GRANT PARK

Ein Thriller über Rassimus und vierzig Jahre vielleicht vergeblichen Kampfes

Grant Park ist jener Ort in Chicago, wo Barack Obama 2008 mit seiner Familie, seinen Helfern und Zehntausenden seiner Anhänger seinen historischen Wahlsieg feierte. Daß ein Schwarzer das Amt des Präsidenten erringen konnte, zudem gewählt von einer deutlichen Mehrheit des Landes, galt lange Zeit als nahezu unmöglich. Mit einer geschickten Kampagne, die sich erstmals massiv der Social Networks im Internet bediente, und mit dem Slogan YES, WE CAN! Gelang das vermeintlich Unmögliche. Viele dachten, dies wäre eine Zeitenwende, Beginn eines neuen, besseren Zeitalters, welches Rassismus und Ungerechtigkeit hinter sich lassen könne. Leider wurden viele im Laufe der acht Jahre, die Obama das Amt inne hatte, eines Besseren belehrt, fanden sich jene leisen Zweifler bestätigt, die dem ehemaligen Senator aus Illinois nicht genügend außenpolitische Erfahrung attestierten und deshalb vermuteten, daß er Probleme bekommen würde. Allerdings ist das eine andere Geschichte.

Die Geschichte, die Leonard Pitts Jr. in seinem 2015 erschienen Roman GRANT PARK erzählt, ist noch geprägt von jenen Momenten, in denen man wirklich glauben mochte, hier geschähe die erwähnte Zeitenwende. In einem weit ausholenden Bogen und verpackt als Thriller, schlägt Pitts einen Zirkel von jenen Tagen in Memphis 1968, die dem Mord an Martin Luther King Jr. vorausgingen, bis zu jenem, an dem Obama triumphierte. In Memphis hatten die schwarzen Müllmänner gestreikt, um bessere Arbeitsbedingungen für sich zu erkämpfen, doch wurde aus Kings Marsch durch die Stadt ein Riot, ein Aufruhr, entfacht von jungen Männern und vielen Schülern, die eher den militanten Versprechungen des „Black Power!“ zuneigten, weil sie der Meinung waren, gewaltloser Widerstand, wie King ihn wieder und wieder predigte, führe nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Sie waren der Meinung, Weiße seien schlicht nicht erreichbar für die Bedürfnisse schwarzer Menschen, schon deshalb nicht, weil sie sich in deren Wirklichkeit weder eindenken noch -fühlen könnten. King kam eine Woche nach dem verunglückten Marsch erneut nach Memphis, um diesmal eine friedliche Demonstration anzuführen. Der Rest ist Geschichte. Am Abend des 3. April hielt er eine berühmte Rede, die von vielen anschließend dahingehend interpretiert wurde, daß King geahnt oder gespürt haben müsse, was ihn erwartete; am Abend des 4. April wurde er auf dem Balkon des Lorraine Motel von einem Scharfschützen ermordet.

Der junge Malcolm Toussaint, der nach Memphis zurückgekehrt ist, nachdem er wegen Sachbeschädigung und Aufruf zum Aufruhr von seinem College suspendiert wurde, steht ebenfalls der „Black Power!“-Bewegung nahe und nennt King, wie viele andere, verächtlich „The Lawd“, womit dessen Aura des Predigers verhöhnt wurde. Malcolm gehört zu den Burschen, die dafür sorgen, daß der erste Marsch außer Kontrolle gerät. Sein Vater, einer der Müllmänner, die seit Wochen mit Schildern, auf denen I´M A MAN geschrieben steht, durch Memphis ziehen, verachtet ihn dafür, sich den Protest anderer zueigen gemacht und dann zerstört zu haben. Malcolm gerät ins Grübeln und trifft durch Zufall King in dem Hotel, in dem er kurzfristig einen Job angenommen hat. Die Begegnung prägt ihn zutiefst. Und da er King für dessen ernsthafte Auseinandersetzung danken will, wird er Zeuge des Attentats, ja, er bildet sich gar die kommenden 40 Jahre ein, er habe es verhindern können.

Vierzig Jahre später, am Tag der Wahlen 2008, ist dieser Malcolm Toussaint ein angesehener Kolumnist einer großen Chicagoer Zeitung. Doch glaubt er nicht an Obamas Sieg. Mehr noch: Er hat den Glauben daran, daß sich je etwas in Amerika verändern wird zwischen den Rassen, vollends verloren. Als sowohl sein Chefredakteur, als auch die Herausgeberin der Zeitung seine Kolumne ablehnen, die am Tag der Wahl erscheinen soll, trickst er seinen Chef aus und schmuggelt sie ins Blatt, auf die Titelseite. Dies kostet ihn den Job und auch seinen Vorgesetzten. Dieser, Bob Carson, ein Weißer, war ebenfalls 1968 in Memphis dabei und hat aufgrund der dortigen Vorkommnisse seine Liebe fürs Leben verloren, eine Schwarze namens Janeka Lattimore. Sie verlässt ihn, weil sie nicht glaubt, daß die Zeit für eine Beziehung wie die ihre reif sei. Nun will sie sich ausgerechnet an diesem Tag mit Bob treffen, vierzig Jahre, nachdem sie sich das letzte Mal gesehen haben. Doch nichts an diesem Tag klappt so, wie sich die Beteiligten das vorgestellt hatten, denn Malcolm Toussaint wird von zwei rassistischen Wirrköpfen entführt, die abends einen Anschlag, nachgerade ein Massaker, im Grant Park geplant haben und den stadtbekannten Kolumnisten als Art Symbolfigur dafür nutzen wollen. So entfaltet sich ein Drama, in welchem Rassen-, Klassen- und Generationskonflikte aufbrechen.

Pitts webt ein enges Geflecht aus Figuren, Dialogen, Szenen und Situationen, aus zwei verschiedenen Zeitebenen – erinnert sich der gekidnappte Malcolm Toussaint während seines Martyriums doch an jene Tage im Jahr 1968, die für sein Leben so prägend  waren – das den Leser in einen manchmal atemberaubenden Sog aus Spannung, Empörung, Betroffenheit und Unruhe versetzt. Unruhe deshalb, weil es Pitts gelingt, seinen Roman so anzulegen, daß wir nur einer Sache sicher sein können: Der Anschlag, dessen Grundidee verbürgt ist, wird nicht stattfinden. Ob aber die vier Hauptfiguren, die wir im Laufe dieses 4. November 2008 kennen- und trotz all ihrer Schwächen, Widersprüche und auch Gemeinheiten zu schätzen lernen, überleben, ist keineswegs ausgemacht. Und wie es guten Thrillern eben zueigen ist, fiebern wir mit, wollen wir unbedingt, daß die (Lebens)Geschichten, die an und in diesem Tag kulminieren, zu einem guten Ende kommen. Obwohl also nominell ein Thriller, eine Spannungsgeschichte nach allen Regeln des Genres, tritt dieses Element jedoch stark in den Hintergrund zugunsten einer wirklich tiefen und für eine weißen Leser extrem schmerzhaften Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus.

Pitts Roman ist von Wohlwollen getragen, weil Malcolm Toussaint durch das von ihm nicht erwartete Wahlergebnis eines Besseren belehrt wird, wie es scheint. Seine Kolumne, die der Auslöser für die Probleme in der Zeitung ist, ist getragen von seiner Frustration nach 40 Jahren Kampf gegen die Ungleichbehandlung. Sie drückt seine Resignation, ja Trauer, darüber aus, scheinbar nicht gehört zu werden, scheinbar nichts mit Worten bei seinen weißen Mitmenschen auslösen zu können. Daß Obama gewählt wird, ist für ihn eine Überraschung. Allerdings keine Genugtuung. Beide Ereignisse – Kings wegweisende Rede und Obamas Sieg – stehen im Roman in einem direkten Bezug zueinander, werden als Wendepunkte einer historischen Bewegung behandelt. Pitt gelingt eine dialektische Verschränkung, wenn er seinen Hauptprotagonisten gerade diesen Tag wählen lässt, an dem er, eine Wahlniederlage antizipierend, seinen Schlußstrich unter die Beziehung zur weißen Bevölkerung setzt. So großartig Obamas Sieg auch gewesen sein mag, so wichtig er symbolisch für die schwarze (und auch die liberale) Bevölkerung der U.S.A. gewesen sein mag – er barg in sich auch den Keim einer großen Enttäuschung. Mit dem Wissen, wohin diese Präsidentschaft führte, und daß sie auch die eines Hasardeurs wie Trump möglich  machte, liegt Toussaint eben nicht gänzlich falsch mit seiner Annahme, daß Schwarze und Weiße wahrscheinlich nicht mehr konstruktiv zueinander finden können.

Heute, im Jahr 2019 und im nunmehr dritten Jahr der Präsidentschaft Donald Trumps, wird Toussaints ursprüngliche perspektive wieder relevanter, mehr noch – es gibt nicht wenige, die behaupten, daß Obamas Präsidentschaft, auch, weil sie für viele enttäuschend war, zu dem wieder erstarkenden Rassismus in den U.S.A. beigetragen habe. Das Argument ist natürlich nur dann stichhaltig, wenn man den Menschen die Eigenverantwortung abspricht. Ob der einzelne meint, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Ethnie, Religion oder letztlich auch Klasse hassen zu müssen, sollte definitiv in dessen Verantwortung liegen. Und die Art, wie Malcolm Toussaint mit seinen Peinigern umgeht, seine Ansprache an sie, drückt genau das auch aus. Bei all seiner Verbitterung über den Alltagsrassismus, über den strukturellen Rassismus, der denen, die ihn ausüben, meist nicht einmal auffällt, weiß er doch, daß diese beiden Typen – ein drogenabhängiger Junge aus der Unterschicht, des sogenannten White Trash, und ein an Akromegalie[1] Leidender, der wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat – im Grunde arme Schweine sind, die sich mit ihrem Rassismus einen vollkommen irrationalen Bereich geschaffen haben, in dem sie sich überlegen fühlen können. Tatsächlich empfinden sie diese Überlegenheit aber nur solange, wie ihr Opfer gefesselt und ihnen ausgeliefert ist. Pitts erfasst die psychologischen und sozialen Hintergründe des Rassismus ebenso, wie es ihm gelingt, die kulturellen Hintergründe differenziert darzustellen.

Die Psychologie derer, die im Leben wenig bis nichts haben und deshalb meinen, sich auf letzten Bastionen – Hautfarbe, Nation, Religion – zurückziehen zu müssen, um an irgendetwas festhalten zu können, das ihnen vermeintlich Halt gibt, auch wenn sie zu all diesen Merkmalen nicht das geringste beigetragen haben, stellt der Roman hervorragend aus. Zugleich erkennen wir zumindest in dem Junkie Dwayne aber auch jenen tiefen Hass auf andere, der rational nicht mehr zu begründen ist. Da wird ein Rassekrieg gegen Schwarze ausgerufen, die angeblich selber Rassisten sind und die Weißen unterdrücken, eine Art Notwehr sozusagen, da werden angeblich jüdische Medien angegriffen, die diesen Schwarzen helfen, die Vorherrschaft der Weißen zu untergraben usw. Man kennt die Argumentation aus einschlägigen Dokumentationen. So wie man auch jene nur noch im Glauben zu begründenden Argumente kennt, die weiße Rasse sei aus sich selbst heraus anderen überlegen, von Gott und Natur so gewollt. Wie tief dieser Wahn reicht, macht uns ein Buch wie dieses deutlich. Schmerzhaft deutlich.

Doch geht es darüber hinaus auch dorthin, wo es für jene Leser schmerzhaft wird, die sich keines eigenen rassistischen Denkens bewußt sind. Die Genervten, die, die das Thema „satt“ haben und der Meinung sind, eigentlich sei doch mittlerweile alles Bestens. Bob Carson entspricht diesem Typus. Er zeigt sich genervt von Toussaints dauernden Angriffen und dessen Beharren darauf, daß der Alltagsrassismus keineswegs überwunden ist. Ja, Carson geht schließlich so weit, sich selbst als Rassisten zu bezeichnen, eben weil er all das nicht mehr hören könne im 21. Jahrhundert. Doch auch seine Geschichte wird uns nahegebracht, seine Liebe zu einer schwarzen Frau aus dem Süden und die bittere Erkenntnis, daß ein Weißer vielleicht gar nicht verstehen kann, wo der Unterscheid im Empfinden und der Wahrnehmung liegt. Der junge Bob Carson fühlte sich von Janeka verraten, er leitet aus dieser unglücklichen Liebe ab, weshalb er nie eine langfristige Beziehung im Leben eingegangen ist. Der alte Bob Carson fühlt sich – angesichts von dessen Tricksereien vielleicht nicht einmal ganz zu unrecht – von Malcolm Toussaint verraten, der eine astreine Karriere als preisgekrönter Journalist hingelegt hat und immer noch nicht zufrieden scheint. Carson muß ebenfalls durch das Martyrium dieses Tages gehen, der auch für ihn physisch schmerzhafte Erfahrungen bereithält, um besser zu verstehen, von welch unterschiedlichen Standpunkten ein erfolgreicher schwarzer und ein erfolgreicher weißer Mann auf das Thema Rassismus blicken.

Der eigentliche Verdienst des Romans liegt letztlich darin, sowohl die gesellschaftspolitische wie die Ebene des Thrillers miteinander zu verschränken, sodaß ein spannendes Buch entsteht, das sich aber eben auch sehr gut als Beitrag zu einem in Amerika allzeit aktuellen Thema lesen lässt. Mehr noch: Es gelingt dem Autor, die Ebene so miteinander zu verbinden, daß die eine die andere bedingt, sie gleichsam ineinander aufgehen. Und das ist hohe literarische Kunst. Man wartet gespannt auf weitere Werke von Leonard Pitts Jr.

 

[1] Akromegalie ist eine chronische Erkrankung, bei der die Extremitäten, im Extremfall auch der gesamte Körper stetig weiter wächst.

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