EIN FREMDER OHNE NAMEN/HIGH PLAINS DRIFTER – Am Nullpunkt des Mythos

Clint Eastwood führt den Western, das Genre, in den Meta-Diskurs

An einem heißen Tag kommt ein Fremder (Clint Eastwood) in die kleine Stadt Lago geritten. In dem malerisch an einem See im Westen der USA gelegenen Örtchen betrachtet man den Fremden mit Argwohn und schnell kommt es zu Provokationen. Im Saloon versuchen drei Revolvermänner, die von den Honoratioren der Stadt angeheuert wurden, da man hier bald mit Ärger rechnet, den neu Angekommenen aus der Reserve zu locken, auf der Straße pöbelt eine Dame der „besseren Gesellschaft“ ihn an, als kenne und verachte sie ihn. Der Fremde führt sie in den Stall und vergewaltigt sie. Dann geht er zum Barbier, um sich eine Rasur, einen Haarschnitt und ein Bad zu gönnen. Die Revolvermänner folgen ihm und reizen die Situation derart aus, daß es zu einer Schießerei kommt, die die drei nicht überleben.

Lago ist eine wohlhabende Stadt, die offensichtlich weiter prosperieren möchte. Allerdings ist der Reichtum auf einem Delikt und einem Verbrechen gegründet: Die Einwohner profitieren von einer Goldmine, die sie aber nicht ausschöpfen dürfen, da sie auf staatlichem Gebiet liegt. Einst hatte der Marshal (Buddy Van Horn) sie aufgefordert, die illegale Ausbeutung der Mine zu stoppen, sonst müsse er den Vorgang den Behörden melden. Die Einwohner der Stadt heuerten daraufhin drei Banditen an, die den Sheriff aus dem Weg räumen sollten. Das taten sie dann auch – in einer fürchterlichen Nacht peitschten sie ihn auf der Hauptstraße vor aller Augen zu Tode, ohne daß einer der Bürger Einspruch erhoben hätte. Lediglich Sarah Beiding (Verna Bloom) die Frau des Hotelbetreibers Lewis Beiding (Ted Hartley) versuchte einzuschreiten, wurde aber daran gehindert, zu helfen. Der kleinwüchsige Mordecai (Billy Curtis) versteckte sich unter der Veranda des Saloons und blickte dem sterbenden Sheriff in die Augen, wohl wissend, daß er nichts würde ausrichten können.

Die Banditen übernahmen nach und nach die Stadt, da sie sich in einer brutalen Symbiose mit den Einwohnern sahen und diese zudem als Feiglinge ausgemacht hatten. Doch gelang es schließlich, die drei Männer loszuwerden, indem man sie von einem Marshal verhaften und einsperren ließ. Nun fürchten die Einwohner von Lago, daß die drei, die bald aus dem Gefängnis freikommen sollen, zurückkehren und ihren Tribut fordern.

Beiding und der Bürgermeister Hobart (Stefan Gierasch), unterstützt von einigen der bedeutenderen Bürgern der Stadt, wenden sich nun also an den Fremden, der eben jene Revolvermänner getötet hat, die die Stadt nun wiederum gegen die Banditen schützen sollten. Ob er den Job übernehmen könne? Doch der Fremde will nicht. Erst als die Angebote, die die Bürger ihm machen – Geld, Gold, „alles, was er will“ – immer großzügiger werden, akzeptiert er. Und beginnt gleich damit, umzusetzen, was er will: Mordecai wird zum Sheriff und Bürgermeister ernannt, desweiteren verteilt er großzügig die Waren aus dem Krämerladen und versorgt sich selbst mit Zigarren. Dann beginnt er damit, die Stadt auf die Ankunft der Banditen vorzubereiten.

Zunächst lässt er die Herren antreten und eine Art Miliz bilden, die er mit Schießübungen trimmen will. Sie werden in der Stadt verteilt und sollen auf eine Kutsche schießen, auf der als Figuren gekennzeichnete Strohsäcke angebunden sind. Es kommt zu einer wilden Knallerei, bei der ein Trainingsziel kaum festzustellen ist. Dann ordert der Fremde eimerwiese rote Farbe. Er verlangt, daß die gesamte Stadt – sowohl die fertigen, wie die noch im Rohbau befindlichen Gebäude – rot angestrichen werden. Dann befiehlt er, daß die Scheune des Krämers abgerissen werden solle, um das Holz für einen langen Picknicktisch zu verwenden, den er bei zwei mexikanischen Schreinern, die ein Außenseiterdasein in Lago führen, in Auftrag gibt. Am Eingang der Stadt soll ein Plakat aufgehängt werden, das mit den Worten „Welcome Home, Boys!“ die Banditen begrüßt.

Während all dieser Maßnahmen setzt sich der Fremde nur mit Mordecai ins Vernehmen, alle anderen Bürger müssen Anfragen, um ihn sprechen zu dürfen. Zunehmend fühlen sich die Bürger der Stadt gedemütigt und begehren gegen die Behandlung auf, die ihnen der Fremde zuteilwerden lässt. Mordecai seinerseits wird von den Männern der Stadt immer wieder angefeindet und verhöhnt, sind sie doch nicht Willens und in der Lage, ihn auf dem Posten, die ihm der Fremde verschafft hat, zu akzeptieren. So muß auch der Kleinwüchsige weiterhin die Demütigungen ertragen, die ihm allenthalben auferlegt werden. Allerdings ist er auch eine lächerliche Gestalt, wenn er mit seinem viel zu großen Colt, der beständig hinter ihm auf der Erde schleift, durch die Straßen läuft und sich – ob ernsthaft oder ironisch – aufspielt.

Sarah Beiding, die wie Mordecai zu ahnen beginnt, daß der Fremde in Verbindung zu dem einst totgepeitschten Sheriff steht, bietet sich ihm an, in der Hoffnung, daß er die Stadt verschont. Sarah ahnt nämlich auch, daß es um Rache geht und die Stadt dabei ebenso ihr Fett wegbekommt, wie es die Mörder des Sheriffs treffen wird, sollten sie sich ernsthaft blicken lassen.

Der Tag der Entlassung der Banditen rückt näher und Mordecai findet bei einem seiner Streifzüge durch die Umgebung heraus, daß der Fremde den Namen Lago auf dem Ortsschild durchgestrichen und durch das Wort HELL (Hölle) ersetzt hat.

Die Stadtbewohner beschließen, den Fremden zu töten. Erstmals versuchen sie, selbst Mut aufzubringen und die Dinge in die Hand zu nehmen, bezahlen aber genau dies mit ihrem Leben, da der Fremde sie durchschaut, die Falle ahnt und alle, die sich gegen ihn stellen, tötet. Zudem sprengt er das Hotel in die Luft.

Schließlich nähern sich die Banditen der Stadt. Der Fremde lässt die verbliebenen Männer der Miliz ihre Plätze einnehmen. Er hat sie aufgefordert, selbst zu kämpfen, nur so könnten sie ihre Stadt retten. Als die Banditen wirklich eintreffen, hält sich der Fremde aus dem Kampf, der ausbricht, nahezu komplett heraus. Den ganzen Tag kommt es zu Scharmützeln zwischen den Banditen und den Bürgern der Stadt, am Abend brennen fast alle Häuser. Einige Stadtbewohner wurden getötet, andere von den Banditen im Saloon zusammengepfercht. Offenkundig wollen die Banditen Rache nehmen, die Frauen vergewaltigen und die Männer töten. Doch dann wird jeder der Drei nach und nach von dem Fremden getötet: Einer wird langsam mit einer Peitsche stranguliert, einer erschossen, der letzte ausgepeitscht, bis er stirbt. Nun erst beginnen auch die Bürger der Stadt zu begreifen, daß der Fremde hier Rache an den Mördern des Sheriffs, der in einem namenlosen Grab beerdigt wurde, aber auch an der Stadt, die ihn so feige hat sterben lassen, übt.

Am nächsten Tag reitet der Fremde langsam aus der Stadt, die es im Grunde nicht mehr gibt. Nur rauchende und noch glimmende Ruinen sind von dem aufstrebenden Ort Lago geblieben. Auf seinem Weg kommt der Fremde am Friedhof vorbei, wo Mordecai nun das Grab des Sheriffs mit dessen Namen – Jim Duncan – beschriftet. Der Fremde hält an und betrachtet Mordecais Werk. Der wendet sich dem fremden zu und fragt ihn nach seinem Namen, den er immer noch nicht wisse. „Du kennst ihn“ antwortet der Fremde und reitet davon. Die Kamera schwenkt auf das Grabkreuz des ermordeten Sheriffs und zeigt dessen Namen. Der Fremde verschwindet in der flirrenden Hitze der Wüste wie ein Trugbild.

Über der Hochebene flirrt die Hitze, die Luft wabert geradezu, als sich langsam die Silhouette eines Reiters aus ihr herausschält. Es ist ein „Fremder ohne Namen“, der das Städtchen Lago heimsuchen wird. Dieses, malerisch an einem See gelegen, ist eine Stadt, die ihren Reichtum aus einer nahegelegenen Goldmine bezieht. Viele Häuser sind noch im Bau, Holz liegt gestapelt zwischen den bereits fertig gestellten Gebäuden, Wohlstand wird hier einst herrschen, die Stadt prosperieren – so die Hoffnung der Bürger. Aber mit dem namenlosen Reiter kehrt auch das Verdrängte, die Schuld, die Erinnerung an das Opfer zurück, das dem schnöden Mammon dargebracht wurde. Denn diese Stadt birgt ein fürchterliches Geheimnis. Und dieses Geheimnis wird der Fremde in den Tagen, die die Handlung von HIGH PLAINS DRIFTER (1973; zu Deutsch EIN FREMDER OHNE NAMEN) umfasst, gnadenlos ans Licht der gleißenden Sonne zerren und den Bürgern von Lago wie einen abgezehrten Kadaver vor die Füße werfen. Wenn der Fremde die Stadt wieder verlässt, wird sie eine andere sein. Sie wird die Hölle sein.

Clint Eastwood lieferte mit HIGH PLAINS DRIFTER seine zweite Regiearbeit ab, zugleich seinen ersten eigenen Beitrag zu jenem Genre, welches ihm zu Ruhm und Ehren verholfen hatte. Es wird gern und oft darauf hingewiesen, daß der Film eine Art Quintessenz des Italowestern sei, in dem Eastwood seine ersten großen Erfolge als Leinwanddarsteller verbuchen konnte. Und zweifellos verdankt der Film sowohl in seinen Figuren, als auch in der Handlung manches den italienischen Vorbildern vor allem der 60er Jahre. Und doch ist er etwas anderes, etwas eigenes, was seinen ursächlichen Wert so bedeutend macht. Denn Eastwood mag als Schauspieler ein Kind der italienischen Spielart des Genres gewesen sein, als Autor und Regisseur ist er ganz sicher durch und durch Amerikaner.

 

Der Western als Diskurs mit sich selbst

HIGH PLAINS DRIFTER ist im Kern ein Diskurs-Western, ein Western, der etwas über das Genre und seine Entwicklung erzählt. Es ist ein mythologischer Meta-Western, wie es in der Spätphase des Genres – bevor es irgendwann in den Jahren nach der Jahrtausendwende wieder auferstand – nicht unüblich war. Robert Altman drehte mit MCCABE & MRS. MILLER (1971) und BUFFALO BILL AND THE INDIANS, OR SITTING BULL`S HISTORY LESSON (1976) gleich zwei Beiträge, die man gut als Diskurs-Western betrachten kann; Sam Peckinpah, der den Spätwestern amerikanischer Provenienz prägte wie kaum ein anderer, trug mit JUNIOR BONNER (1971) und PAT GARRETT AND BILLY THE KID (1973) ebenfalls dazu bei, daß und wie das Genre sich reflektierte, mit sich selbst korrespondierte, sich mit sich selbst verständigte und in einen Dialog trat. Auch Rechenschaft ablegte vor sich selbst. Der Begriff „Diskurs“ bezeichnet dabei aber nicht nur die Reflektion des Genres auf die zeitgenössische Gesellschaft – was Peckinpah mit THE WILD BUNCH (1969) maßgeblich getan hatte – sondern auch und vor allem die Frage, wie das Genre sich zu sich selbst verhält, wie es seine Wirkung, seine Wirkungsmacht, seine Mittel und seine mediale Umsetzung reflektiert und bearbeitet. Anders als Altman, der offen zugab, das Genre nicht zu mögen und dem es in mancherlei Hinsicht eher um Destruktion denn um Dekonstruktion ging, fühlte sich Peckinpah im Genre zuhause und hatte seine Regeln, Konventionen, seine Motive und seine Geschichte sehr genau begriffen. Gleiches kann man getrost über Clint Eastwood sagen.

 

Der Western wird von den Gespenstern seiner eigenen Geschichte heimgesucht

Der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger bescheinigt Eastwoods erstem Regie-Western in seinem lesenswerten Beitrag zur deutschen Neuveröffentlichung des Films, ein agonaler Western zu sein[1]. Er verweist explizit auf Mark Fisher, der seinerseits Jacques Derridas Begriff der „Hauntology[2] aufgreift, um eine Theorie darüber zu entwickeln, wie die Moderne von ihren eigenen Geistern heimgesucht wird[3]. Stiglegger wendet diesen theoretischen Ansatz auf Eastwoods Film an und erklärt ihn zu einem Beispiel dafür, wie das Westerngenre – vom klassischen Western der 30er, 40er und 50er Jahr mit seinen verschiedenen Aggregatszuständen, über den Italowestern und den amerikanischen Spätwestern – eine Endphase erreicht, in der er schließlich metaphorisch in einer apokalyptischen Endzeit angelangt ist, wo nur noch Tod und Verderben, Gewalt und Untergang warten (können). Dies, so Stiglegger, korrespondiere mit der allgemeinen Verfassung der USA in den 70er Jahren, eine Dekade, die geprägt war von den Schrecknissen des Vietnamkriegs, den moralischen Verwerfungen, die damit einhergingen, und dem allgemeinen Mißtrauen gegenüber einer Administration, die log und betrog, falsche Versprechungen machte und sich zugleich etlicher Mittel bediente, die geeignet waren, den Glauben an die demokratische Verfasstheit des Landes in Frage zu stellen. Die 70er brachten eine Menge Filme (und natürlich auch Literatur) hervor, denen man gut attestieren kann, genau darauf zu reagieren und diesen Zustand ebenso zu beschreiben, als auch zu reflektieren – oder aber, ihm schlicht Ausdruck zu verleihen. Filme wie DIRTY HARRY (1971) oder DEATH WISH (1974), eine Menge jener Werke, die unter dem Label ‚New Hollywood‘ erschienen – VANISHING POINT (1971), COMING HOME (1978), TAXI DRIVER (1976) oder THE DEER HUNTER (1978) wären hier beispielhaft zu nennen – aber auch der sogenannte „Paranoia“-Thriller, die meist als Politthriller daher kamen – THE PARALLAX VIEW (1974), THE CONVERSATION (1974) – stehen dafür.

HIGH PLAINS DRIFTER steht allerdings eher nicht für diesen Typus Film, außer, daß er einer allgemeinen Endzeitstimmung Ausdruck verleiht, die gerade in den 70ern ausgeprägt gewesen sein mag. Aber welcher Film generell steht nicht direkt oder indirekt in Bezug zu der Zeit, in der er entstand, die ihn direkt oder indirekt prägte? In Eastwoods Oeuvre könnte man eher seinem auf HIGH PLAINS DRIFTER folgenden Western THE OUTLAW JOSEY WALES (1975) diesen direkten Zeitbezug attestieren, denn hier wird wirklich von einer zerrütteten Gesellschaft (nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg) und davon erzählt, wie die an Leib und Seele Verwundeten und Versehrten die Einigkeit wieder herzustellen versuchen – exemplarisch anhand einer Ersatz-Familie dargestellt, die der Titelheld im Laufe der Filmhandlung um sich schart.

HIGH PLAINS DRIFTER scheint weitaus mehr über das Genre des Western zu erzählen, als über seine Zeit. Er tritt eben in einen Diskurs ein, er verhält sich zu John Fords THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (1962), zu Leones Dollar-Filmen und zu Peckinpahs Todesballetten, sowie einer Reihe von Spät-Western, die ebenfalls in den 70er Jahren entstanden sind. Es braucht an dieser Stelle einen kurzen Exkurs, um diese Einschätzung näher zu erläutern. Denn entgegen mancher Annahme, war der US-Western nie im historischen Fach zuhause. Western sind keine Historienfilme. Eher sind sie Mythenmaschinen, mit denen sich das WASP-Amerika (White Anglo-Saxon Protestants) – gemeinhin jene Bevölkerungsschicht, die bisher der Meinung gewesen ist, die Geschichte und Geschicke des Landes zu prägen, zu schreiben und zu lenken – sich seiner selbst versicherte.

 

Exkurs: Ein Genre im Wandel der Zeit

Der klassische Western erzählt von der Landnahme, davon, wie ein wildes und oft als feindlich wahrgenommenes Land nach und nach besiedelt, dann befriedet und zivilisiert wurde. Er erzählt die Geschichte, wie sie hätte sein sollen, keineswegs, wie sie gewesen ist. Das Territorium, auf dem der klassische Western sich bewegt, ist mythisches Territorium, auch wenn er sich auf historische Orte und Begebenheiten bezieht. Doch auch der klassische Western veränderte sich. Nach den Serials, jenen Reihenwestern der 20er und frühen 30er Jahre, die ursprünglich das Genre prägten und meist juvenil-überschwänglich davon berichteten, wie edle Helden finstere Schurken zur Strecke brachten, wurde der Western nach und nach reifer, manche sagen: erwachsen. Er reflektierte seine Helden, reflektierte die demokratische Gesellschaft, reflektierte die Gewalt und wie sie eine Gesellschaft, vor allem aber die Männer darin prägte (keine Frage, der Western war und ist ein Männer-Genre) und reflektierte schließlich den Bruch zwischen Mythos und Geschichte. Dafür steht der oben genannte Film von John Ford exemplarisch. „When the legend becomes fact, print the legend!“ ist der zentrale Satz in THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE, wohlgemerkt gesprochen von einem Journalisten, keinem Roman- oder Drehbuchautor. Es ist aber über den Film hinaus einer der prägnantesten Sätze des Genres, des Kinos selbst geworden, verdichtet sich in ihm doch das Wesen des Films nach der ungeschriebenen Lehre Hollywoods. Die Legende wird Wahrheit, der Mythos besiegt den historischen Fakt.

Der Spätwestern, wie ihn vor allem Sam Peckinpah inszenierte, erzählt – formal durchaus auch vom Italowestern beeinflusst – schließlich von der historischen Veränderung und was sie mit denen macht, die den Westen einst als freies Land, als Raum zur freien Entfaltung wahrgenommen hatten. Wobei „freie Entfaltung“ auch bedeutet, daß man dort keinen rechtlichen Beschränkungen unterworfen war, Gewalt somit meist nicht sanktioniert wurde. Sie war Lebensalltag für die Männer, die der Spätwestern beschreibt. Sie stellten ihre Waffen in den Dienst derer, die das Land befrieden wollten. Sie dienten als Scouts, als Soldaten und „Indianerkämpfer“, sie verdingten sich als Gesetzeshüter, als Cowboys, manche waren von Beginn ihres Erwachsenenlebens an Banditen. Doch die Zeit ging über diese Männer hinweg, die Gerichte zogen auch in die kleinen Grenzstädte ein, die Kavallerie übernahm ordnungspolitische Aufgaben, Stacheldraht sicherte das Land der Großgrundbesitzer und das der Farmer, die Macht der Marshals und Sheriffs wurde ausgeweitet, deren Positionen gestärkt. Den Pistolero brauchte bald niemand mehr. Ihre Freiheit wurde zusehends beschnitten.

Viele Spätwestern waren in ihrer Handlung spät im 19. oder gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts angelegt, spielten oftmals im Mexiko der Revolution (ab ca. 1910). In Zeiten also, da der „Wilde Westen“ in seiner klassischen Form längst nicht mehr existierte. Die Männer aus Peckinpahs THE WILD BUNCH ziehen gen Süden, um dort noch einmal die Freiheit zu genießen, die der Westen nicht mehr bietet, jene Outlaws um Billy the Kid in PAT GARRETT AND BILLY THE KID leben in New Mexico, in unmittelbarer Nähe zur Grenze, die damit zur ewigen Bezugsgröße wird. Die Männer des Spätwesterns stehen selbst auf einer Grenze: Der Grenze zwischen Mythos und Historie. Sie wissen um ihre eigene Historisierung und versuchen, damit zu leben. Sie sind alt geworden, was im Grunde nicht zu ihren Lebensentwürfen passt. Wenn Billy auf dem Weg nach Mexiko kehrt macht und sich Garrett, der einst sein väterlicher Freund war, sich aber ans „Kapital“ verkauft hat, weil er selbst in die Jahre gekommen ist und das Alter in Ruhe verbringen will, entgegenstellt, dann kann man darin einen inhärenten Todeswunsch des jüngeren Mannes erkennen. Da PAT GARRETT AND BILLY THE KID in mancherlei Hinsicht mit der Zeit korrespondiert, in der er gedreht wurde – Bob Dylan spielte eine wesentliche Rolle, lieferte die Musik und sieht, wie auch die Männer in Billys Bande, nicht von ungefähr wie einer jener Hippies aus, die die späten 60er in Amerika kulturell stark geprägt, wenn nicht dominiert hatten – kann man in Billys Rückkehr und seinem Beharren darauf, nicht weglaufen zu wollen, ein Bekenntnis zu Pete Townsends Credo „I hope I die before I get old“ sehen. Auf einer Meta-Ebene ist sich der von Kris Kristofferson gespielte Outlaw seines eigenen Status als Legende bewußt, eben weil er im Jahr 1973 inszeniert wird und deshalb um die Geschichte, die seit dem Tod des realen Billy the Kid im Jahr 1881 erzählt wird, weiß. Für diese Männer ist – weder in der Geschichte, noch in der Gegenwart ihres Publikums – Freiheit in dem Sinne, den sie meinen, nicht mehr möglich. Der Tod, das gilt auch für Pike Bishop und seine Leute in THE WILD BUNCH, ist die letztgültige Freiheit, ihn anzunehmen, ja, ihn zu suchen. Es ist der letzte freie Willensakt, der ihnen zur Verfügung steht.

 

Eastwoods souveräner Umgang mit dem Erbe des Weste(r)ns

Eastwood, obwohl er in Europa und unter Leones Regie in drei der wesentlichen und definitiven Italowestern gespielt hatte, bevor er in den USA, speziell Hollywood, reüssieren konnte, kann als der möglicherweise einzig gültige Regisseur jüngeren Datums betrachtet werden, der sich mit dem Genre ernsthaft auseinandersetzte und es noch einmal innerhalb seiner eigenen Regeln fortzuführen verstand. Natürlich verdankt sich sein „Fremder ohne Namen“ in Auftritt und Aussehen dem Vorbild aus Leones Western, die Stadt, die er auf-, besser: heimsucht, wirkt so gesichts- und geschichtslos, wie nur eine im Italowestern[4] und sicherlich kann man HIGH PLAINS DRIFTER auch als eine Art Quintessenz des Italowestern bezeichnen, wenn man das Augenmerk vor allem auf diese Bezüge legt.

Doch übersieht man bei einer solchen Betrachtungsweise, wie sehr er eben auch in Korrespondenz zu seinen amerikanischen Verwandten steht, die sich aus ganz anderen Quellen und Motiven speisen als der Italowestern. So wäre es vielleicht richtiger zu sagen, daß Eastwood die wesentlichen Merkmale und alles, was es im Italo-Western zu gebrauchen gab, in die Heimat mitbringt, um es dem klassischen Western einzuverleiben und ihn damit noch einmal zu befruchten – und sei es nur, um ihn an ein letztgültiges Ende zu führen, gar zu transzendieren und über sich selbst und seinen Stellenwert räsonieren zu lassen. Ob er, wie Marcus Stiglegger meint, damit im Endstadium des Genres angelangt ist, sei allerdings dahingestellt, denn Eastwoods eigene spätere Western zeugen eigentlich vom Gegenteil. Ted Post hatte die Aufgabe, Merkmale des Italowestern in den klassischen Western einzuführen, bereits begonnen und mit Eastwood HANG ´EM HIGH (1968) gedreht. Es war ein Hollywood-Western, der im Grunde als Italo konzipiert war, bei dem ursprünglich sogar Sergio Leone selbst die Regie übernehmen sollte. Doch mit HIGH PLAINS DRIFTER vollzieht erst Eastwood diese Bewegung wirklich und schafft eine gültige Synthese.

Im Kern erzählt er eine Rachegeschichte, wie sie für den klassischen amerikanischen Western geradezu phänotypisch ist. Die Bevölkerung des Städtchens Lago hat sich an ihrem früheren Sheriff vergangen, als sie ihm nicht gegen drei Desperados zur Hilfe kam, die ihn zu Tode peitschten. Im Laufe des Films kommt gar heraus, daß sie selbst die drei Banditen angeheuert hatten, um den Gesetzeshüter zu ermorden, da dieser ihren korrupten Geschäften auf die Schliche gekommen war: Sie schürfen die Mine, die den Wohlstand der Stadt deckt, obwohl diese auf Bundesgebiet liegt. Der Sheriff drohte, dies den entsprechenden Behörden zu melden. Nun warten die Bürger der Stadt ähnlich verängstigt auf die Wiederkehr der Banditen, wie es jene in Fred Zinnemanns HIGH NOON (1952) einst taten, auch sie zu feige, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und zu kämpfen. Doch sind die Einwohner von Lago sehr viel verkommener, als es jene in Hadleyville.

In ihrer Verkommenheit und Durchtriebenheit könnte man es bei diesen Bürgern wahrlich mit jenen aus einem Italowestern zu tun haben: Anders, als im klassischen amerikanischen Western, wo sich einzelne Honoratioren als durchaus korrupt entpuppen können, ist es hier die gesamte Stadt (bis auf sehr wenige Ausnahmen), die sich als korrupt und verdorben entpuppt. Zudem ist es der schnöde Mammon, die Gier, wodurch die Katastrophe ausgelöst wird. Und wie im Italowestern taucht da ein namenloser Fremder auf, erledigt seine Dinge, und reitet wieder davon. Allerdings – und da beginnt dann Eastwoods höchst eigene Motivik zu greifen – ist dieser Fremde seinerseits an keinerlei weltlichen Dingen, gar an monetären oder materiellen Gewinnen, interessiert. Ganz im Gegenteil. Wo Eastwoods Charakter in Leones PER UN PUGNO DIU DOLLARI (1964), dem ersten der berühmten Dollar-Filme, an überhaupt nichts anderem als materiellem Reichtum interessiert ist, erst recht nicht an moralischen Fragen, und die Banditen-Klans schlicht gegeneinander ausspielt, um den eigenen Vorteil zu sichern, will der Fremde in HIGH PLAINS DRIFTER Rache – in einem biblischen, letztlich also moralischen Sinne.

Der Fremde kommt über die Stadt Lago wie ein alttestamentarischer Rache- und Todesengel. Eastwood dreht die Schraube allerdings noch eine Umdrehung weiter, wenn er am Ende des Films aus der Stadt reitet, wo er den kleinwüchsigen Mordecai, den er zum Sheriff und Bürgermeister des Ortes erkoren und befördert hat, am Grab des toten Sheriffs trifft. Nachdem der Zwerg den Fremden fragt, wie er eigentlich hieße, antwortet dieser: „You know the name“. Während der Fremde nun fortreitet, schwenkt die Kamera so, daß wir das Grab mit dem frischen, weil eben erst hinzugefügten Namen des toten Sheriffs sehen können. Lago wurde wohl von einem Widergänger heimgesucht. Der Fremde ohne Namen ist ein Geist, ein Wanderer zwischen den Winden, wie es Ethan Edwards in John Fords THE SEARCHERS (1956) über Indianer sagt, deren Leichen man die Augen ausgestochen hat, damit sie den Weg zu Manitu und die ewigen Jagdgründe nicht finden können; so wioe Edwards selbst im Laufe des Films immer mehr zu einem geisthaften Wesen wird, angetrieben von Zorn und Hass, einem Wesen, das sich am Ende der Wüste zuwendet und in sie hinein entschwindet – wie der Fremde ohne Namen am Ende von HIGH PLAINS DRIFTER. Indem Mordecai dem toten Gesetzeshüter den Namen – und damit die Würde – zurückgegeben hat, kann dessen Geist vielleicht zur Ruhe kommen, kommt sein Wandern zu einem Ende.

 

Am Nullpunkt des Mythos

Hauntology“, um noch einmal auf den Begriff zurück zu kommen, der zu Beginn dieses Textes zitiert wurde, ist die Lehre von den kulturellen Geistern/Gespenstern, die die (westliche) Moderne über ihre Zeit hinweg heimsuchen. Von Jacques Derrida spezifisch auf den Kommunismus angewandt, der ja schon in seinem Gründungsmanifest als „Gespenst“ bezeichnet wurde, kann man ihn natürlich sehr gut erweitern auf all jene Gespenster der Kultur und Geschichte, die nicht zu Ruhe kommen und wieder und wieder die Gegenwart – und damit auch die Zukunft – heimsuchen und all unsere Pläne und Vorhaben beeinflussen, vielleicht durchkreuzen, ob wir wollen oder nicht. Möglicherweise machen diese kulturellen Geister und Widergänger Zukunftsvisionen an sich sogar unmöglich, da mit ihnen immer etwas Unerledigtes, etwas nicht zu Erledigendes einhergeht, sein Un-Wesen treibt, das Nicht-Fassliche, Transzendente, Immaterielle Präsenz beansprucht und behauptet. Dies Unerledigte aber schiebt die Zukunft immer auf, da es die Vergangenheit in der Gegenwart ihren Tribut fordern lässt. Und ist die Zukunft nicht so oder so etwas immer Aufgeschobenes, etwas von uns nie Erreichbares, da wir immer nur im Präsenz leben können? Und ist dann der Geist, das Gespenst, nicht immer ebenso ein Bote aus der Zukunft, der von etwas kündet, das immer auf uns zukommt – radikal in der Unerbittlichkeit des Todes, von dessen Unausweichlichkeit es ebenfalls immer kündet, das Gespenst – und das wir doch nie erreichen, weil es in dem Moment, da es uns erreicht zu unserer Gegenwart wird, wie es ein Bote der Vergangenheit ist, der uns an das erinnert, was wir verdrängt haben, das Unerledigte?

Es ist reizvoll, dieses Konzept auf einen Film wie HIGH PLAINS DRIFTER anzuwenden, ob es passt, ist eine andere Frage. Eher bietet sich eine Lesart an, die auf den mythischen Gehalt, der im Western immer vorhanden war, Bezug nimmt und diesen an eine Art Endpunkt, vielleicht auch einfach auf und zu sich selbst (zurück)führt. Wobei dieser Endpunkt, anders, als Stiglegger es versteht, möglicherweise zugleich der Ausgangspunkt vieler neuer Wege und Strecken ist, die das Genre, die Geschichte, der Mythos, die Figuren, die ihn bewohnen nehmen können.

Nimmt man die frühen seriellen Western einmal aus der Rechnung, wird der Westen nach der Lesart Hollywoods immer schon von Gestalten bevölkert, die zumindest mit einem Bein im Mythos stehen. Das andere mag zumindest noch Bodenhaftung mit der Geschichte haben – doch nimmt man bspw. die historisch verbürgte Gestalt des Wyatt Earp, der einst im berühmtesten Shoot-Out der Geschichte des Westens die Clanton-Brüder am O.K.-Coral in Tombstone, Arizona, zur Strecke brachte, kann man geradezu exemplarisch nachvollziehen, wie aus einer historischen Figur nach und nach eine Legende, vielleicht sogar ein Mythos wurde. Interessanterweise war der wirkliche Wyatt Earp nicht unwesentlich daran beteiligt, da er als alter Kerl nach Hollywood ging und dort, als Berater bei Filmen (eben jenen Serials der Frühzeit Hollywoods), gern gefragt und ungefragt seine Abenteuer zum Besten gab. John Ford berichtete davon gelegentlich in Interviews. Daß diese Geschichten von Mal zu Mal wilder, gefährlicher, größer und immer heldenhafter wurden, erklärt sich fast von selbst. Fords eigene Behandlung des Themas – MY DARLING CLEMENTINE (1946) – trug nicht unwesentlich dazu bei, den Stoff zu romantisieren und zu mythisieren. Print the legend.

Zuvor hatte er in STAGECOACH (1939) mit dem steckbrieflich gesuchten Ringo, der eine Postkutsche begleitet und dabei nicht nur Leib und Leben, sondern auch seine Freiheit (sic!) riskiert, schon einen Charakter entworfen, der mythischen Charakter hatte und prototypisch für den Western werden sollte. George Stevens führte mit SHANE (1953) eine Figur in den Western ein, die fast Christus-artige Züge aufwies und ihrerseits eigentlich nur noch mythisch zu erfassen ist. Auch Shane ist ein Fremder, der wie aus dem Nichts auftaucht, den Armen und Geknechteten zur Seite steht und dann, nachdem seine Arbeit erledigt ist, gegen die flehenden Bitten der Zurückbleibenden wieder in die Weiten der Prärie entschwindet. Shane muß übrigens als ein direkter Vorläufer des HIGH PLAINS DRIFTER betrachtet werden, denn auch dieser Figur haftet bereits etwas Geisterhaftes an. Und nicht von ungefähr wurde Eastwoods Mitte der 80er Jahre entstandener Spät-Spät-Western PALE RIDER (1985) wenn nicht als Neuverfilmung, so zumindest als Neuinterpretation des Klassikers verstanden. Überlebensgroß sind diese (Männer)Figuren – nur noch mit biblischen Gestalten oder jenen der antiken Mythologie zu vergleichen. Im Falle von Shane ist der Mann auch ohne Geschichte und persönliche Bezüge, aber immerhin trägt er einen Namen.

Nachdem nun Regisseure wie Sam Peckinpah genau diesen Typus Mann in einen historischen Kontext gebettet und daran hatte verzweifeln lassen, war es im Grunde nur folgerichtig, daß der Endpunkt dieser Entwicklung in einem Geist kulminiert. Die Schlachten sind geschlagen, alle Geschichten erzählt, die Toten begraben, der Mord, das Verbrechen, entweder verdrängt oder gesühnt. Nun bleibt eigentlich nur noch die Heimsuchung. Wir werden an unsere Taten – und Untaten – erinnert, indem die Wiedergänger derer auftauchen, die in Ungnade gefallen oder entgegen aller Moral zum Tode befördert und deren Schicksale eben nicht gesühnt wurden. Sie drängen aus den Tiefen des Unterbewußtseins herauf, sie fordern ihr Recht – mindestens das Recht auf Erinnerung, also auf einen Namen: You know the name. Der Fremde ohne Namen in Eastwoods Film – der in der deutschen Fassung kurzerhand zum Bruder des Sheriffs umgemodelt wurde, weil man wahrscheinlich der Meinung war, dem Publikum einen „echten“ Western präsentieren zu müssen – entspringt also eigentlich einem anderen Genre, einem anderen Kontext als die bisherigen mythischen Figuren des Western. Eher im Geisterfilm, in der Gespenster- und damit der Horrorliteratur verortet und behaust, bricht mit diesem Mann also das Unheimliche in die doch eher diesseitige Welt des Western ein und bringt sie mit Maßnahmen, die ihrerseits kaum Western-like sind, gehörig durcheinander.

 

Rache ist süß – und wird am besten kalt serviert

Viel war in der Rezeption die Rede davon, daß HIGH PLAINS DRIFTER in Sachen Gewalt und Brutalität seinen italienischen Verwandten in nichts nachstehe. Das kann man so sehen, bedenkt man allerdings die Gewaltorgien und Todesballette, die Sam Peckinpah bereits inszeniert hatte, muß man Eastwood zumindest attestieren, die Gewalt eher dosiert, fast reduziert, und vor allem dramaturgisch immer begründet einzusetzen – bis auf einen Fall. Kaum in Lago angekommen, stolziert der Fremde die Hauptstraße (um nicht zu sagen: Die einzige Straße des Ortes) entlang, provoziert mit seiner bloßen Anwesenheit drei Männer im Saloon, wird seinerseits auf der Straße von einer Dame provoziert, schleppt sie in einen Stall und vergewaltigt sie. Gemäß eines scheinbar ungeschriebenen Gesetzes im internationalen Film der 70er Jahre, in dem sexuelle Gewalt immer wieder als etwas eher Humoriges, zumindest zu Vernachlässigendes dargestellt wurde, gefällt dies der Dame aber. Diese Episode gleich zu Beginn des Films nimmt nicht für Eastwoods Figur ein, nimmt sogar gegen den Film ein und verdeutlicht doch zugleich, daß dieser Mann nichts Gutes mit sich bringt und daß er es bitterernst meint – wobei und womit auch immer. Keine fünf Minuten Filmzeit später liegen dann die drei Männer aus dem Saloon tot auf der Straße, nachdem sie den Fremden beim Barbier gestört haben – in der eindeutigen Absicht, diesen, wenn nicht gleich zu erschießen, so doch nachhaltig einzuschüchtern. Die Tötung dieser drei Spießgesellen hat zur Folge, daß die Städter sich nun an den Fremden wenden, damit der die Aufgabe übernimmt, die eigentlich den Toten zugedacht war: Die Stadt vor der Rückkehr jener Banditen zu schützen, die einst – im Auftrag der Stadt – den Sheriff umbrachten. Die Einwohner von Lago liefern sich dem Fremden auf Gedeih und Verderb aus. Es entsteht eine Dialektik des Schreckens, ein Kreislauf der Gewalt, die praktisch aus sich selbst entsteht.

Wenn man der Annahme folgt, dieser Fremde sei ein Geist, ein Gespenst, muß man davon ausgehen, daß der das Zusammentreffen und das Duell mit den Dreien letztlich genau so gewollt hat, denn erst so kommt er in die Position, die ihm die Möglichkeit bietet, seine Rache auszuführen. Da – rekurriert man auf Derrida, s.o. – das Gespenst eben immer auch ein Bote aus der Zukunft ist, ein Überbringer jener Präsenz, die nie eintritt, da sie eben zukünftig und nicht jetzt ist, muß man davon ausgehen, daß dieser Bote die Zukunft kennt. Zumindest eine mögliche Zukunft. So kann man, im Kontext des Films, annehmen, daß der Fremde genau weiß, mit wem er es zu tun hat, als er die drei Männer anfangs im Saloon provoziert, bzw. daß er weiß, daß die drei sich provoziert fühlen werden. Er muß die drei loswerden, um ihre Stelle einnehmen zu können. Was er natürlich auch tut – obwohl er sich zunächst bitten lässt – um dann sein Spiel zu spielen und in Gang zu setzen, was schließlich aus der prosperierenden Stadt eine Hölle werden lässt.

 

Humor als Instrument der Rache – Ironie, Häme und Sarkasmus

Bei all dem Reden über die Gewalt des Films – und sie ist definitiv vorhanden und momentweise auch explizit – vergisst man gerne, daß HIGH PLAINS DRIFTER eben auch sehr komisch ist. Es ist ein grimmiger, schwarzer Humor, keine Frage, aber es ist Humor, den Eastwood der Geschichte angedeihen lässt. Der Fremde macht den bereits erwähnten Mordecai zum Sheriff und zum Bürgermeister. Mordecai ist neben der Gattin des Hotelbesitzers der erste in der Stadt, der zu ahnen scheint, mit wem man es da zu tun hat. In Rückblenden – mal aus Sicht des Fremden, mal aus Sicht Mordecais – wird uns berichtet, was in jener fürchterlichen Nacht geschah. Der Sheriff wurde von den drei Männern gestellt und regelrecht zu Tode gepeitscht, während die Bürger der Stadt zuschauten. Der Sheriff flehte um Hilfe und er verfluchte die Stadt und ihre Bürger, die er zu Feiglingen erklärte. Mordecai war direkter Zeuge der Tat, versteckte er sich doch unter einer Veranda, sein bevorzugtes Versteck, wenn jemand hinter ihm her ist. Sarah Beiding, eben jene Gattin des lokalen Hoteliers, versuchte als einzige, das Spektakel des sterbenden Sheriffs auf der Hauptstraße zu beenden. Sie ist nun der einzige Mensch in der Stadt, vor dem der Fremde so etwas wie Respekt zeigt. Ansonsten gibt er die gesamte Stadt der Lächerlichkeit preis. Er lässt die Männer peinliche Schießübungen machen, wobei ein Wagen mit Puppen durch die Straßen gezogen wird, auf den die Leute wahllos feuern sollen; da ihm „alles, was er will“ geboten wurde, um den Job des Retters anzunehmen, verteilt er die Güter der Stadt willkürlich, versorgt vor allem sich selbst großzügig mit Zigarillos; schließlich ordert er jede Menge rote Farbe und verlangt, daß die gesamte Stadt, jedes Haus, ob fertig oder nicht, rot angestrichen werde. Als der Tag näher rückt, an dem die Banditen eintreffen, lässt er ein Transparent über dem Ortseingang aufhängen, auf dem es heißt: „Welcome Home, Boys!“ und um das Ereignis gebührend zu feiern, soll ein Picknicktisch auf der Straße aufgebaut und mit allen möglichen Fressalien bestückt werden. Um den zu schreinern, lässt der Fremde die mexikanischen Tischler die Scheune eines der Bürger abreißen, um sich so das benötigte Holz zu sichern. Es wird klar, daß dieser Fremde die Stadt mindestens so bestraft, wie er die drei Banditen bestrafen wird, wenn sie denn eintreffen.

All diese Maßnahmen haben einen zynischen Grundzug, werden von Eastwood aber so in Szene gesetzt, daß der Zuschauer kaum umhinkann, darüber zu lachen. Das betrifft auch die Ernennung des Kleinwüchsigen zum quasi-Oberhaupt der Stadt. Darin steckt nicht nur die Verhöhnung der Bürger, natürlich geht dieser „Scherz“ auch auf Kosten Mordecais, der nie im Leben in der Lage wäre, als Sheriff gegen wen auch immer anzutreten. Die Waffe ist viel zu groß für seine Hände, der Pistolengurt hängt ihm bis an die Fußknöchel und als ihn einer der angesehene Bürger der Stadt niederschlägt, kann er sich selbstredend nicht zur Wehr setzen. Zwar ist er betrunken, doch wäre es ihm auch nüchtern nicht möglich, sich des Angriffs zu erwehren. Mordecai hat den Mord am Sheriff beobachtet und der hat Mordecai in seinem Versteck gesehen. Hätte er helfen können? Wohl kaum. Dennoch ist er schuldig geworden, schuldig in seiner Passivität. Denn auch Sarah Beiding hatte keine Chance, zu verhindern, was in jener Nacht geschah, doch sie hat es zumindest versucht. Nun hat der Kleinwüchsige in der Stadt – und im Film – die Rolle des Narren, er darf sich herausnehmen zu sagen, was sich sonst niemand zu sagen traut. Dennoch bekommt er seine Portion Häme ab. Allerdings ist er vielleicht der einzige hier, der seinen einstigen Fehler reflektiert und bereut – und schließlich gut machen kann, weil er dem Fremden im Finale hilft. Wobei dieser, wenn die These, er sei ein Geist, stimmt, wohl kaum der Hilfe gebraucht hätte. Aktive Reue zeigt Mordecai, als er den Namen des ermordeten Sheriffs auf das anonyme Kreuz auf dessen Grab schreibt.

Auch in dem Lachen, in diesem Humor, der dem Film zu eigen ist, schlägt der oben benannte Diskurs an. Will man nicht sentimental, gar nostalgisch werden, bleibt einem neben der Härte – der Handlung, der Figuren, der dargestellten Gewalt – kaum ein anderes Mittel, als das des Humors. Und auch Rache, am besten kalt serviert, wenn sie süß sein soll, wie das Sprichwort uns mitteilt, funktioniert oftmals dann am besten, wenn sie mit der Geste der Verachtung daherkommt. Ironie, Häme, Sarkasmus sind Mittel der Distanzierung, aber eben auch Mittel, den, den sie treffen, bloß zu stellen. Die Täter, die drei Banditen aber, die den Sheriff einst so sadistisch ins Jenseits beförderten (oder in ein Zwischenreich, wo er „driftet“) wird der Fremde töten. Er wird sie grausam töten, so wie Anthony Mann seine von James Stewart gespielten (Anti)Helden ihre Gegner töten ließ. Hier greift der alte Reflex, hier kommt der Western zu sich selbst, hier befolgt Eastwood klar die Regeln und Konventionen des Genres: Blut muß durch Blut, Gewalt durch Gewalt gesühnt werden. So alttestamentarisch, wie der Fremde ohne Namen anmutet, so alttestamentarisch geht er gegen seine einstigen Häscher vor: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Städter aber werden mit der erlittenen Demütigung, die sie auch voreinander in all ihren Schwächen, ihrer Eitelkeit, ihrer Gier bloßstellt, leben müssen. Ihre Strafe ist vielleicht die grausamere: Leben, ohne dem eigenen Spiegelbild ins Auge blicken zu können.

Eastwood erlaubt sich, um auf den selbstreferentiellen Diskurs zurückzukommen, auch einen kleinen Insiderscherz: Er spielt den Sheriff in den Rückblenden, in denen dieser zu Tode geprügelt wird, nicht selbst, was nahe läge, wenn er doch der Geist, der Wiedergänger, des Toten ist. Stattdessen lässt er Buddy Van Horn den gemarterten Sheriff spielen, der im Original zudem ein Marshal ist. Van Horn wiederum war Eastwoods Double in der Fernsehserie RAWHIDE (1959-1966), die dem Schauspieler erste Meriten einbrachte. Dies ist ein zugleich sichtbares – wir erkennen durchaus, daß da ein anderer Schauspieler den qualvollen Tod des Gesetzeshüters erleidet als Eastwood – und unsichtbares – wir erkennen nicht, wer ihn spielt, bis auf einige Aficionados, die aber wirklich jeden Stuntman in der Geschichte Hollywoods kennen – Zeichen für den Diskurs, den Eastwood in HIGH PLAINS DRIFTER anschlägt. Oder fortführt, wenn man so will. Wobei es bei diesem Zeichen nur um das Zeichen, die Signatur selbst geht. Eastwood verweist mit diesem Scherz auf seine eigene Historie und Historisierung, setzt aber auch ein selbstbewußstes Zeichen des eigenen Anspruchs auf seinen Platz in der Geschichte und Fortdauer des Genres.

 

Der Kreis schließt sich, der Zirkel wird vollendet

Nach den Pionieren, den Siedlern, den Outlaws, den Sheriffs und Marshals, nach den Indianern und der Kavallerie bleibt scheinbar nichts mehr, was den Western noch über sich selbst hinaus bedeutsam sein lassen könnte. Aus dem zeitlosen Raum des reinen Mythos, wo er zunächst verortet war, ist er einen weiten Weg gegangen, der Western. Er wurde erwachsen (also psychologisch). Seine Helden mussten sich ihren Schwächen stellen und einsehen, daß sie nicht unverwundbar sind, sie mussten sich selbst erkennen, ihre Neurosen, ihre Verworfenheit, mussten erkennen, was die Gewalt anrichtet, die sie wie selbstverständlich ausüben. Sie mussten ihren Platz räumen, um dem Recht, was im Western immer auch „Zivilisation“ bedeutet, seinen Platz zu geben. Sie mussten erkennen, daß ihre Zeit abgelaufen ist. Spätestens an diesem Punkt mussten sie den Schritt aus dem Mythos in die Historisierung wagen – und fliehen. Wie aber kommt man noch einmal zurück? Wie schließt sich der Kreis zum Mythos, wenn der Held irgendwie – zumindest als Erinnerung – Bestand haben will?

Der Italowestern hatte eine Antwort gegeben, indem er aus den Helden des klassischen amerikanischen Western Anti-Helden machte. Männer, denen es ausschließlich um sich ging, die auf die Frage: „Auf welcher Seite stehst Du?“ meist antworteten: „Auf meiner“ und damit den Menschen, das Allzumenschliche, in den einstigen Helden gnadenlos ans Licht der gleißenden Sonne zerrten. Gelegentlich waren diese Anti-Helden in der Lage zu lernen, über sich hinauszuwachsen und sich doch in den Dienst einer Sache zu stellen, was vor allem auf die Figuren in den sogenannten „Revolutionswestern“ – einem Subgenre des Italowestern –  zutraf.

Einmal mehr war es Sergio Leone, dem es schließlich gelang, einen anderen Weg aufzuzeigen: Der Western musste seine eigene Meta-Struktur offenlegen, er musste sich selbst als Ort des Mythos, als Traum des Westens von sich selbst begreifen, sich dabei aber auch selbst entlarven und dadurch zugleich behaupten. C`ERA UNA VOLTA IL WEST (1968) trägt den Verweis schon im Titel – Es war einmal… Leones Film, der im Deutschen den nicht wirklich passenden, aber epochemachenden Titel SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD erhielt, ist der Meta-Western par excellence. Er referiert über das Verhältnis von Mythos und Historie, zugleich ist er sich seines Status als Fiktion, als Film, überaus bewußt. Er verfolgt den gesamten Kreislauf des Western und weil Leone letztlich ein Romantiker ist, genehmigt er seinen positiveren Figuren einen letzten Ritt in die Wüste, den symbolischen Sonnenuntergang, damit sie entweder in (wenn man so will) Würde sterben können, oder aber zumindest die Möglichkeit haben, ihrem mythischen Wesen nach zu handeln und einfach zu verschwinden.

Danach – und genau das hat Eastwood begriffen – kann man nur wieder in den Mythos gelangen, wenn man die Geister beschwört. Daß der Fremde ohne Namen, der Lago heimsucht und – alttestamentarisch – Rache nimmt, ein Geist ist, ist vollkommen folgerichtig. Es ist die letztmögliche mythische Gestalt, die den Westen auf- und heimsuchen kann. Der Geist des Westerners, des Helden, des einsamen Rächers. Ein Mann wie Shane, ein Mann wie Will Kane aus HIGH NOON, ein Mann wie Ringo aus STAGECOACH und Ethan Edwards in THE SEARCHERS, wie Stewarts Männer bei Anthony Mann und wie die ungezählten Kerle aus unzähligen Werken der besseren wie schlechteren Kategorie dieses Genres heißen mögen. Man mag Marcus Stiglegger darin zustimmen, daß Eastwood das Genre mit HIGH PLAINS DRIFTER an ein Ende führt, daß hier „Todesspiele“ und „Endzeitspektakel mit Hut und Revolver“ geboten werden, doch weist dieser Film eben über dieses Ende schon wieder hinaus. Er führt den Italowestern mit dem klassischen amerikanischen Western zusammen, eine Engführung, wenn man so will. Aber er insistiert auch darauf, daß es womöglich doch noch etwas zu erzählen gibt. Und so führte Eastwood – für lange Zeit als einziger ernstzunehmender amerikanischer Regisseur – den Diskurs um und mit dem Genre des Western fort. In Filmen wie THE OUTLAW JOSEY WALES (1975), BRONCO BILLY (1980), dem bereits erwähnten PALE RIDER (1985) und schließlich dem Abschluß seines Western-Oeuvres UNFORGIVEN (1992), der bei allen Schwächen, die er aufweist, als einer der maßgeblichen Meta-Filme des Genres betrachtet werden muß. Alle diese Werke – einige mehr, andere weniger – fügen dem ununterbrochenen Diskurs Argumente, Reflektionen und neue Aspekte und Perspektiven hinzu. Allerdings ist es Clint Eastwood nur mit UNFORGIVEN gelungen, noch einmal etwas so Grundlegendes zum Genre beizutragen und über den Western auszusagen, wie in HIGH PLAINS DRIFTER. Der ist, war und wird ein geisterhafter Film bleiben, dessen Eröffnungs- und Schlußbild viel aussagt über die oft nicht eindeutig bestimmbare, verschwimmende Grenze zwischen Mythos und Geschichte, zwischen Wahrheit und Legende. Eine Wüstenlandschaft in der flirrenden Hitze…und ein Reiter der einfach – verschwindet.

 

[1] Prof. Dr. Stiglegger, Marcus: A TOWN CALLED HELL. CLINT EASTWOODS EIN FREMDER OHNE NAMEN ALS APOKALYPTISCHER GEISTERWESTERN: Im Begleitheft zu der Neuveröffentlichung im Meidabook von Capelight Pictures, 2018.

[2] Derrida, Jacques: MARX` GESPENSTER. DER STAAT DER SCHULD, DIE TRAUERARBEIT UND DIE NEUE INTERNATIONALE. Frankfurt a.M. 2004; S.25f. In der deutschen Übersetzung wird der Begriff „Hantologie“ verwendet.

[3] Fisher, Mark: GESPENSTER MEINES LEBENS. DEPRESSION, HAUNTOLOGY UND DIE VERLORENE ZUKUNFT. Berlin, 2015; S. 9-45.

[4] Man denke nur an die fürchterlichen Städte und ihre fürchterlichen Einwohner in Filmen wie Giulio Questis SE SEI VIVO SPARA (Dt. TÖTE, DJANGO; 1967) oder Tonino Valeriis I GIORNI DELL`IRA (Dt. DER TOD RITT DIENSTAGS; 1967). Wie in Eastwoods Film sind die Bewohner dieser Städtchen mindestens zutiefst korrupt, einige grenzen in ihrem Tun allerdings schon an den Wahnsinn.

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