BÜRGERKRIEGE. WARUM IMMER MEHR STAATEN AM ABGRUND STEHEN/HOW CIVIL WARS START. AND HOW TO STOP THEM
Ein - wenn nicht das - Buch zur Stunde (Stand Ende Januar 2023)
Bürgerkrieg? In Europa? Gar in Deutschland? Undenkbar! Denkt man. Und liest dann Barbara F. Walters Studie BÜRGERKRIEGE. WARUM IMMER MEHR STAATEN AM ABGRUND STEHEN (HOW CIVIL WARS START. AND HOW TO STOP THEM, erschienen 2022; Dt. 2023) um zu lernen, daß selbst das Jahrzehnte, ja Jahrhunderte lang als leuchtendes Beispiel einer modernen Demokratie geltende Land der westlichen Hemisphäre – die USA – durchaus Gefahr läuft, erneut in einem Bürgerkrieg zu versinken. Nur wird dieser Bürgerkrieg anders aussehen, als jener Sezessionskrieg zwischen 1861 und 1865, als Armeen auf Schlachtfeldern aufzogen und in geregelten Formationen aufeinander zu marschierten und sich gegenseitig massakrierten. Der – besser: die – neuen Bürgerkrieg(e) werden schleichend beginnen, von Terror und ethnischen Säuberungen und anhaltender aber schwer fassbarer Gewalt geprägt sein.
Barbara F. Walter lehrt als Professorin Internationale Beziehungen an der Universität von Kalifornien in San Diego, doch ist sie ebenfalls Mitglied in diversen Regierungskommissionen zu Fragen von politischer Gewalt, internationaler Instabilität und berät in dieser Funktion auch die CIA hinsichtlich der Frage, wann und wo Bürgerkriege ausbrechen könnten. Sie hat, gemeinsam mit etlichen Kollegen, Tausende Daten zur Frage von Bürgerkriegen der vergangenen 200 Jahre gesammelt und ein gut funktionierendes Schema erstellt, welches erlaubt, Prognosen hinsichtlich der Instabilität von Ländern zu stellen.
Die vielleicht erstaunlichste Erkenntnis, die sie dabei gewonnen hat, ist der Zeitpunkt, an welchem Demokratien gefährdet sind. Denn es sind weder die gefestigten Demokratien, die auf ihrer Skala eine +8 bis +10-Wertung erlangen, und es sind auch nicht jene Staaten, in denen ein Diktator oder eine Partei die Macht fest in Händen hält – also gefestigte Diktaturen wie Nordkorea – sondern viel mehr jene Demokratien, die entweder noch nicht oder aber nicht mehr so gefestigt sind, daß sie unbedingt überlebensfähig wären. Dieses Zwischenstadium nennt Walter Anokratie. Keine nach westlichen Maßstäben funktionierende Demokratie mehr, aber auch noch keine Autokratie oder gar Diktatur. Es gibt scheinbar gefestigte Demokratien, die sich schleichend in eine Anokratie verwandeln – die USA selbst sind da zu nennen, aber auch europäische Länder wie Ungarn und Polen – , es gibt aber auch Länder, die den oft mühsamen Weg in eine Demokratie wagen und dabei zu schnell vorgehen, wodurch sie die Bürger/Bevölkerung oftmals überfordern und eine feindliche Einstellung gegenüber der neuen Staatsform fördern. Etliche afrikanische Länder dienen Walter hier als Beispiel.
Was aber fördert die Entwicklung hin zu Anokratien? Es sind in Walters Augen die Bildung von Faktionen und die sozialen Medien, die die Entwicklungen in Gang setzen und dann beschleunigen. Faktionen – also organisierte Untergruppen innerhalb von Parteien, aber auch Gesellschaften; keineswegs mit den Fraktionen in einem Parlament zu verwechseln – bilden sich dort, wo sich einzelne Gruppen stark benachteiligt fühlen oder aber um Privilegien fürchten, die sie bisher genossen haben. Im 21. Jahrhundert bilden sich Faktionen wieder entlang nationalistischer, ethnischer und religiöser Grenzen, weniger, wie noch im 20. Jahrhundert, entlang ökonomischer oder ideologischer Grenzen (wobei die Begriffe sicherlich schwammig sind und an den Rändern diffundieren, sich ergänzen, manchmal aufheben). Beste Beispiele dafür sind vor allem die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, die so wahrscheinlich niemand für möglich hielt, der das Land in den 70er Jahren unter Tito und auch in den 80ern, nach dem Tod des Staatsführers, als Urlaubs- und Reiseland erlebt hatte. Und doch brachen sowohl nationalistische, als auch ethnische Gräben auf, zunächst zwischen Serben und Kroaten, später kamen religiöse Klüfte hinzu, als die bosnischen Muslime ins Blickfeld gerieten.
Walter gibt viele, viele Beispiele für die Entwicklungen von Bürgerkriegen vor allem nach 1945. Wie sie teils genutzt wurden – Vietnam ist hier sicherlich das prägendste Beispiel dafür – um Stellvertreterkriege des Kalten Kriegs zu führen; wie sie entstanden und sich ausbreiteten (Myanmar, Syrien, Irak); daß sie teils durchaus von staatlichen Stellen aus gewollt und gefüttert wurden (Philippinen; Teile von Indien nach der Unabhängigkeit 1947). Walter kann – in einem übrigens hervorragenden Apparat mit Quellenangaben, die ihre Schlüsse belegen und gut nachvollziehbar machen – beschreiben und nachweisen, wie interessierte Faktionen aber auch in der Lage sind, sich gewisse Vorurteile zunutze zu machen (Hamas in Palästina) ohne unbedingt echte Überzeugungen zu vertreten jenseits des Fokus auf einen eindeutigen Feind (in diesem Fall Israel).
Walter tut gut daran, einen bestimmten Namen sehr, sehr lange aus ihren Beschreibungen auszulassen, da der Leser mit zunehmenden Beschreibungen durch die acht Kapitel des Buches ganz von selbst auf die Zwangsläufigkeit stößt, die sich hier ergibt. Es ist der Name Donald Trump, der als 45. Präsident die Vereinigten Staaten sicherlich so nah an bürgerkriegsähnliche Zustände brachte, wie nichts und niemand sonst seit den Schüssen auf Fort Sumter am 12. April 1861, die den Ausbruch des Sezessionskriegs markierten. Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 stellte eine deutlich sichtbare bürgerkriegsähnliche Handlung dar, die einem Staatsstreich zumindest nahe kam. Walter entwickelt von hier aus ihre Aussichten auf einen Bürgerkrieg in den USA, die die letzten beiden Kapitel ihres Buchs dominieren. Hier entwickelt sie auch Szenarien, wie ein „moderner“ Bürgerkrieg sich entwickeln könnte. Eben nicht mit aufeinander zueilenden Armeen, die sich in offenen Feldschlachten gegenüberstehen, sondern als – es wurde eingangs bereits erwähnt – eine nicht abreißenden Folge von Terroranschlägen, lokalen Auseinandersetzungen zwischen Milizen und Ordnungskräften des Staates (soweit diese nicht unterwandert sind und zu den Milizen überlaufen) und Angriffen auf die Infrastruktur. Man kann diese Muster bereits erkennen: Den Bombenanschlag auf das Murrah-Federal-Building in Oklahoma City 1995 betrachtet Walter als einen Vorläufer und ein frühes Fanal in einem Bürgerkrieg, der sich in Zeitlupe entwickelt(e) und sich seit über 20 Jahren schleichend im Land ausbreitet.
Hier, anhand der USA, kann die Autorin auch den Einfluß der Social-Media-Plattformen nachweisen, die es einschlägigen Gruppen erlaubt, sich konspirativ zu verabreden, aber auch über Waffen und deren Beschaffung auszutauschen und, wichtiger noch, neue Mitglieder zu rekrutieren. Walter entwirft ein erschreckendes Szenario, wie sich ein ernstzunehmender Bürgerkrieg bis 2028 in den USA ausbreiten könnte. Umso wichtiger, daß sie auch Hinweise und klare Anweisungen gibt, was zu tun wäre, um ein solches Szenario abzuwenden. Und diesmal bleibt es nicht, wie so oft bei ähnlichen Werken, bei der Beschwörung zivilgesellschaftlicher Tugenden, bei denen sich eine wehrhafte Bürgerschaft den Umstürzlern entgegenstellt. Vielmehr geht Walter einige der goldenen Kälber amerikanischen Selbstverständnisses an und weist auf strukturelle Probleme hin, die die Entwicklungen fördern.
Damit meint sie einerseits die sozialen Netzwerke, die es staatlich besser zu kontrollieren gilt, sie meint die politische Bildung schon an Schulen, mehr aber noch – und das ist dann wirklich interessant – meint sie das amerikanische Wahlsystem und Wahlrecht. Denn dieses System erlaubt allerhand Tricks, um sich Mehrheiten zu sichern, die es de facto nicht gibt. Walter weist auch darauf hin, daß es allein im 21. Jahrhundert bereits zwei Präsidenten gegeben hat (George W. Bush und Trump), die trotz weniger absoluten Stimmen bei den Wahlen das Amt erringen konnten, weil die spezifische Wahlmännerlogik gewisse, eher spärlich besiedelte Staaten bevorzugt, in denen vor allem Weiße leben. Wer sich für amerikanische Politik interessiert, weiß um diese Besonderheiten des amerikanischen Wahlrechts und kann – allerdings rechts (Republikaner) wie links (Demokraten) und durch alle Staaten hindurch – feststellen, wie seit geraumer Zeit (Ende der 80er begannen diese Manöver) durch sogenanntes Gerrymandering und andere Eigenheiten des Wahlrechts Wahlbezirke so zurechtgeschnitten werden, daß bestimmte Bevölkerungsanteile niemals die Möglichkeiten hätten, dort an die Macht zu kommen. In anderen Fällen werden durch Verminderung der Wahlbüros die Wege zu den Wahlurnen derart in die Länge gezogen und die Bedingungen, unter denen gewählt wird, derart verkompliziert, daß Minderheiten bspw. erst gar nicht wählen oder nur unter Inkaufnahme enormer Schwierigkeiten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können.
Es sind diese Hinweise – vor allem eine echte Reform des Wahlrechts inklusive der Installierung einer echten Wahlkommission, die überparteilich dafür sorgt, daß landesweit überall die gleichen, fairen Bedingungen gelten, um eine Wahl abhalten zu können – , die Walters Buch zusätzlich zu seiner glasklaren (und bedrückenden) Analyse so wertvoll macht. Denn hier weiß eine Autorin ganz offensichtlich, wovon sie spricht, kennt die Bedingungen nicht nur in, sondern auch außerhalb der USA zur Genüge, um sich ein Urteil erlauben und daraus Vorschläge ableiten zu können. So wird BÜRGERKRIEGE. WARUM IMMER MEHR STAATEN AM ABGRUND STEHEN zu einem der wesentlichen Bücher zur Stunde, zur momentanen politischen Gesamtlage in den westlichen Demokratien.
Nachtrag: Während der Lektüre dieses Buchs und dem Verfassen der Rezension wurden in wenigen Tagen ein Dutzend Menschen in den USA Opfer von Schusswaffengewalt. Es gab Anschläge auf Bars, Tanzlokale und einen Supermarkt. Alles noch Einzeltäter? Verwirrte? Oder ist dies doch schon jener Moment – zumindest ein Vorbote dessen – von dem Barbara F. Walter spricht, wenn sie ein Bürgerkriegsszenario entwirft, das eben schleichend daher- und ohne klare politische Agenda, Manifeste oder Pamphlete auskommt?