DIE AMERIKANISCHE NACHT/NIGHT FILM

Auf den Spuren eines wundersamen und geheimnisumwitterten Regisseurs

Ja, es ist so eine Sache mit den Wunderkindern. Da legt man ein fulminantes Debut vor, läßt es so richtig krachen, alles stimmt – Personal, Handlung, Kniffe und Drehs und am Ende auch der Umfang von über 700 Seiten – und dann muß man das mit einem Nachfolger bestätigen, der hält, was das Debut versprach. Einige hauen irgendwas raus, damit sie es hinter sich haben, einigen wenigen gelingt es, den Vorgänger zu toppen und manche lassen sich einfach sehr viel Zeit, so daß praktisch jedes Buch einem Debut gleicht – bei Donna Tartt kommt einem das ein wenig so vor. Nach allem, was man hört und liest, ist Marisha Pessl erst einmal in eine Schreibblockade gerutscht, nachdem ihr 2006 mit DIE ALLTÄGLICHE PHYSIK DES UNGLÜCKS eben ein solch fulminantes Debut gelungen war. Sie hat die Zeit wohl genutzt, um ihr Studium abzuschließen, jedenfalls hat sie dann irgendwann auch ein neues Buch geschrieben. Und so liegt nun mit NIGHT FILM (DIE AMERIKANSICHE NACHT) der Nachfolger vor. Ihr Debut war in den USA eine Sensation, in Europa wurde ihr vorgeworfen, sie schriebe ab und ergehe sich in postmoderner Zitierwut, womit sie gemeinsam mit Leuten wie Safroer einen neuen Stil in die amerikanische Literatur einbrächte, der – geschult an den Vorbildern Pynchon, DeLillo oder Raymond Carver – aber leider kaum eigenes beizutragen habe. In ihrem Fall muß gesagt sein: Zumindest ein sehr unterhaltsamer und trotz des ausladenden Umfangs gut und schnell lesbarer, außerordentlich spannender Roman ist damals dabei herumgekommen. Ob das nun die große Literatur ist, die uns das Allerneueste über uns selbst verrät, das sei einmal dahingestellt, allerdings – wenn man nur die GANZ GROSSE LITERATUR gelten läßt, wird man unter den (Post)Modernen sowieso nicht viel finden, womit man noch was anfangen kann. Nein, auch Unterhaltung will gekonnt sein. Und es war Pessl damals gelungen, gekonnt eine Coming-of-Age-Geschichte, einen Vater-Tochter-Konflikt zu erzählen, einen Roman, der trotz des allerdings hanebüchenen Endes funktionierte und durch genaue Beobachtung – die neben all den Zitaten nämlich durchaus ebenfalls vorhanden war – eindringlich und spannend geriet.

So kann man von einem etwaigen Nachfolger also zumindest dies erwarten: Unterhaltung auf hohem Niveau. Wenn man dann – noch dazu als Filmfreak – liest, daß es im neuen Buch um einen ominösen Filmregisseur geht, dessen Werk besonders dunkel und bedrohlich sein soll, der seit Jahrzehnten abgetaucht ist und seine aufwendig produzierten Werke nur noch im Internet und ausgesuchten Fangemeinden vorstellt, der von einem Journalisten gesucht wird, weil dessen ganzes Leben einst von diesem Mann zerstört wurde und nun die Tochter des Künstlers Selbstmord begangen hat, nicht, ohne dem Journalisten zuvor genug Material an die Hand zu geben, daß dessen Interesse erneut geweckt wird, dann ist das Interesse an einem solchen Buch natürlich groß. Wenn man das Werk dann in Händen hält und sieht, daß es mit allerhand fingierten Polizeiberichten, Fotos, Internetseiten der Fans des Filmemachers etc., aufgepeppt wurde, ist die Neugierde gleich noch viel größer. Und wie so oft – leider – verpufft diese Neugierde dann nach 250 Seiten, weil sich im Geschehen schlicht nichts tut. So ist es leider, leider auch hier. von den 800 Seiten hätte man gut und gern 300 aus dem Material heraus kürzen können, dann wäre das hier ein wahrscheinlich recht packender Thriller geworden. Der immer noch Schwächen, weil Logiklöcher gehabt hätte. So aber findet sich der Leser eben nach ca. 250 Seiten mitten in einer Schnitzeljagd wieder. Und das ist schlicht ermüdend, irgendwann.

Es begegnen uns der Journalist Scott, dessen Berufsleben quasi ruiniert ist, seit er sich mit dem Regisseur Cordova eingelassen hat, der – einem Thomas Pynchon oder J.D. Salinger gleich, aber in seiner Zurückgezogenheit auf einem riesigen Anwesen auch an Kubrick oder Michael Jackson gemahnend – das Leben eines Phantoms führt. Diesen hatte Scott einst des Kindesmißbrauchs überführen wollen, als ein anonymer Anrufer ihn darauf hinwies, daß auf des Regisseurs Privatanwesen „The Peak“, irgendwo in Neuengland, seltsame „Dinge mit Kindern“ vor sich gingen. Damals scheiterte Scott, wurde in einem Aufsehen erregenden Prozeß wegen übler Nachrede verurteilt und darbt seitdem. Nun hat die Tochter des Regisseurs, Ashley, Selbstmord begangen und mit Hilfe des sich ihm aufdrängenden Hopper, der Ashley einst kannte und liebte, und der etwas durchgeknallten Schauspielschülerin Nora, die er mit einem Job als „Assistentin“ praktisch von der Straße holt, nimmt Scott Witterung auf und die drei begeben sich auf eine schier endlose Odyssee, bei der sie sich erhoffen, die Geheimnisse um Cordova, dessen Filme, Familie und die um das Anwesen „The Peak“ zu lösen. Dabei nähern sie sich schrecklichen Geheimnissen und scheinen der Lösung dennoch kaum näher zu kommen, denn jedes Mal, wenn sich eine Spur als wirklich wesentlich zu erweisen scheint, dreht sich die Spirale der Erkenntnisse eine Umdrehung weiter und alles sieht wieder vollkommen anders aus. Wie in einem Kaleidoskop ändern sich ständig die Perspektiven, die Muster und Schemata dessen, was die drei rausfinden. Nach und nach muß jeder einsehen, daß er – oder sie – auf seine – oder ihre – ganz eigene Art mit Cordova, Ashley und dem Wissen, das sie über diese Personen anhäufen, zurechtkommen sollte. Und vielleicht ist es ja manchmal sogar besser, die Dinge auf sich beruhen zu lassen? Eine Einsicht, die einen Journalisten natürlich nicht befriedigen kann.

Pessl schreibt das wie einen Thriller, einen Kriminalroman: Der Journalist, der sich auf Recherche begibt, natürlich angefeindet und verlacht, dabei investigativ vorgeht, Zeugen abklappert und befragt. Jeder bietet ihm etwas Information, nach und nach setzt sich ein Muster, ein Puzzle zusammen, ergeben sich neue Anhaltspunkte und schließlich – da ist das Handlungsgerüst dann dem Thriller verwandt – machen sich die Helden auf, ebenso verborgene und verwunschene wie verbotene Gebiete zu betreten – sowohl virtuell als auch ganz pragmatisch und physisch. Doch wenn man einen Thriller will, dann gibt es weitaus gekonntere Werke, als dieses hier. Allein die Konstruktion, diese Truppe aus Amateurdetektiven einfach eine Figur in des Regisseurs Leben nach der anderen aufsuchen und diese dann viel und lang erzählen zu lassen, funktioniert nur begrenzt, denn einmal durchschaut, wirkt es eben wirklich einfach wie eine – Konstruktion. Ein Abzählreim. Es dauert nicht lang, da wird dies wirklich – es wurde oben schon angedeutet – zu einer Art Schnitzeljagd: Von A nach B, wieder zurück oder per Umweg über C, ein bisschen Observieren, ein bisschen Rumrätseln, dann kommt der nächste Zufall oder plötzlich ist doch wer bereit zu erzählen, der es eben noch nicht war. Überall liegen kleine Informationen herum, warum Scott und seine Mitstreiter diese bekommen, wer was damit bezwecken will – all dies bleibt etwas zu sehr in der Schwebe. Das alles wirkt selten zwingend, man versteht nie, warum diese Menschen, die den Regisseur vergöttern aber fürchten, mal reden, mal schweigen, warum sie mal so über die Geschehnisse reden und mal ganz anders. Die Bedrohlichkeit des Künstlers wird aufgebaut, bleibt aber doch so abstrakt, daß man sich nicht wirklich um die drei Hauptprotagonisten sorgt. Und wenn die drei dann das Grundstück ihres Objekts der Begierde einem Rollkommando gleich entern, wird es nicht nur immer unglaubwürdiger, sondern was Pessl da versucht – einen zuvor äußerst realistischen Roman, der zwar mit Versatzstücken von Horror-, Grusel- und Geistergeschichten spielt – aber eben auch nur spielt – in ein surreales Werk kippen zu lassen – funktioniert auch einfach nicht. Da werden dann plötzlich Versatzstücke aus ALICE IM WUNDERLAND oder eines Themenparks von Steven Spielberg assoziiert, ohne daß all das je wirklich in einem glaubwürdigen Ganzen aufginge. Ständig deuten sich Möglichkeiten an – von Satanismus bis Pädophilie – und spätestens ab diesen Momenten des Textes hat man den Eindruck, der Autorin sind schlicht die Ideen ausgegangen, bzw. sie wusste mit keiner so richtig etwas anzufangen, noch hätte sie sich mal entscheiden können. Erst zum Schluß hin, auf den letzten 150, 200 Seiten nimmt das alles noch einmal Fahrt auf und wird nicht nur erneut spannend, sondern auch mysteriös. Und schließlich traut Pessl sich auch etwas, wenn sie das Ende des Romans so konstruiert, wie sie es tut.

Was einem bleibt, nach der Lektüre, ist ein seltsamer Hybrid aus Krimi, Thriller, Schauer- und einem Freundschaftsroman, aber auch ein erneutes Zitatenschätzlein, das momentweise an Filme wie BLAIR WITCH PROJECT oder THE EXORCIST denken läßt, dessen Figuren wie Karikaturen von Stanley Kubrick oder Salinger wirken, dessen literarische Vorbilder offenbar Werke wie Theodore Roszaks FLICKERS oder James Robert Bakers BOY WONDER waren, Bücher also, die sich ebenfalls um maßlose Filmemacher, Gier und die Frage nach Kunst und Leben und wann das Leben die Kunst imitiert, beschäftigen. Und ganz leise schleichen sich schließlich sogar jene Zweifel ein, die man immer hat, wenn Literatur in „ungewöhnlicher“ Aufmachung daherkommt – hier sind es all die eingeschobenen Fotos und Internetseiten und Polizeiprotokolle, die dem Buch einen gewissen dokumentarischen, realistischen Touch geben sollen – , daß da nämlich schlicht auch inhaltliche Schwächen überdeckt werden. Und in Folge dieser Überlegung fällt einem dann auf, daß da auch ein recht großes Potential in dieser Geschichte und Konstellation einfach verschenkt wurde: Vielleicht wäre es viel interessanter gewesen, diesen drei so unterschiedlichen Rechercheuren – Scott, Nora und Hopper – zu folgen, mehr über diese Menschen und ihre beschädigten Leben zu erfahren. Vielleicht wären die REALEN Leben dieser Personen/Figuren viel spannender gewesen, als die irrealen Leben, die ein Meisterregisseur sich ausgedacht, die er manipuliert und letztlich auch gestohlen oder zerstört hat? Anlagen und Hinweise dazu gibt es genug: Sei es Noras Geschichte, sei es ein nur am Rande vorkommendes Drama um Scott, dessen Exfrau und das gemeinsame Kind, seien es die unzähligen Menschen und deren Leben, die den dreien während ihrer Schnitzeljagd begegnen – überall Andeutungen, Anrisse für interessante Figuren, die aber nie ausgereizt werden, deren Aussagen, deren Geschichten immer nur solange im Fokus bleiben, wie sie der Geschichte um Cordova und Ashley nutzen. Die aber oft viel interessanter anmuten, als die Leben eines egozentrischen Künstlers und seiner überkandidelte Tochter.

Marisha Pessl hat einen voluminösen, definitiv zu langen Roman vorgelegt, der auf 500 Seiten gut funktioniert und spannend ist, der aber derart Längen und in diesen Längen dann derartige Logiklöcher aufweist, daß man schon ein gerüttelt Maß an Wohlwollen braucht, um das alles bis zum Schluß durchzuhalten und auch zu glauben. Es lässt sich aber nicht bestreiten, daß das alles im Endeffekt dennoch unterhaltsam ist.

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