstler gerechnet werden, die im Nachklang der Jahre des Aufbruchs im ‚New Hollywood Cinema‘ der späten 60er und der 70er Jahre darum bemüht war, ein unabhängiges Kino zu produzieren, jenseits der Machtstrukturen und Mechanismen Hollywoods.

Sayles war ein Seiteneinsteiger, hatte Psychologie studiert, früh einen Roman veröffentlicht und verdingte sich dann in Roger Cormans ebenfalls unabhängig produzierender Firma New World Pictures, wo er das Handwerk des Filmemachens von Grund auf lernte. Vor allem als sogenannter Script-Doctor konnte Sayles sich erste Meriten erwerben, weshalb sein Name in den Credits ganz unterschiedlicher Produktionen auftaucht. Er verfasste maßgeblich das Drehbuch zu Joe Dantes Debut PIRANHAS (1978) und war auch an einschlägigen Genre-Filmen wie ALLIGATOR (1980) oder THE HOWLING (1981) beteiligt. 1980 schließlich gelang es ihm, einen ersten eigenen Film zu drehen. Langsam – und erstaunlicherweise in einem der kommerziellsten Jahrzehnte, die Hollywood je erlebt hat, den 80ern – baute Sayles sich eine Reputation auf und mit MATEWAN (1987), seinem fünften eigenen Langfilm, gelang ihm erstmals nicht nur ein Kritikererfolg, sondern er wurde auch an den Kinokassen wahrgenommen. Obwohl Sayles weiterhin auch als Drehbuchautor für andere Produktionen arbeitete, gelegentlich auch als Schauspieler, blieb er sich und seinen Anliegen treu und feierte als unabhängiger Filmemacher, der den Status des klassischen Auteurs erfüllte, indem er Drehbuch, Regie und Produktion in die eigenen Hände nahm, in den 90ern seine größten Erfolge.

Die Bandbreite seiner Themen fasziniert, auch wenn man grundlegend festhalten kann, daß Sayles immer dann zu sich selbst zu kommen scheint, wenn er sich auf oft komplexe und vielschichtige Art bestimmter Gruppen annimmt – Freunden, den Bewohnern einer Kleinstadt, der Familie. LONE STAR (1996) zeugt davon, zeigt aber auch, daß Sayles es zudem versteht, das Genrekino zu bedienen. Denn dies ist nicht nur ein Cop-Thriller, sondern eindeutig auch ein Neo-Western. Angesiedelt in einem Kaff in Texas nahe der mexikanischen Grenze, entfaltet sich anhand des Fundes eines Skeletts ein Familiendrama, genauer gesagt ein klassisches Vater-Sohn-Drama, aber auch das Portrait einer Kleinstadt, die durch Korruption, Vetternwirtschaft und ein konservativ-patriarchales Gesellschaftsbild geprägt ist. Bis in die Nebenrollen mit hervorragenden Schauspielern besetzt – u.a. Frances McDormand, Matthew McConaughey und Kris Kristofferson – kann Sayles oft anhand einer einzigen Szene ganze Lebensdramen und Lebenslügen aufdecken und dem Zuschauer verständlich machen. Auf zwei Zeitebenen, die – auch filmisch – geschickt miteinander verwoben sind, erzählt der Film von den Ermittlungen des von Chris Cooper gespielten Sheriff Sam Deeds, der, neben all den alltäglichen Kleinigkeiten, die für einen Kleinstadtsheriff anfallen und die er zu erledigen hat, darum bemüht ist, aufzuklären, wer der Tote, der da wohl an die vierzig Jahre im Wüstensand verscharrt gelegen hat, eigentlich war – und wer ihn getötet haben könnte. Denn schnell stellt sich heraus, daß der Mann wohl keines natürlichen Todes gestorben ist. Zudem wird Deeds schnell klar, daß es sich bei dem Toten wohl um die Überreste von Sheriff Charlie Wade handeln muß, der einst sehr plötzlich aus Rio County, wo die Geschichte angesiedelt ist, verschwand. Und auch, wenn es Deeds nicht passt, wird er an allen Ecken und Enden mit seinem mittlerweile verstorbenen Vater Buddy konfrontiert, der nach Wade das Amt des Sheriffs bekleidete und unter dessen legendärem Status Sam bis heute leidet. Denn so sehr er sich auch bemüht, die Ältesten der Stadt, allen voran Bürgermeister Hollis Pogue, lassen ihn immer wieder spüren, daß Sam niemals an seinen Vater heranreichen wird.

Ruhig, in einem eher gemächlichen Rhythmus und ohne jedwede Aufregung, womit er das Tempo einer amerikanischen Kleinstadt recht gut wiedergibt, auch weitestgehend ohne Action, lässt Sayles Sam Deeds seine Kreise ziehen und dabei seinen lang schon schwelenden Vaterkomplex aufarbeiten. Dabei spiegelt sich die Konstellation in allerhand Quer- und Kreuzverbindungen und -beziehungen, in welchen immer wieder Söhne mit Vätern konfrontiert sind, die entweder Geheimnisse mit sich tragen oder aber versuchen, Prinzipien zu folgen, ohne dabei wahrzunehmen, was die Söhne selbst eigentlich wollen. Unter anderem gibt es da mit Otis Payne den einzigen schwarzen Besitzer einer Bar in der Stadt, der in der Aufklärung des Falles eine entscheidende Rolle spielen wird. Dessen Sohn Delmore, der sich von Otis zeitlebens zurückgesetzt fühlte, kehrt nach Jahren der Abwesenheit und auch des Kontaktabbruchs in die Gegend zurück, weil er im nahgelegenen Army-Stützpunkt als Colonel eine Einheit führt. Delmore möchte den Vater am liebsten auch zukünftig meiden, ist aber wegen eines Zwischenfalls in Otis´ Bar, an dem einige seiner Soldaten beteiligt waren, gezwungen, den Kontakt herzustellen. Und je mehr sich Otis und Delmore wieder annähern, wenn auch nur über Umwege und neuerlichen Streit, begreift der jüngere Mann, daß er dabei ist, die Fehler seines Vaters gegenüber dem eigenen Sohn Chet zu wiederholen. Und möglicherweise ebenfalls den Kontakt zu ihm zu verlieren, wie es einst Otis mit Delmore erging.

Sayles gelingt es, komplizierte, oft ambivalente Charaktere einzuführen, deren Abgründe und ihre meist zerschossenen Träume er – fast literarisch – oft anhand eines einzigen Dialogs oder einer einzigen Szene darzustellen und dem Betrachter verständlich zu machen versteht. Vor allem jener Moment, in dem Sam Deeds seine Ex-Frau Bunny, gespielt von der großartigen Frances McDormand, besucht und anhand einiger weniger Sätze, die die beiden miteinander austauschen, deutlich wird, welches Drama diese Frau, die den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt und Football-Spiele betrachtet, umgibt. Die Trauer, die verlorenen Träume, die Angst vor einer Zukunft, die schon vorbei ist – all das ist spürbar, ohne daß es explizit erwähnt oder gezeigt werden müsste.

Da zeigt sich die ganze Kunst des Drehbuchschreibens, die sich auch und gerade schon im klassischen Hollywood zu voller Blüte entfaltet hat. Eben weil er literarisch geprägt und gebildet ist, weil er die Widersprüchlichkeit des Menschen versteht, begreift, daß hinter einer vermeintlichen Wahrheit meist mehr Fragen als Antworten stecken, kann Sayles so authentische und glaubwürdige Figuren auf die Leinwand bringen. Denn es sind eben nicht nur die innerfamiliären Generationenkonflikte, es sind nicht nur die klassischen Konflikte zwischen Vätern und Söhnen, die hier verhandelt werden, sondern anhand dieser und über diese hinausreichend, erzählt Sayles eben auch davon, wie Rassismus und Korruption, wie der spezielle Texas-Stil, die Dinge auf eigene Art und Weise zu regeln, eine Gesellschaft prägen. Zunächst im Kleinen, doch schaut man genau hin, kann man hier schon erkennen, wie es diesem Regisseur eben gelingt, hinter der Maske des Americana zu blicken, jener gelegentlich betulichen Art, das amerikanische Alltagsleben abzubilden, die oft und gern gerade im Genrekino bedient wird (nicht zuletzt im Horrorfilm, wie etliche Verfilmungen des Großmeisters der Gattung, Stephen King, beweisen). Doch auch in größeren Zusammenhängen, im Gesamtgesellschaftlichen, begreift man, was die USA auseinandertreibt, was diese Gesellschaft im Kern zu vergiften droht: Gewalt.

Wie konkret diese Gewalt ist, zeigen Rückblenden davon, wie Charlie Wade in den 50er Jahren seinen Willen in Rio County durchzusetzen pflegte. Mehrfach wird erwähnt, daß er Männer hinterrücks erschossen habe – und da so offen darüber gesprochen wird, ist davon auszugehen, daß jeder In der Stadt und Umgebung wusste, mit wem man es zu tun hatte. Und die Bilder der Rückblenden zeigen „objektiv“, daß Wade offensichtlich nie Skrupel hatte, die Schwächsten – also Schwarze, Mexikaner oder Hispanics – zu töten. Mal aus Kalkül, mal, um ein Zeichen zu setzen, damit niemand auf die Idee kommt, irgendetwas in Rio County auf eigene Rechnung zu unternehmen. Manchmal aber offensichtlich auch einfach nur aus Spaß an Sadismus und Gewalt. Allerdings war Charlie Wade eben auch ein Kerl von rechtem Schrot und Korn, einer der Alten, die die Dinge noch regelten, wie die Dinge in Texas eben seit jeher geregelt wurden. Daraus erschließt sich das strukturelle Element der Gewalt. Diese ist inhärent rassistisch und beides – Gewalt und Rassismus – sind institutionell. Sam Deeds seinerseits, der ohnehin ein gespaltenes, gestörtes Verhältnis zu seinem Vater, dem Nachfolger und, wie sich herausstellt, wohl auch dem Mörder von Charlie Wade, hatte, muß lernen, daß Gewalt und Rassismus mit dem Verschwinden – also dem Tod – Charlie Wades keinesfalls endeten, sondern lediglich das Gesicht verändert haben. Die Korruption wiederum wurde von Sams Vater lediglich auf eine andere, zeitkonformere Ebene gehoben.

Sayles geht allerdings weiter. Indem er ein Drama von Faulkner´schen Ausmaßen andeutet – schwer nachzuvollziehen, wer da mit wem Liebschaften und Tändeleien, wer von wem geschäftlich und emotional abhängig war; es ist eine Vielzahl mal mehr, mal weniger miteinander verwobener Nebenhandlungen – kann er auch darstellen, wie der einzelne korrumpierbar wird, für ein wenig Zuneigung, ein wenig Unterstützung, Prinzipien aufzugeben bereit ist. Und genau so, daran lässt LONE STAR keinen Zweifel, funktioniert ein System aus Fordern, Geben und Nehmen, ein System des „eine Hand wäscht die andere“. Wie weit das führt, zeigt die Figur der Mercedes Cruz, eine Mexikanerin, die mit strengem Regiment ein Café in der Stadt führt. Sie ist amerikanischer als jeder Amerikaner, verlangt von ihren – meist mexikanisch-stämmigen – Angestellten, ausschließlich Englisch zu sprechen und ruft ohne Mitleid die Border Police, wenn sie illegale Einwanderer durch ihren Garten huschen sieht. Daß sie selbst einst über den Fluß kam, eine Illegale war, angewiesen auf die Hilfsbereitschaft und Güte anderer, fällt ihr allerdings gerade noch rechtzeitig ein.

Sayles baut allerhand versöhnliche Wendungen in seine Story ein, die den Zuschauer sich auf vermeintlich sicheren Grund wähnen lassen und erst bei genauerer Betrachtung und einem zweiten Blick Untiefen aufweisen. Denn obwohl sich Mercedes ihrer eigenen Geschichte entsinnt, obwohl Otis und Hollis schließlich bereit sind, Sam die Wahrheit über die Nacht, in der Charlie Wade verschwand, zu erzählen und obwohl sich die Geschichte und die Geschichten, die Sam im Laufe seiner Ermittlungen nach und nach freilegt und die auch ihn persönlich in emotionale Wirrnis stürzen, für einige – oder vermeintlich alle – Beteiligten zur allgemeinen Zufriedenheit entwickeln und auflösen, liegt in dieser Lösung doch schon wieder die nächste Ebene jener korrupten Strukturen, die Sam eben erst ent-deckt hatte. Denn auch, wenn Charlie Wade ein Krimineller, ein Rassist und Mörder gewesen ist, so ist es dennoch Unrecht, seinen Mörder ungestraft davonkommen zu lassen, nur weil man ihn mag und er – vermeintlich – das Richtige tat, als er auf den Mann geschossen hatte.

So bleibt Sam Deeds am Ende nur, seiner wieder entdeckten Jugendliebe – der Tochter von Mercedes Cruz – mitzuteilen, warum ihre Liebe schlichtweg nicht funktionieren kann. Oder darf. Denn eine Erkenntnis seiner Recherchen ist die, daß alle, die an den Entwicklungen beteiligt oder von ihnen betroffen waren, familiär viel enger verbunden sind, als er sich dies je hätte träumen lassen. Daß sein Vater und Mercedes Cruz so erbittert gegen die Verbindung von Sam und Pilar Cruz gewesen sind, entpuppt sich so auch weniger als rassistisch motiviert, denn als ein ganz pragmatisch begründetes No-Go. Und doch bleibt eben die Bitternis darüber, jahrzehntelang belogen worden zu sein, um unter der Decke zu halten, was in einer Südstaatenstadt der 50er, 60er und auch der 70er Jahre nicht sein durfte, niemals akzeptiert worden wäre: Emotionale oder gar erotische Verbindungen zwischen Weißen und Mexikanern. Erst recht nicht, wenn diese Verbindungen auch noch außerehelich waren.

Was schlußendlich anmutet wie eine hübsche Südstaatenanekdote über einen schon im Mythos angesiedelten Sheriff, der eines gewaltsamen Todes starb, was sich in Wohlgefallen aufzulösen scheint, wie im klassischen Western, ist in Wirklichkeit eine bittere Moritat über Lügen und Unwahrheiten, darüber, daß die Legende oft die besseren Geschichten erzählt, die dahinter liegende Wirklichkeit allerdings Leben über Generationen hinweg beeinflussen kann und in den allermeisten Fällen verbrannte Erde – und verbrannte Herzen – hinterlässt.

Erzählt wird das in fast ausgewaschenen Bildern, die die Hitze der texanischen Ebenen beschwören. Unterlegt mit einer interessanten Mischung aus Tex-Mex, Wüsten-Blues und Mariachi – ein Soundtrack, der den Zuschauer oft in Sicherheit wiegt, in ein wenig auf die falsche Fährte führt – gleitet der Film dahin wie eine Ballade. Und dekonstruiert doch all jene Erzählungen des Westens, die uns in Filmen, in Romanen oder TV-Serien immer wieder begeistern. LONE STAR wirkt nach, entfaltet diese Wirkung vielleicht erst mit der Zeit, wenn man das Kino längst wieder verlassen hat und langsam erst begreift, welche Abgründe sich in dieser scheinbar mit Happyend versehene Geschichte in Wirklichkeit auftun. Amerikanisches Kino at its best.

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