WIR SIND DIESER STAUB/VALENTINE
Ein ebenso bedrückender wie großartiger Debut-Roman
Nach circa der Hälfte der Lektüre von Elizabeth Wetmores Debutroman WIR SIND DIESER STAUB (VALENTINE, 2020; Dt. 2021) ist man sich sicher, daß man das keine Zeile länger aushält. In einer ewigen Parade des Elends und des Leids lässt sie Frauen aus einem Kaff namens Odessa, irgendwo in West-Texas gelegen, von ihrem Leben berichten. Und wenig bis nichts daran gibt dem Leser auch nur ein Fünkchen Hoffnung. Daß man dann doch weiterliest, liegt an der Sprachmacht dieser Autorin (kongenial übersetzt von Eva Bonné), der immer wieder Sätze von biblischer Wucht gelingen, Sätze, wie in Stein gemeißelt, die auch einem William Faulkner gut zu Gesicht gestanden hätten. Dabei erinnert das, was Wetmore erzählt – und wie sie es erzählt – noch viel mehr an einen Kent Haruf mit sehr, sehr schlechter Laune – oder einen gemäßigten Joe Lansdale, ein Chronist des Elends im östlichen Texas.
Gloria, ein dreizehnjähriges Mädchen mexikanischer Abstammung, steigt an einem ganz normalen Samstagabend in den Wagen eines fremden jungen Mannes und es endet, wie es so oft endet: Der Kerl ist betrunken und steht unter dem Einfluß allerhand aufputschender Drogen, Gloria spielt sein Spiel eine Weile mit und dann lässt er ein Nein nicht mehr gelten. Am darauffolgenden Sonntagmorgen erblickt Mary Rose von der Veranda ihrer Ranch die Silhouette einer jungen Frau, zumindest eines so gerade noch lebendigen menschlichen Wesens. Mary Rose verteidigt das Mädchen gegen ihren Verfolger, nimmt sich ihrer an und löst damit für sich und ihre Tochter eine Kette widriger Umstände aus. Denn in der Welt, in der Mary Rose und ihre (weißen) Nachbarn leben, ist das, was Gloria widerfahren ist, in den Augen aller anderen meist die Schuld der Frauen. Und bei „diesen Mexikaner-Mädchen“ weiß man ja sowieso. Zudem ist der Täter, Dale Strickland, zwar ein etwas wilder Bursche, aber eigentlich doch ein guter Junge. Was Männer so reden, wenn sie einen Vertreter ihres Geschlechts in Schutz nehmen wollen gegen – wie man ja allseits weiß – meist vollkommen überzogene Vorwürfe. Alles halb so schlimm…
Wetmore lässt nun auf den 300 Seiten ihres Romans reihum eine ganze Reihe von Frauen zu Wort kommen, die durch das, was Gloria passiert ist, direkt oder (häufiger) indirekt betroffen sind. Mary Rose zieht mit ihrer Tochter und dem neugeborenen Sohn nach Odessa, wo ihr Mann sie sicher glaubt. Dort macht sie die Bekanntschaft von Corinne, einer Lehrerin im Ruhestand, die mit dem Leben hadert, seit ihr todkranker Mann seinem Elend vorzeitig ein Ende bereitet hat. In der Nachbarschaft treibt sich auch die zehnjährige Debra Ann herum, die allgemein als etwas verschroben betrachtet wird, wird sie doch vornehmlich von imaginären Freunden begleitet, quetscht schon mal aus lauter Liebe eine Kröte zu Tode und gibt nicht viel auf Hygiene oder Sauberkeit. Doch bekommt das Mädchen weitaus mehr mit, als die Erwachsenen meinen – und hat nicht nur eine wache Phantasie, sondern erweist sich auch als eines der wenigen Menschenwesen in dieser Stadt, das auch menschliche Regungen zeigt und anderen unvoreingenommen begegnet. Ihre Mutter Ginny ist vor einigen Monaten abgehauen, was Debra Ann nicht versteht. So streift sie durch die Stadt und nimmt all die Geschichten und Geschehnisse in sich auf, die um sie her passieren.
Neben diesen zentralen Figuren lässt Wetmore Nachbarinnen, einmal Ginny, ein anderes Mal eine junge Kellnerin auftreten, die sich gegen alle Widrigkeiten nicht nur gegen Dale Strickland durchsetzt, als der – mittlerweile zu einer geringen Bewährungsstrafe und einer noch geringeren Geldstrafe verurteilt – meint, mal wieder seinem Recht als Mann Geltung verschaffen zu müssen, sondern dann auch das Weite sucht und aus dem Kreislauf, den Odessa bedeutet, ausbricht. Nur Mary Rose tritt dabei als subjektive Erzählerin auf, von allen anderen Protagonisten, auch wenn das einzelne Kapitel mit ihrem jeweiligen Namen überschrieben ist, berichtet die Autorin in auktorialer Erzählform.
Dieser auktoriale Erzähler berichtet weniger von einem konkreten Kriminalfall, der Vergewaltigung eines Kindes durch einen miesen Typen, der irgendwo auf den die Landschaft beherrschenden Ölbohrstellen arbeitet, vielmehr erzählt er von einem sehr, sehr harten, vollkommen flachen Land, unter einem unendlich weiten Himmel gelegen, der dem Reisenden Freiheit suggerieren, dem Einheimischen jedoch wie ein Grabdeckel vorkommen mag. Eine Grabplatte, unter der man bei lebendigem Leibe begraben wurde. In dieser Einöde gedeiht kaum etwas – vielleicht noch die Steppenläufer, Tumbleweed, die der Wind über die Straße treibt – außer den Bohrtürmen. In dieser Gegend ist das, was man einst – und beschönigend – den „Wilden Westen“ nannte, weitaus näher als das zumeist zivilisierte Land, welches die USA auch 1976, dem Jahr, in dem die Handlung spielt, schon waren. Hier gelten in gewisser Weise immer noch die Gesetze des Stärkeren. Und die Stärkeren, das sind im Zweifelsfall Männer. Weiße Männer. Ein Mädchen wie Gloria gilt hier als Flittchen, als Schlampe, als Bitch, von der man nichts anderes erwartet, als daß sie einem Weißen zu Diensten ist, auf die ein oder andere Art und Weise.
Wetmore, die selbst in West-Texas aufwuchs, lässt – und das sollte man wohl durchaus als Statement verstehen – ausschließlich Frauen zu Wort kommen, bzw. nimmt dezidiert nur die Perspektive von Frauen ein. Die kommen dabei keineswegs alle gut weg. Doch ihnen allen ist anzumerken, wie sie strampeln und kämpfen, für was auch immer. Ein besseres Leben für sich und die Kinder, ein besseres Leben für die Kinder und nur die Kinder, um Würde, um ein bisschen Unabhängigkeit, ein wenig Liebe, im Zweifelsfall. Und sie alle wurden enttäuscht. Von den Männern, den Umständen, dem Leben. Und alle wurden von diesem unermesslich weiten, diesem so lebensfeindlichen Land geprägt. Und das spürt man hier in nahezu jedem Satz. Man denkt automatisch an einen Film wie John Fords THE SEARCHERS (1956), in dem ein Siedler an einer Stelle über die Härte des Landes klagt, man denkt an Peter Bogdanovichs THE LAST PICTURE SHOW (1971), der zwar im Norden von Texas spielt, aber exakt solch ein Kaff vorführt, wie es Odessa zu sein scheint, nur dreißig Jahre früher. Und immer wieder kommt einem NOMADLAND (2020) in Erinnerung, jener Film, der, oscarprämiert, von jenen Arbeitsnomaden erzählt, die durch die Weiten der Great Plains und des Mittelwestens ziehen, immer der Arbeit hinterher. Viele von denen, die uns auf den Seiten dieses Romans begegnen, sind genau das – Arbeitsnomaden, Saisonarbeiter, die auf den Ölfeldern anheuern, im Winter aber auch an der Küste arbeiten, beim Hummer- und Garnelenfang.
Man denkt aber auch – es wurde bereits erwähnt – an die Holt-Romane von Kent Haruf, denkt an die Ruhe und ruhige Zugewandtheit, mit der er von den Menschen und ihren Schicksalen erzählt. Wetmore, auch wenn hier alles düster dräut und es kaum einen Weg aus dieser Hölle auf Erden zu geben scheint, gelingt ebenfalls dieser humanistische Grundton, der sich hier allerdings vor dem Hintergrund ganz realer Gewalt behaupten muß. Einer Gewalt übrigens, die hier nie als etwas Außergewöhnliches dargestellt wird, sondern schlicht als alltäglich und vollkommen normal für die, die sie ausüben und jene, die sie ertragen müssen. Umso schlimmer, daß eine Frau wie Mary Rose plötzlich Anzeige erstatten und aussagen will. Diese Gewalt wiederum erinnert auch an die Texas-Romane eines Joe Lansdale, dessen Ost-Texas ein ähnlich trostloser Ort ist, sie erinnert aber auch an die Romane von Attica Locke, die dezidiert aus der Perspektive einer schwarzen Frau berichtet und somit das rassistische Moment noch deutlicher in den Vordergrund stellt.
Doch sollte dies ganz klar sein: WIR SIND DIESER STAUB ist kein Kriminalroman. Es ist ein Roman, der ein Verbrechen als Vorwand nimmt, um die strukturelle Gewalt zu beschreiben, die von Männern gegen Frauen ausgeübt wird, der aber auch nachzuweisen versteht, wie die Abstufungen sind, wie sich die eigene Herkunft – Geschlecht, Klasse und Rasse – darauf auswirkt, welcher Art von Gewalt jemand ausgesetzt ist und wie die Gesellschaft darauf reagiert, wie sie sie sanktioniert oder eben nicht. Daß auch Männer dieser Gewalt ausgeliefert sind, vergisst Wetmore dabei nicht. Nicht zuletzt am Beispiel des Veteranen Jesse, auch er ein Arbeitsnomade, den Debra Ann beobachtet und mit dem sie sich schließlich anfreundet, führt sie exemplarisch vor, wie Amerika mit jenen umgeht, die für „die Nation“ gekämpft und in den Augen der meisten verloren haben, und die sozial kaum mehr ein Bein auf den Boden bekommen, wenn sie erst einmal aus den Netzen und Bindungen gefallen sind, die ihnen Halt gegeben haben mögen. Daß der Roman im Jahr 1976 spielt, kommt nicht von ungefähr: Der Nachhall des Vietnam-Krieges, die damit einhergehende Verrohung jener, die dort gekämpft haben, ist allenthalben zu spüren.
Wetmore ist ein wahrlich großer Roman gelungen. Ein Roman, der einen sehr genauen Blick auf Amerika wirft, vielleicht historisch, damit aber auch erklärend, wo das Elend, das wir heute sehen, wenn wir in die USA blicken, einmal begonnen hat. Ein Roman, der die unterschwelligen Bewegungen der Gesellschaft aufgreift, spürbar werden lässt, wie Geschichte sich manifestiert, wie das Gestern – mal glorifiziert, mal verschämt dem Vergessen anheimgegeben, noch die unmittelbare Gegenwart prägt. Ein Roman, dem es gelingt, den Staub, die Hitze, die gnadenlose Sonne, aber auch die giftige Atmosphäre, den Gestank von den Ölbohrungen, des Mülls, der achtlos neben die Highways geschmissen wurde, und von den Männern, die freitags von der Arbeit in den Diners und Bars einfallen, spüren und fühlen zu lassen. Ein Roman, der ein waches Bewußtsein für soziale Verwerfungen aufweist und zugleich den Mythos und die Mystik eines Landes einfängt, das wahrscheinlich nie dafür gedacht war, daß hier Menschen leben – einmal abgesehen von den wenigen Eingeborenenstämmen der Hopi oder Navajo, die hier seit Jahrtausenden der Natur ein karges Leben abtrotzen.
Ein Roman, wie ein sehr, sehr guter Western. Wie einer der besten…